Wenn Ökonomen versuchen, die wirtschaftliche Entwicklung in der nahen Zukunft zu beschreiben, wird das meistens ein bisschen Kaffeesatzleserei. Man hat einige Grunddaten, die man vorsichtig in die Zukunft fortschreiben kann. Aber man weiß nicht, welcher Faktor im nächsten Jahr aus der Reihe fällt und die Prognosen heftig konterkariert. Auch die Wirtschaftsforscher am IWH in Halle wissen nicht wirklich, was da so kommt.

Auch sie wurden in der Vergangenheit mehrfach überrascht – etwa von der eigentlich erwarteten Delle im Wirtschaftsaufschwung 2016. Statt abzuflauen, legte die Konjunktur noch einen Zahn zu.

Erst im Nachhinein fassten sich die Forscher an den Kopf: „Hätten wir doch ahnen können! Der Konsum!“

Und nicht der Export. Der Export erlebte seine Delle 2016. Das hätte ins Kontor hauen können, wenn nicht in Deutschland seit 2011 ein völlig anderer Binnentrend im Gange wäre, den die Wirtschaftsforscher in Deutschland meist nicht allzu ernst nehmen. In den USA gestehen sie es zu: Wenn die Leute dort ein bisschen mehr Geld in der Tasche haben, befeuert das sofort die Binnennachfrage – die Wirtschaftsleistung macht einen Hüpfer. Das sieht dann wie tolles Wirtschaftswachstum aus – auch wenn es eher davon erzählt, wie knapp die meisten amerikanischen Konsumenten bei Kasse sind.

Schon ein bisschen mehr Beschäftigung sorgt dafür, dass gerade bei den Menschen, die prekär leben, sofort mehr Geld flüssig ist, das auch sofort in notwendige Anschaffungen gesteckt wird. Ein Land ohne besondere soziale Auffangnetze animiert nicht gerade zum Sparen. Man gibt das Geld aus, wenn man es hat.

In Deutschland ist es seit 2005 ein wenig genauso. Immer wieder tauchen seitdem leichte Konjunkturspitzen auf, die direkt auf gesteigerte Binnennachfrage zurückzuführen sind.

Ernst nehmen es auch die Forscher vom Institut für Wirtschaftsforschung in Halle (IWH) nicht. Sie sind darauf konditioniert, den Weltmarkt und damit den Export als Hauptgrund für die deutsche Konjunkturkurve zu betrachten. Sie bewerten den ausgebliebenen Einbruch am Weltmarkt (den man eigentlich in den USA und China erwartet hatte) als Hauptgrund dafür, dass das deutsche Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2017 wohl um unerwartete 2,2 % zunehmen wird, kalenderbereinigt sogar 2,5 %.

„Der Aufschwung ist breit aufgestellt“, meint Oliver Holtemöller, Leiter der Abteilung Makroökonomik und Vizepräsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH). „Schon länger treibt die deutliche Zunahme der Beschäftigung die privaten Einkommen, den Konsum und den Wohnungsbau, der außerdem weiterhin von den sehr niedrigen Zinsen Rückenwind erhält.“

Dem folgt in der Pressemeldung des IWH dann ein langer Absatz über die Weltkonjunktur, die erheblich an Schwung gewonnen habe. Und die niedrigen Zinsen für Unternehmenskredite. Aber tatsächlich kommt der Industrieexport immer nur oben drauf.

Denn dass sich die Wirtschaftsforscher immer wieder die Augen reiben darüber, wie „überraschend kräftig“ der „nun schon vier Jahre dauernde Aufschwung in Deutschland“ wieder mal war, hat eben nicht zuerst mit dem Export zu tun, sondern mit einem Zeitenwechsel am Arbeitsmarkt, der seit 2013 überall spürbar ist: Seitdem klafft jene berühmte Lücke zwischen ausbildbarem Nachwuchs und dem wachsenden Bedarf an Arbeitskräften, angetrieben durch ein exorbitantes Wachstum der Dienstleistungsbranche.

Oder mal so formuliert: Obwohl der Nachwuchs rar ist, wächst die Zahl der Erwerbstätigen in Ost und West.

Auch wenn die IWH-Autoren mit diesem Wachstum im Osten nicht so richtig umgehen können: „Die ostdeutsche Wirtschaft dürfte in den Jahren 2017 und 2018 mit 2,1 % bzw. 2,0 % etwas langsamer expandieren als die gesamtdeutsche, nachdem sie in den vergangenen drei Jahren etwas stärker gewachsen war. Weil das Verarbeitende Gewerbe in Ostdeutschland nicht so exportorientiert ist wie das im Westen, profitiert es auch nicht ganz so stark von der gegenwärtig sehr kräftigen internationalen Konjunktur.“

Unübersehbar schaut man auf Export und Industrie.

Aber die Arbeitsplätze entstehen im Dienstleistungsbereich, wo die Löhne deutlich niedriger sind. Die Löhne rechnen sich aber immer ein in das so emsig errechnete Bruttoinlandsprodukt (BIP). Es sieht dann rechnerisch so aus, als würde die Produktivität im Osten langsamer steigen.

Gleichzeitig ist längst ein anderer Trend im Gang, der direkt mit der Arbeitskräfteknappheit zu tun hat: Die Löhne steigen deutlich stärker als die Inflationszuwächse. Einer Inflationsrate von 1,7 Prozent stehen Lohnzuwächse von 2,8 Prozent gegenüber – vor allem in den höheren Verdienstklassen. Das muss hinzugefügt werden. Das bremst die Konjunktur eigentlich, weil man mit hohen Einkommen natürlich wesentlich weniger Bedarf an wichtigen kurzfristigen Ersatzbeschaffungen hat.

In Deutschland gibt es ein eklatantes Missverhältnis zwischen prekären Einkommen und Gutverdienern. Und trotzdem sorgt gerade die Tatsache, dass immer mehr Menschen auch in recht bescheiden bezahlten Dienstleistungsjobs unterkommen, dafür, dass die Binnennachfrage anzieht und die Konjunktur stärkt.

Trotzdem geht jedes Mal Zeter und Mordio los, wenn über bedingungsloses Grundeinkommen, Solidarrente oder Mindestlohn debattiert wird. Das falsche alte Wirtschaftdenken sitzt in den Köpfen der meisten Politiker wie festgenagelt.

Möglich, dass 2018 etliche Unternehmen gezwungen sein werden, ihre Kapazitäten auszubauen, wie das IWH meint. Aber eine Branche ist längst an ihrer Kapazitätsgrenze: die Bauwirtschaft. „Dagegen sind die Bauinvestitionen trotz sehr hoher Auftragsbestände im Sommerhalbjahr kaum mehr gestiegen. Offensichtlich stößt die Bauwirtschaft gegenwärtig an Kapazitätsgrenzen: Arbeitskosten und Preise legen hier mittlerweile um mehr als 3 % pro Jahr zu, mit steigender Tendenz“, so das IWH.

Kommunen wie Leipzig bekommen nicht mehr alle Bauaufträge auf den Markt. Und dabei ist ein tragfähiger Wohnungsbau noch nicht mal in Gang gekommen. Die Bauwirtschaft steckt in einem regelrechten Schweinezyklus, hat in den 1990er Jahren („Aufbau Ost“) gewaltige (Über-)Kapazitäten aufgebaut und danach tausende Jobs gestrichen. Und seit vier Jahren steht man da und kommt mit Bauen nicht hinterher. Auch weil hier mittlerweile die Leute fehlen.

Was für das IWH in das Fazit mündet: „Schließlich birgt die günstige Konjunktur in Deutschland ihre eigenen Risiken: Steigt die gesamtwirtschaftliche Nachfrage auch im Jahr 2018 so kräftig wie zuletzt, so ist es denkbar, dass die Produktionskapazitäten in einigen Wirtschaftszweigen nicht mehr ausreichen und dass Preissteigerungen mehr und mehr an die Stelle der realen Produktionsausweitung treten. Eine solche Entwicklung scheint sich im Bausektor schon abzuzeichnen.“

Wobei auch die Lohnsteigerungen längst sichtbar sind.

Da ist es eher müßig, darüber zu spekulieren, welche „Richtung die deutsche Wirtschaftspolitik in den nächsten Jahren nehmen wird, solange es keine neue Regierung gibt“, oder ob die Finanzpolitik gar expansiver wird – die nächsten Finanzminister also die Mehreinnahmen mal wirklich in Investitionen stecken.

Das alles weiß kein Mensch. Genauso wenig, ob es doch wieder ein wenig Sozialausgleich nach den Vorstellungen der SPD gibt. Wirtschaft besteht aus viel mehr Faktoren, als es die deutschen Wirtschaftsexperten gern suggerieren. Und ob die Bundesrepublik mit ihrem expansiven Exportdenken noch lange durchkommt, ist ziemlich fraglich. Dass aber die Nachfrage nach Dienstleistungen weiter steigen wird und Deutschland auf Zuwanderung von Arbeitskräften angewiesen ist, das ist jetzt schon sicher. Taucht aber in den üblichen Prognosen nur sehr selten auf. Ist ja nicht ganz so schick wie frisch gebaute Autos, die in alle Welt verschifft werden.

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