Säßen wir als L-IZ-Reporter nicht selbst in diversen Pressekonferenzen, würden wir auch nicht mehr verstehen, was manchmal bei anderen Leuten zu lesen ist. Manchmal sind es Nuancen, die eine ganz selbstverständliche Berichterstattung ein klein wenig verändern, ein paar Fakten etwas anders einsortieren - und schon versteht die halbe Stadt alles ganz anders. Und so plauzt es dann in unser E-Mail-Fach. Gleich am Donnerstag, 30. Oktober, ging's los.

Da meldete sich René Hobusch zu Wort, Vorsitzender der gerade noch existierenden FDP-Fraktion im Leipziger Stadtrat. Er las, schrieb und verkündete: “Hobusch: “Neuer Verkehrsplan ist Politik an der Wirklichkeit vorbei!”

An den Diskussionen im zuständigen Ausschuss des Stadtrates hat er augenscheinlich nicht teilgenommen. Und jene Stadträte, die daran teilgenommen haben, meldeten sich am Donnerstag nicht zu Wort. Warum auch? Sie haben das Papier mitdiskutiert, haben sich vor der endgültigen Formulierung eingebracht und wissen, wie sehr das Papier ein gemeinsames Produkt ist, das die Leipziger Verkehrspolitik für die nächsten 10, 15 Jahre vor allem “beleitplanken” soll. Hier ist ein Arbeitskorridor definiert, innerhalb dessen alle künftigen Verkehrsprojekte angesiedelt sind.

Aber René Hobusch hat sich einfach eine Botschaft aus dem Beitrag der LVZ vom 30. Oktober (“Dubraus Verkehrsphilosophie: Mobilität für alle/Baubürgermeisterin legt Stadtentwicklungsplan Verkehr und öffentlicher Raum vor”) und liest für sich heraus, Leipzigs Stadtverwaltung wolle “im Rahmen des STEP Verkehr und öffentlicher Raum bis 2025 mehr Leipziger auf’s Fahrrad und in die öffentlichen Verkehrsmittel zu zwingen”. Von Zwang ist im ganzen STEP-Entwurf nichts zu lesen. Und in der Pressekonferenz am Mittwoch, 29. Oktober, hatte Baubürgermeisterin Dorothee Dubrau auch genau das betont. Sie nannte das Ziel, den Anteil des Umweltverbundes (ÖPNV, Rad, Fußgänger) auf 75 Prozent zu erhöhen bis 2025 “sehr ambitioniert”, betonte aber auch, dass das nur funktioniere, wenn die Leipziger selbst ihr Verkehrsverhalten ändern. Dafür “müsse man Angebote schaffen” – bessere Radwege, besseren ÖPNV, barrierefreie Fußwege usw.

Aber René Hobusch wollte es so nicht verstehen.

“Leipzig ist eine wachsende Stadt mit zunehmendem Wirtschaftsverkehr und immer mehr älteren Menschen, die schon heute länger Auto fahren als noch vor 10 Jahren”, kommentierte er das, was er gelesen hatte. “Die geplante Reduzierung des PKW-Verkehrs von 40 auf 25 % ist wirklichkeitsfremd, ideologisch verbohrt und die hierzu von der Baubürgermeisterin Dubrau vorgeschlagenen Maßnahmen Gängelung und Umerziehung mündiger Bürger. Wer beruflich und familiär auf`s Auto angewiesen ist, wird nicht plötzlich das Lenkrad gegen den Lenker tauschen”, so Hobusch weiter, “Zumal die Stadt nach außen wächst und immer mehr innenstadtferne Stadtteile vom zunehmenden Wachstum profitieren.”

Seine Interpretation: Der STEP Verkehr und Öffentlicher Raum sieht bis 2025 unter anderem vor, den Anteil des Radverkehrs von 14 auf 25 Prozent und den Anteil des ÖPNV von 19 auf 25 % zu steigern – zu Lasten des PKW-Verkehrs, der von 40 auf 25 % reduziert werden soll. Von “zu Lasten” steht im STEP-Entwurf nichts. Selbst die LVZ hat die Zielvorgabe anders interpretiert: “Darin ist das Ziel formuliert, den motorisierten Individualverkehr auf ein stadtverträgliches Maß zu reduzieren.” Denn wenn sich die Zahl der Pkw in Leipzig weiter so vermehrt, erstickt die Stadt einfach an dieser Menge geparkten Blechs.
Dass man gar nicht daran denke, den Wirtschaftsverkehr einzuschränken, hatte Dorothee Dubrau in der Pressekonferenz ebenfalls extra betont. Die Prozentzahlen aus dem “Modal Split” beziehen sich übrigens auf einen “normalen Werktag eines Leipzigers”, für den die Anteile der durchschnittlich sechs Wege, die er an so einem Tag zurückgelegt, in Prozente umgerechnet werden. Wenn der Anteil des “Pkw-Verkehrs von 40 auf 25 Prozent” sinken soll, heißt das tatsächlich, dass der Anteil der Wege, die mit dem Pkw an einem Werktag zurückgelegt werden, von 40 auf 25 Prozent sinken soll. Als Leitvorstellung. Um Menschen aber zum Umsteigen (gerade bei kurzen Wegen unter 5 km) zu bewegen, müssen sich die Angebote an Radwegen, Abstellplätzen und ÖPNV deutlich verbessern.

“Damit sind die Zielwerte gegenüber dem Ursprungsentwurf noch einmal verschärft worden – und das obwohl heute in Leipzig rund 40 % aller Wege mit dem Auto erledigt werden”, so Hobusch mit Blick auf den Anfang 2014 von der Stadtverwaltung vorgelegten Entwurf, der noch andere Zielwerte vorsah: 30 % PKW-Verkehr, 20 % Radverkehr, 23 % ÖPNV, 27 % Fußverkehr.

Weil die Modal-Split-Werte für 2013 noch nicht vorliegen, wissen wir nicht einmal, wo Leipzig heute tatsächlich steht. Die letzten Zahlen gibt es für 2008. Aber arge Besorgnis löste der LVZ-Artikel auch bei CDU-Stadträtin Sabine Heymann aus. Sie vermutet “Leipziger Doppelmoral”.

“Einerseits lassen sich die Stadtoberen einladen, wenn eine unserer Automobilunternehmen einen neuen Betriebsteil eröffnen oder ein neues Modell vom Fließband läuft. Anderseits brüstet man sich nun mit dem Ziel, das Autofahren unmöglich zu machen. Der Konsens am Runden Tisch Verkehr, an dem auch ich mehrere Nachmittage zugebracht habe, dass man sich zur Multimodalität bekennt, scheint vollkommen vergessen zu sein”, kommentiert sie das, was sie jetzt der Zeitung entnimmt.

Es kann nicht die L-IZ gewesen sein, denn dort haben wir uns köstlich amüsiert über die neuen Zungenbrecher – wie eben Multimodalität, von denen der Entwurf zum neuen STEP Verkehr geradezu strotzt.

Sabine Heymann: “Wirtschaftsverkehr ist mehr als nur das Fahren von LKWs. Wirtschaftsverkehr ist auch der Betrieb von Kanzleien und Büros verschiedener Art, die eben mit PKWs angefahren werden. Leipzig ist ein Oberzentrum, als solches muss es der Bevölkerung aus dem ländlichen Raum Dienstleistungen zugänglich machen, d.h. aus einem Raum, welcher kaum mit Fahrrad und ÖPNV erschlossen ist. Die Reduktion der Geschwindigkeit auf Hauptstraßen auf 30 km/h und das Ausbremsen des Verkehrs führt nicht zu einer Reduzierung des Schadstoffausstoß. Im Gegenteil ein kontinuierliches Fahren mit 50 km/h trägt zur Reduzierung der Umweltbelastung bei. Ein Konsens war es aber auch, dass Angebote statt Verbote der Steuerung des Verkehrs dienen sollen. Da man wohl aber die Angebote, wie ein besseres ÖPNV-Angebot, Park&Ride-Parkplätze, Nachtkombiticket für LVB und Taxi, Quartiersgaragen usw. nicht finanzieren kann greift man zum kostengünstigeren Modell für die Verwaltung: Verbote. Auch hier heißt Leipziger Doppelmoral: man stecke sich unrealistische Ziele und lasse diese durch die Allgemeinheit bezahlen.”

Die Sache mit der “Reduktion der Geschwindigkeit auf Hauptstraßen auf 30 km/h” haben wir im STEP-Entwurf nicht gefunden. Aber vielleicht können ja unsere Leser mal auf die Suche gehen und die ganzen Verbote suchen, die drin stehen sollen.

Einen haben wir noch – diesmal von CDU-Stadtrat Konrad Riedel. Auch er nennt den von ganzen Abteilungen, Ausschüsseen und Gremien seit 2012 erarbeiteten STEP Verkehr einfach mal – LVZ-like – “Dubraus Verkehrskonzept”. Aber er hat das 110-Seiten-Werk zumindest in Teilen gelesen und sieht die Neugewichtung des Fußverkehrs als Fortschritt. Aber er findet auch Einkaufsmärkte draußen auf der “grünen Wiese” gut, augenscheinlich die Lieblingseinkaufsplätze von Senioren.

Sein Beitrag:

“Mit Maß und Verstand für die demographische Entwicklung auch in der wachsenden Stadt braucht es nicht nur Radwege, sondern in gleichem Maße auch intakte Fußwege, einen schnellen und zuverlässigen ÖPNV und einen zügigen Pkw-Verkehr, den Wirtschaftsverkehr nicht zu vergessen. Deshalb ist aus Sicht der Senioren-Union Leipzig eine kritische Begleitung des von Bürgermeisterin Dubrau angekündigten Verkehrskonzeptes höchst notwendig.

Erfreulich, dass die Bau- und Verkehrsbürgermeisterin jetzt auch von Fußwegen spricht – wo doch dasselbe Dezernat kürzlich erst ein Fußwegekonzept ablehnte. Nun soll sogar der Anteil des Fußwegverkehrs gesteigert werden. Das belegt aber nur, daß das Konzept, wie zu befürchten war, nicht zu Ende gedacht ist: Die Ziele des Konzepts, insbesondere die genannten Maßnahmen zur Einschränkung des privaten Autoverkehrs, haben mit der Lebensrealität und -notwendigkeit nichts zu tun – und behindern sich teilweise sogar gegenseitig.

Richtigerweise wurden die großen Einkaufszentren an den Stadtrand plaziert. Ein Großteil der älteren Leipzigerinnen und Leipziger erledigt einmal die Woche seine Einkäufe, dazu braucht es nun mal ein Auto – selbst wenn ein Bus aller Stunden mal fährt. Meist dient das Fahrzeug auch nur für Einkaufsfahrten und lebensnotwendige Besorgungen, die jährliche Fahrleistung liegt meist unter 5.000 Kilometer.

Der Vorrang des ÖPNV steht schon immer im Verkehrskonzept der Stadt, wird aber immer häufiger unterlaufen. Es stellt sich dringlich die Frage, wieso man diesen in ganz Leipzig durch einseitig den Radverkehr bevorteilende Verkehrsorganisation per Straßenmarkierung in letzter Zeit immer mehr ausbremst. Weil man nicht wie in Dresden oder Erfurt die unterbrochene Trennlinie für einen Schutzweg für Radfahrer bevorzugt, sondern mit Sperrlinien die Autos auf die Gleiskörper leitet. Selbst ein Vertreter der Leipziger Fahrradlobby äußerte kürzlich in einer öffentlichen Debatte in der Presse, dass eine unterbrochene Linie ausreichend wäre.

Wenn man eine lebendige Stadt haben will, müssen alle Verkehrsarten und die Zusammenhänge zwischen einzelnen Gruppen wirklichkeitsbezogen berücksichtigt werden. Der Verkehr einer Großstadt kann ebensowenig lebensfremd-ideologisch diktiert werden, wie ein ‘Veggie-Day’ in Betriebskantinen. Wir sind alle auf intakte Fußwege und einen zuverlässigen und kostengünstigen ÖPNV angewiesen, brauchen aber in bestimmten Situationen eben auch das Auto. Dies zu verteufeln, bedeutet nicht nur Diskriminierung mancher Bürger, sondern auch, viele Leipziger Arbeitsplätze zu gefährden.”

Der Entwurf steht unter Downloads auf der Website der Leipziger Verkehrsplanung:

www.leipzig.de/umwelt-und-verkehr/verkehrsplanung

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