Schon mehrmals haben sich Autoren für die Friedrich-Ebert-Stiftung auch intensiv mit dem Thema Flugverkehr, seiner wirtschaftlichen und beschäftigungspolitischen Rolle beschäftigt. Zu jedem Flughafen gibt es mittlerweile dicke Gutachten, die vor allem für die politischen Entscheider gedacht sind und beweisen sollen, welche grandiosen wirtschaftlichen Effekte ein Flughafen bringt. Nun hat Friedrich Thießen, Professor an der TU Chemnitz, einige der wichtigsten Gutachten methodisch zerpflückt.

Seine Arbeitsschwerpunkte sind Regionalökonomie und Finanzwirtschaft. Für die regionale Wirtschaft sollen Flughäfen ja eine wichtige Rolle spielen. Möglichst als Motor. Es sind nicht nur deutsche Flughafengesellschaften, die sich derlei Gutachten bestellen, um ihre Arbeit wertvoller erscheinen zu lassen als sie ist. Genauso agieren auch Flughäfen in den USA und anderswo. Man hat es mit einer weltweit agierenden Lobby zu tun, die natürlich auch immer unter Rechtfertigungsdruck steht – von den ökologischen Folgen der Fliegerei bis zu den ökonomischen.

Deswegen versprechen die Befürworter von Flughäfen und Flughafenausbau auch gern mehr Wirtschaftswachstum für die Region, wo sie bauen, mehr Arbeitsplätze und am Ende auch mehr Kaufkraft. Bei Beschäftigtenzahlen haut man besonders gern auf die Pauke, zählt nicht nur die eigenen Angestellten und die Beschäftigten angedockter Unternehmen, sondern berechnet auch noch ein Mehrfaches von Arbeitsplätzen, die durch die Existenz des Flughafens in anderen Branchen ausgelöst werden. Das machen andere Unternehmen auch – die Messe zum Beispiel. Wenn man alle induzierten Beschäftigungseffekte zusammenzählen würde, würden in Leipzig so ungefähr 1 Million Menschen arbeiten.

Ist jetzt mal zugespitzt. Aber es sind diese induzierten Beschäftigungseffekte, mit denen Politiker zumeist gelockt werden, die Steuermillionen für neue Ausbauprojekte herzugeben. Wenn hinterher gar nichts passiert – na und? Dann steht das Ding eben.

Aber die Gesamtschau, die Thießen unternimmt, macht recht deutlich, dass sich rings um das Phänomen Flughafen mittlerweile ein ganzer Märchenwald an Gutachten etabliert hat. Und zumindest die Regierungen, die das Rechnen noch nicht verlernt haben, fragen auch mal genauer nach – und staunen dann in der Regel.

Der erste Mythos ist der Beschäftigungseffekt.

“Insgesamt ist eine ‘Zweckentfremdung’ von Beschäftigungszahlen festzustellen”, schreibt Thießen. “Es ist zu beobachten, dass mithilfe hoher Beschäftigungszahlen politischer Druck auf Entscheidungsträger ausgeübt wird, Entscheidungen im Sinne des gerade gewünschten Strukturwandels zu treffen oder wie jüngst die Luftverkehrsteuer abzuschaffen. Formulierungen wie ‘jobs that are threatened if government policies are badly designed’ (Oxford Economics 2011: 22) üben ganz unverhohlen solchen Druck aus.”

Flughafenlobby? – Natürlich. Jede Branche kämpft mit harten Bandagen darum, dass sich für sie die Rahmenbedingungen verbessern. Nur, was politische Entscheider gern verdrängen: Damit geht es auch um die Verschlechterung der Rahmenbedingungen für andere Branchen. Flughäfen existieren – auch wenn sie gern so tun – nicht im luftleeren Raum, sondern stehen in permanenter Konkurrenz zu anderen Verkehrsinfrastrukturen. Und sie sind eingebunden in Wirtschaftskreisläufe, die es mit hoher Wahrscheinlichkeit so auch geben würde, wenn es keinen Flughafen in der Nähe gäbe. Sie sähen vielleicht etwas anders aus und der Transport wäre anders organisiert. Aber dazu kommen wir noch.Friedrich Thießen zu einem der wichtigsten Rechenfehler, der den Beschäftigtenrechnungen zugrunde liegt: “Die Wirtschaft ist wechselseitig miteinander verflochten. Das Ziel von Input-Output-Rechnungen im Bereich der Luftverkehrswirtschaft ist es zumeist jedoch nicht, den Verflechtungen nachzuspüren, sondern aggregierte Beschäftigungseffekte der Branche auszurechnen. Dabei wird aber nicht betrachtet, dass die Luftverkehrsbranche ebenso von den Aufträgen der vorgelagerten Branche abhängig ist und deshalb die Beschäftigungswirkungen indirekt die Folge der Aktivität der vorgelagerten Branchen sind. Die Luftverkehrswirtschaft kann nicht autonom Beschäftigung schaffen. Ihre Beschäftigung, d. h. die direkten, indirekten und induzierten Beschäftigten im Sinne der IO-Rechnung (Input-Output-Rechnung, d. Red.) sind zu großen Teilen eine Funktion der vorgelagerten Branchen. Wer mehr Beschäftigung fördern will, kann genauso gut dort ansetzen.”

Ein kurzer, kluger Satz.

Welche Beschäftigungseffekte hätte man in Leipzig auslösen können, wenn das Geld für die Startbahn Süd in Wirtschaftsförderung geflossen wäre? Immerhin 350 Millionen Euro. Klingt utopisch. Aber macht auch deutlich, was Landesregierungen sich Flughäfen gern kosten lassen. Muss ja nicht nur einer sein. Dürfen auch ruhig zwei sein. Sachsen hat ja – statt die Eisenbahnstrecke Leipzig-Dresden einfach mal zur Schnellverbindung umzubauen, lieber noch einen zweiten internationalen Flughafen in Dresden gebaut, gern mit der Begründung, dass er seine Fluggäste eher aus dem ostsächsischen Raum zieht.

Aber wer solche Strukturen baut, verändert ganz bewusst Verkehrsströme.

Friedrich Thießen: “Es zeigt sich, dass ein Flughafen die relative Attraktivität verschiedener Regionen eines größeren Gesamtgebietes (Bundesland, Gesamtstaat) in unterschiedlichem Maße verändert. Für dieses Phänomen wurde der Begriff der Spillover-Effekte verwendet, der für die Übertragung von wirtschaftlichen Impulsen einer Region in eine andere verwendet wird.”

Heißt im Klartext: Regionen, die sich solche großen Infrastrukturen leisten können, ziehen aus schwächeren Regionen Passagiere und Verkehrsleistung ab. Thießen in Bezug auf eine Studie, die sich mit dem Spillover-Effekt beschäftigt: “Ein konkretes Beispiel solcher Spillover-Effekte findet sich bei Basler und Bulwien (Basler/Bulwien: 2007). Die Autoren zeigen, dass ein attraktiverer Flughafen München von den erwarteten 1,9 Millionen zusätzlichen Originärpassagieren 1,6 Millionen Passagiere von anderen Flughäfen und der Bahn abwirbt. Es sind Menschen, die ohne den Ausbau des Flughafens München von anderen Flughäfen abgeflogen oder mit der Bahn gereist wären (Basler/Bulwien: 2007: 85). Man erkennt, wie eine Region auf Kosten von anderen Regionen wächst.”

Spillover-Effekte überlagern sich auch. Wenn eine Bundesregierung den Busfernreisemarkt liberalisiert, heißt das, sie will ganz speziell hier einen Spillover-Effekt – die Abwanderung von Reisegästen von Bahn und Flugzeug auf den Bus. Dass der Steuerzahler gleich mehrfach als Subventionsgeldgeber dabei zur Kasse gebeten wird, erzählt man da lieber nicht, feiert sich lieber als großer Liberator.

Und lässt sich gleichzeitig von einer hochsubventionierten Lobby am Nasenring durch die Manege führen. Denn wenn eine Branche soviel Geld in die Hand bekommt, nachdem sie per Gutachten bewiesen hat, wie wichtig sie ist, kann sie Druck ausüben. Jetzt geht es nicht mehr nur um Investitionen, sondern auch um Abschaffung von Regeln, die den Flugbetrieb stören.Friedrich Thießen: “Die Vertreter der entwickelten Infrastruktur werden zu einem Machtfaktor in der Region, der die weiteren Entscheidungen über die Fortentwicklung einer Region beeinflusst und zwar ohne die Vor- und Nachteile für die Region sachgerecht abzuwägen, vielmehr aus rein selbstbezogenen Gründen. Die aufgebaute Infrastruktur verselbstständigt sich quasi und kämpft um das eigene Wachstum, ohne auf den Raum Rücksicht zu nehmen, in dem sie sich befindet.”

Nichts anderes erleben die Bewohner der Region Halle/Leipzig seit 2007. Da wurde mit diversen Gutachten auch schon im Planungsvorfeld für die Start- und Landebahn Süd getrickst, was das Zeug hält. Der Bürger sitzt eh am kürzeren Hebel. Um diese scheinbar hochwissenschaftlichen Gutachten auch vor Gericht aushebeln zu können, müsste er das Geld aufbringen, ähnlich teure Gutachten in Auftrag geben zu können. Die staatlich gefütterte Lobby setzt also das Steuergeld, das sie in die Hände bekommt, auch gegen die Bürger ein. Und dann fangen ganz seltsame Überlegungen an, Abwägungen, die aus einem Flughafen auf einmal ein soziales Phänomen machen. Den Lärm bekommen dann die, die es sich nicht leisten können, in ruhigere Gegenden umzuziehen. Und oben über ihren Köpfen fliegen die, die es sich leisten können.

Friedrich Thießen: “In Deutschland geben wohlhabendere Haushalte (mit einem Nettoeinkommen zwischen 5.000 Euro und 7.500 Euro p. M.) für Auslandspauschalreisen 17-mal mehr aus als arme Haushalte (mit einem Nettoeinkommen zwischen 500 und 900 Euro). Sie leben aber nicht 17-mal häufiger in den fluglärmbelasteten Gebieten, sondern eher umgekehrt.”

In der Regel kommt dann in Kommentaren der fläzige Hinweis: Sollen sie doch umziehen. Fast direkt aus den Entscheider-Etagen, die ihren Flughafen betreiben wie ein UFO.

Da wird dann irgendwie in halbpolitischen Gremien abgewogen, welche sozialen Kosten man riskieren will. Thießen: “Die sozialen Kosten eines Freizuges einer belasteten Region werden als geringer angenommen als die sozialen Kosten, die durch den Verzicht auf die positiven katalytischen Effekte des Luftverkehrs entstehen. Dies hat selbstverständlich Einfluss auf die Beschäftigung. Allerdings sind diese Effekte noch nicht berechnet worden.”

Wenn also Lobbyvertreter und Politiker so argumentieren, gibt es dafür keine berechnete Grundlage. Es ist reines Mutmaßen. Katalytische Effekte sind die Effekte an Beschäftigung und Wirtschaftsleistung, die ein Flughafen für eine Region bringt – gern übertrieben, siehe oben, denn ähnliche Effekte könnte es auch durch ein besseres Eisenbahnnetz und gut ausgebaute Autobahnen geben. Es kann sogar sein, dass die Alternativen viel größere Effekte haben als der Flughafen. Aber wie gesagt: Auch das hat noch keiner ausgerechnet, man investiert lieber nach dem Motto: Viel bringt viel.

Es liegt sogar die Vermutung nahe, dass ein wachsender Flughafenbetrieb einer Region gar nichts bringt. Der Flughafen Frankfurt ist dafür ein gutes Beispiel. Ein erstes Gutachten für die hessische Landesregierung belegte bis 1998 eine erstaunliche Korrelation zwischen Flughafenausbau und Wirtschaftswachstum. Und dann? Das Gutachten wurde 2004 erstellt. Und selbst die damalige CDU-Regierung fand das seltsam, warum so alte Zahlen verwendet wurden.

“Die Zeitreihen der verschiedenen Regionen zu deren wirtschaftlichen Entwicklungen fingen relativ willkürlich zwischen 1980 und 1993 an und endeten 1998, obwohl das Gutachten erst 2004 erstellt worden war”, stellt Thießen fest. “Dies erweckte Misstrauen. Das zuständige hessische Ministerium verlangte eine Aktualisierung. Das Ergebnis der Überarbeitung war niederschmetternd, denn die positive Beziehung zwischen Flughafengröße und regionalem Wachstum fand sich in den aktualisierten Daten nicht mehr. Es gab keine Beziehung mehr zwischen Luftverkehrsentwicklung und regionaler Wirtschaftsentwicklung, d. h. Regionen mit großen Flughäfen wuchsen nicht mehr schneller als Regionen mit kleinen Flughäfen oder Regionen ohne Flughäfen.”

Flughäfen an sich bringen für die Wirtschaftsentwicklung gar nichts, sondern fressen eher Geld, wie es Thüringen und Sachsen-Anhalt mit ihren Flughafenexperimenten ja erlebt haben. Flughäfen sind als Infrastrukturprojekt so teuer, dass sie erst rentabel werden, wenn ihr Einzugsbereich groß genug ist. Ob er das für Leipzig / Halle je wird, hat noch keiner wieder untersucht. Die versprochenen 6 Millionen Passagiere sind bis heute eine Schimäre.

Dass Flughäfen aber Verkehrsströme verändern, das ist mittlerweile recht gut belegt. Es kommt nur – wie bei Autobahnen und ICE-Verbindungen – den ländlichen Räumen überhaupt nicht zugute. Das glatte Gegenteil ist der Fall: Das Zentrum der Metropolregion wird gestärkt.

Friedrich Thießen: “Wenn sich die Verkehrsinfrastruktur zwischen einer eher peripheren und einer urbanen Agglomeration verbessert, kommt es zu einer Wanderung der höherwertigen, produktiveren wirtschaftlichen Aktivität in die Ballungsräume. Die Ballungsräume waren in den vergangenen Jahrzehnten die Gewinner verbesserter Infrastruktur. Die peripheren Räume waren die Verlierer. Ob der Luftverkehr dafür verantwortlich ist, bleibt offen.”

Kann auch nur offen bleiben, denn parallel wurden ja in ganz Deutschland auch die leistungsstarken Trassen für Eisenbahn und Kraftverkehr ausgebaut. Auch das ein Grund für das Wachstum der zentralen Großstädte.

Direkt zur Untersuchung von Friedrich Thießen: http://library.fes.de/pdf-files/wiso/10826.pdf

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