Diese emotionale Aufwallung schaffte es längst zum Klassiker im reichlich gefüllten, goldenen Spruchbeutel der City-Tunnel-Prosa: "Ich will die Milliarde nicht sehen!", entfuhr es Ende der 1990er Jahre dem damaligen Sächsischen Staatsminister für Wirtschaft und Arbeit, Kajo Schommer. Gemeint war, die geplante Investitionssumme für den City-Tunnel auf eine Milliarde zu begrenzen - D-Mark, wohlgemerkt, denn in einer anderen Währung rechnete damals auch ein Mitglied des Dresdner Kabinetts nicht.

Nach der Fixierung eines im Grunde politisch gefärbten Preises wussten die Unterhändler auf allen Seiten, welcher Investitionsbetrag gefälligst zu kalkulieren sei und welche Angebote nach erfolgter Ausschreibung einzureichen seien, um nach den jahrelangen Finanzierungs-Querelen des Großprojekts überhaupt Bestand vor dem gestrengen, prüfenden Blick der Auftraggeber zu haben. Am Ende waren es 972 Millionen DM geplanter Aufwand, mit dem das Vorhaben startete. Knapp drei Prozent dieses kalkulierten Anfangsbetrags draufgelegt, und die Milliarde wäre schon erreicht.

Drei Prozent! Und das bei einem auf eine Entstehungszeit von mehreren Jahren berechneten Großvorhaben. Jeder, der praktische Bauabläufe kennt, weiß, wie extrem der Anfangsbetrag für das Leipziger Tunnelprojekt auf Kante genäht war. Prompt findet sich nach schweigend verbrachten Jahren mittlerweile eine anschwellende Zahl aus der Deckung kriechender Kritiker, die es schon immer besser gewusst haben wollen. Alle Kosten seien von Anfang an viel zu niedrig angesetzt gewesen, behaupten sie heute. Allein die Leipziger Geologie hätte als Unsicherheitsfaktor ersten Ranges Anlass zu größter Vorsicht geben müssen.

Als der Bau des City-Tunnels endlich begann, um den Reigen deutscher Großprojekte aufzuweiten, regierte längst der Euro, und die Investitionssumme war auf 572 Millionen Euro festgezurrt. Fixpreise stünden in den unterschriebenen Verträgen für die riesigen Baulose, behauptete die Deutsche Bahn unerschütterlich. Gäbe es – wie durch einen Zufall – Kostensteigerungen, müssten die beauftragten Baukonzerne damit klarkommen. Doch in drei massiven Schüben schnellte das Investitionsbudget von 572 Millionen Euro über die Jahre auf satte 960 Millionen Euro hoch. Die Baukonzerne hielten jedes Mal ihre Hände auf. Flogen auf den “Bauherrenrunden” theatralisch auch gelegentlich die Fetzen – am bitteren Ende bekam der hinlänglich bekannte Kreis der beteiligten Firmen die geforderten Mehrbeträge.Das Ergebnis: Nach diversen Umplanungen, verschärften europäischen Sicherheitsstandards in Verkehrstunneln und galoppierenden Baustahlpreisen naht sie wieder, die verpönte Milliarde, die in der Schlussrechnung partout nicht auftauchen sollte. Soll der schöne Schein eines auf die Neunstelligkeit getrimmten Euro-Budgets gewahrt bleiben, muss an vielen Stellen gespart werden.

Seit der City-Tunnel geplant und projektiert wurde, war diese Arbeit von der Suche nach finanziellen Spielräumen bei anderen Bahnprojekten begleitet, um den notwendigen Betrag für die unterirdische Trasse zusammenzubekommen bzw. in Teilen umschichten zu können. Beispiel Sachsen-Franken-Magistrale: Sie hatte sich unter den Lieblingsvorhaben der offiziellen sächsischen Bahnpolitik schneller konkretisiert als der City-Tunnel. Deshalb wurden für die Bahnverbindung aus der Franken-Metropole Nürnberg über Hof und Plauen bis kurz vor Werdau und von dort weiter nach Leipzig bzw. Dresden recht zügig belastbare Investitionsbeträge eingeplant.

Dieses beschwingte Konzipieren, Planen und Bauen war offensichtlich ein treuer Begleiter der frühen Einheits-Euphorie. Geld stand damals reichlich zur Verfügung, auch wenn es die Sachsen-Franken-Magistrale trotz unablässiger Nachbesserungs-Anstrengungen aus Dresden nie zu einer Nach-Nominierung in den Kreis der angestrahlten Verkehrsprojekte Deutsche Einheit geschafft hat.Als schließlich ab 1998 auch noch der City-Tunnel auf den Wunschzettel geriet, waren Kompromissvorschläge gefragt. Alles haben und auf nichts verzichten zu wollen, war endgültig zu teuer geworden. In Leipzig sah der folgenreichste Kompromiss so aus, dass der Streckenabschnitt von Stötteritz bis zum Hauptbahnhof stillgelegt werden musste. Dieses “Tauschgeschäft” stammt aus dem Jahr 1999, erzielt von Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee (SPD) in einem Showdown mit Hartmut Mehdorn im Berliner Bahn-Tower. Fort mit der zweigleisigen Trasse durch die Wohngebiete im Leipziger Osten. Dass so etwas passiert, haben damals nur wenige für möglich gehalten.

Die Sprachregelung der Bahn lautet, dass auf diesen knapp vier Kilometern Schienenstrang seit dem 25. November 2012 der Verkehr bis zur Eröffnung des City-Tunnels “vorübergehend” eingestellt wird. So werden weit reichende Konsequenzen massiv beschönigt. Faktisch geht es um eine dauerhafte Stilllegung, denn wenn die Züge erst einmal durch den City-Tunnel rollen, denkt schon lange niemand mehr an Zugbetrieb auf dem oberirdischen Bogen der Bahn im Osten von Leipzig. Für elektrische Bahnen ist dieser Ur-Abschnitt der Leipziger S-Bahn endgültig tabu. Aufmerksamen Beobachtern ist nicht entgangen, dass dort noch vor Weihnachten 2012 innerhalb weniger Tage sämtliche Anlagen der Streckenelektrifizierung demontiert wurden. Dieses Tempo war höchst verdächtig. “Vorübergehend” ist etwas anderes.

Im April wurden auch die Gleise entfernt.

Der Effekt? Investitionskapital, das auf der Sachsen-Franken-Magistrale in voller Länge bis Leipzig Hauptbahnhof (Entfernung auf der Schiene ab Nürnberg 331 Kilometer) eingeplant war, wird nunmehr auf den letzten knapp vier Streckenkilometern eingespart und ist längst in den City-Tunnel geflossen. Aus dem potenziell erforderlichen Sanierungsbetrag für eine bestehende Strecke wurde buchungstechnisch ein Beitrag zu den Gesamtkosten des Tunnelabschnitts und seiner Zufahrten.

Damit haben sich die Tunnel-Verantwortlichen aber ein schwebendes betriebliches Problem “eingekauft”: Rollen die S-Bahnen erst einmal durch den Tunnel, werden bei jeder größeren betrieblichen Störung auf den knapp anderthalb unterirdischen Kilometern ersatzweise lange oberirdische Ausweich- bzw. Umleitungsstrecken gebraucht. Den dafür geeigneten zweigleisigen Streckenabschnitt Leipzig-Stötteritz – Leipzig-Ost (- Leipzig-Hauptbahnhof) gibt es nicht mehr. Als Ersatz muss bei Bedarf die eingleisige “Waldbahn” zwischen Markkleeberg und Leipzig-Plagwitz einspringen. Diese Lösung gilt auf Dauer.

Es gab viele, die aus politisch-psychologischen Erwägungen die Investitions-Milliarde (nunmehr in Euro) nicht sehen wollten. Ob die dafür umgeschichteten Mittel an den richtigen Stellen gefunden wurden, muss sich schon bald dauerhaft im harten Betriebsalltag des City-Tunnels zeigen.

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