Am 27. Februar gab es im Haus des Buches wieder den eigentlichen Auftakt zur Leipziger Buchmesse. Dorthin lädt der Börsenverein jedes Jahr wenige Tage vor Messebeginn ein und Verleger aus Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt zeigen, was sie an besonderen Büchern im Frühjahr im Angebot haben. Meist war das ein Ereignis, an dem es Bücher zu den großen Jubiläen des Jahres gleich bergeweise gab. Diesmal nicht. Dafür gab’s traurige Nachrichten.

Denn wenige Tage zuvor, am 22. Januar, war Regine Lemke im Alter von 68 Jahren gestorben. 24 Jahre lang hatte sie den Börsenverein der drei mitteldeutschen Länder geleitet. Sie hat diesen Büchertreff vor der Buchmesse aus der Taufe gehoben, der etwas herstellt, was die Messe selbst nicht schafft: Die Titel und die Arbeit der 101 Verlage, die in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen tätig sind, in den Fokus der regionalen Medien zu bringen. Zumindest der Medien, die es schaffen, an dem Termin teilzunehmen und dem Schnelldurchlauf zu lauschen. Denn knapp vier Minuten Zeit hat jede Verlegerin, jeder Verleger, um das Wichtigste aus dem Frühjahrsprogramm vorzustellen.

Vier Minuten, für die viele Verlage eine lange Anreise auf sich nehmen. Das ist oft eine Anstrengung, die viele nicht mehr unterkriegen in der sowieso hektischen Zeit vor der Messe. Denn die wichtigsten Titel sind zu dem Zeitpunkt zwar endlich durch Lektorat, Korrektorat und Satzabteilung – aber sie liegen noch in der Druckerei. Auf den meisten Büchern steht: Veröffentlichungstag 15. März.

Deswegen gibt es oft nur Dummies, Kataloge oder selbst zusammengebastelte Blindbände zu sehen. Was aber egal ist. Denn all das zu lesen, was vorgestellt wird, schafft niemand vor der Messe. Das tut man gerade bei den dicken Titeln sowieso erst hinterher.

Aber man bekommt ein Gefühl dafür, was spannend sein könnte auf der Messe. Was die Verleger in Mittelland wichtig und interessant finden. Denn oft stupsen sie Themen an, die gesellschaftlich noch tief unten schlummern. Aber was schlummert da? Wo ist der Trend?

Karl Marx ist es nicht. Ein einziges Büchlein aus dem Buchverlag für die Frau beschäftigt sich mit der starken Frau an der Seite des Rauschebarts, Jenny.

Der Dreißigjährige Krieg ist es auch nicht. Auch weil er für die mitteldeutsche Region ja eigentlich erst lange nach 1618 begann. Sachsens Kurfürst hatte sein Land erfolgreich aus diesen Händeln herausgehalten – bis der Schwedenkönig Gustav Adolf sich einmischte und Sachsen in den Krieg zwang. Deswegen setzt ein Buch aus dem Leipziger Universitätsverlag erst viel später an und nennt sich drum auch folgerichtig: „Die Schweden in Leipzig“.

Und was ist mit dem Ende des 1. Weltkriegs und der Novemberrevolution? Augenscheinlich herrscht auch da in den Verlagen Vorsicht. Denn man sieht auch in der Medienlandschaft wenig bis kein Interesse, diese Zeitenwende irgendwie thematisch so ernst zu nehmen wie den allein seligmachenden Herrn Hitler.

Aber vielleicht kommen all diese Titel noch.

Was auffiel, war die starke Rückbesinnung auf Märchen. Die Edition Hamouda bringt eine starke Auswahl rumänischer Märchen mit dem Band „Im Bann des Zauberdrachen“. Der Lychatz-Verlag sorgt für das Comeback einer Sagenfigur, die fast schon verschwunden schien: „Rübezahl“. Eine Gestalt, wie Verleger Sven Lychatz erzählt, die mehr bedeutet, als sich heutige Besucher im Riesengebirge, dem eigentlichen Rübezahlgebirge, noch vorstellen können. Und gleichzeitig ist das Buch ein Plädoyer für die Beschäftigung mit den Sagen und Märchen, die eine Menge über uns, unsere Geschichte und unsere Art zu Denken erzählen.

Vielleicht ist es das, was jetzt tatsächlich dran ist: eine tiefwurzelnde Vergewisserung unserer Herkunft. Denn augenscheinlich sind wir ziemlich wurzellos geworden. Und wer nicht weiß, wo er herkommt, weiß auch nicht, wie es weitergehen soll.

Deswegen ist Katharina Salomo stolz, zur Buchmesse Dieter Kalkas „Sudicka“ mitbringen zu können. Eigentlich ein historischer Roman, aber einer, der sich mit einem fast völlig aus unseren Geschichtsbüchern eliminierten Kapitel beschäftigt – mit der Eroberung der slawischen Gebiete östlich von Elbe und Saale. Dieter Kalka – vielen als Leipziger Musiker bekannt, anderen als Logopäde – hat sich tief eingearbeitet in das, was an Quellen zu diesem Verschwinden der Slawen im heutigen Ostdeutschland zu finden war. Sudicka ist die Heldin seiner Geschichte. Und der Leser lernt ein wenig von der reichen Landschaft der Stämme kennen, die um 850 in der alten Sorbenmark lebten. Zu der auch das heutige Leipzig gehörte. Wenn es damals schon existierte …

Das Buch hat Katharina Salomo dem Verleger Frank Stübner gewidmet, der zu den treuesten Gästen dieses Verlegertreffens gehörte. Er hat 1992 den Lusatia Verlag gegründet und war eigentlich die erste Adresse für dieses Buch. Aber er hat es an den Salomo Verlag in Dresden weitergereicht. Auch weil er wohl fühlte, dass die Kräfte schwanden. 2017 ist Frank Stübner, der sich mit dem Lusatia Verlag ganz ähnlich wie der Domoewina-Verlag intensiv um die Literatur und Sprache der Sorben bemühte, im Alter von 63 Jahren verstorben.

Was auch allen Angereisten noch einmal deutlich machte, wie sehr große Teile dessen, was an Buchveröffentlichungen in Mitteldeutschland passiert, vom Engagement einiger weniger Menschen abhängt. Oft sind die Verlage fast reine Ein-Mann-Betriebe, in denen die Verleger alles selbst machen – von der Autorensuche und -pflege bis hin zur professionellen Buchwerdung von Texten und Bildern.

Sebastian Woilter von Voland & Quist stellt zwei Spitzentitel seines Verlags aus dem Frühjahrsprogramm vor. Darunter auch ein neuer Band von Julius Fischer. Foto: Ralf Julke
Sebastian Woilter von Voland & Quist stellt zwei Spitzentitel seines Verlags aus dem Frühjahrsprogramm vor. Darunter auch ein neuer Band von Julius Fischer. Foto: Ralf Julke

Sie graben Sagen und Märchen aus. Oder sie bringen – wie der Leipziger Familia Verlag – eine österreichische Autorin dazu, mit Schulkindern gemeinsam ein Fantasy-Format zu entwickeln, das die Kinder gern lesen wollen. Der erste Band dieser Reihe – „Das Vermächtnis von Arassis“ – erscheint zur Buchmesse, der zweite dann im Herbst.

Und Mark Lehmstedt hat sowieso gefeiert. Am 1. März hat er 15 Jahre Lehmstedt gefeiert im Mendelssohn-Haus und damit auch die Vollendung eines großen Buchprojekts zelebriert, mit dem er 1.000 Jahre Leipziger Musikgeschichte in drei opulente Bildbände gepackt hat. Natürlich nicht allein: Für jeden Band hat er sich versierte Autorinnen und Autoren geholt. Auch dies eine Art der Vergewisserung der eigenen Geschichte.

Die zuweilen auch berührende Züge annimmt. So wie im Buchfunk Verlag, der – so sagt es zumindest Hörbuch-Verleger Johannes M. Ackner – eigentlich eher sperrige Titel produziert. Kinderbücher spielten bislang keine Rolle im Programm. Aber jetzt haben sich gleich zwei hineingemogelt. Eines durch die österreichische Musikerin und Komponistin Marion von Tilzer, die zu „Das verschenkte Weinen – ein Märchen nicht nur für Kinder“ des Leipziger Schriftstellers Werner Heiduczek eine bezaubernde Musik geschrieben hat und unbedingt wollte, dass Musik und Text in einem Leipziger Verlag erscheinen. So kam sie zu Buchfunk und Buchfunk zu einem Kinderbuch (auch für Erwachsene). Und dann staunte Johannes M. Ackner über sich selbst, denn nun wollte er auch noch eine seiner Lieblingsgeschichten aus Kindertagen auf CD haben – Hans Falladas „Geschichten aus der Murkelei“.

Viel mehr Vergewisserung geht gar nicht.

Oder doch?

Im Oktober schon feierte Viktor Kalinke das Erscheinen der druckfrischen, vollständigen, zweisprachigen Ausgabe des Werkes von Zhuangzi, des bekannten Philosophen aus China. „Zhuangzi erfüllte die daoistische Philosophie mit Leben und inspirierte seine Schüler und Weiterdenker zum Buch ‚Zhuangzi‘, das maßgeblich die Entstehung des Zen-Buddhismus entlang der Seidenstraße stützte. Martin Buber, Hermann Hesse und Martin Heidegger öffneten ihr Schreiben diesem anspruchsvollsten Autor des alten China. Dennoch existierte im deutschen Sprachraum bislang keine vollständige Übersetzung des Buches ‚Zhuangzi‘ aus dem Chinesischen“, lud Kalinke damals zur Party ein.

Das dicke Buch wird natürlich zur Buchmesse eine Hauptrolle spielen. Auch weil sieben Jahre harte Arbeit drinstecken, unterstützt von vielen chinesischen Freunden, die bei der Übersetzung halfen. Aber wer die chinesischen Philosophen kennt, weiß, dass der härteste Teil der Arbeit erst danach beginnt, wenn man aus dem riesigen Interpretationsspielraum wirklich die richtigen Übersetzungen herauspicken muss. Was nicht geht, wenn man dem Leser nicht gleichzeitig die nötige Interpretation der zugrundeliegenden Schriftzeichen mitgibt.

Da wundert es nicht, dass das nun wirklich die erste komplette Zhuangzi-Übersetzung ist ins Deutsche und dass Viktor Kalinke noch immer das Gefühl hat, in dieser Welt zu leben, aus der er erst so langsam wieder auftaucht. Entstanden ist damit ein Buch, zu dem man sich erst recht Zeit nehmen muss. An dem man lange lesen darf, vielleicht unterbrochen durch ein paar nachdenklich machende Titel – wie das Kinderbuch „Im Gefängnis“ aus dem Klett Kinderbuch Verlag, das erstmals – auch durch intensive Innenrecherchen unterlegt – für Kinder erzählt, wie es ist, im Gefängnis zu sein.

Oder durch einen jener mittlerweile gefragten Lost-Places-Bände, von denen der Sutton Verlag aus Erfurt einige im Angebot hat – wie „Verlassene Orte in Mitteldeutschland“. Scheinbar zauberhafte Orte, die aber so langsam am Verschwinden sind.

Vergänglichkeit und Wurzelsuche – vielleicht bringt es das auf den Punkt, was das Treffen der 20 Verlage in Leipzig auf einen vorläufigen Nenner bringt. Bis zum nächsten Buch. Und der nächsten Überraschung.

Warum so eilig oder Wie wird man wieder Herr seiner Zeit? – Die neue LZ Nr. 52 ist da

Warum so eilig oder Wie wird man wieder Herr seiner Zeit?

 

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