Am 10. Januar schrieben die Präsidenten von IHK, Handwerkskammer und Ingenieurskammer einen Offenen Brief an OBM Burkhard Jung, mit dem sie noch einmal ihre Position in der Verkehrspolitik deutlich machten. Aber Verkehrspolitik ist nicht nur OBM-Sache. Daran erinnern jetzt Linke und SPD. Auch Verkehrspolitik ist ein demokratisch ausgehandelter Kompromiss. Und Burkhard Jung kann den Stadtentwicklungsplan „Verkehr“ auch nicht einfach kassieren. Der ist vom Stadtrat beschlossen.

Dass derzeit wieder intensiv diskutiert wird und die Kammern sich verstärkt einbringen, hat mit den sechs Mobilitätsszenarien zu tun, die Burghard Jung zusammen mit Baubürgermeisterin Dorothee Dubrau und VTA-Amtsleiter Michael Jana im Herbst vorgestellt hat. Sie versuchen zu beschreiben, wie eine breit aufgestellte Verkehrspolitik in Leipzig aussehen könnte, wenn 2030 tatsächlich 700.000 Menschen in der Stadt leben sollten und noch täglich zur Arbeit kommen sollen.

Alle sechs Konzepte kommen im Grunde zum selben Ergebnis wie die Studie, die die IHK zum Wirtschaftsverkehr in Auftrag gegeben hatte und die dem Konzept „Mobilität Leipzig 700plus“ zugrunde liegt: Wenn Leipzig nicht wirklich die Verkehrsarten ÖPNV und Radverkehr ausbaut,  steht die Stadt 2030 im Stau. Dann bekommt auch der Wirtschaftsverkehr massive Probleme.

Die entsprechend nachhaltigeren Konzepte kommen auf Investitionssummen von rund 800 Millionen bis 1 Milliarde Euro für den ÖPNV (insbesondere Straßenbahn) bis 2030. Das ist nicht wirklich viel Geld. Nur für Leipzig sieht es nach viel aus, weil Leipzig nun schon seit 15 Jahren mit Investitionshaushalten auskommen muss, die überhaupt nicht zu einer wachsenden Halb-Millionen-Stadt passen.

Das sagt auch OBM Burkhard Jung ungern. Aber 100 oder 200 Millionen Euro für eine solche Stadt im Jahr sind pure Armut. Leipzig ist – wie viele andere deutsche Großstädte – unterfinanziert. Um die nötigen Investitionen in Straßen, ÖPNV, Schulen, Kitas usw. stemmen zu können, müsste eine Stadt dieser Größenordnung jährlich 400 bis 500 Millionen Euro investieren.

Und die sechs Mobilitätsszenarien versuchen einfach zu beschreiben, wo die Schwerpunktsetzungen in den nächsten 12 Jahren wirklich Sinn machen und das knappe Geld tatsächlich die richtigen Wirkungen erzielt.

Am 11. Januar sind etwa 20 Leipziger Unternehmen, Einrichtungen, Verbände und Vereine der Einladung der Stadtverwaltung gefolgt, ihre Meinung zu den sechs vorgelegten Mobilitätsszenarien zur künftigen Verkehrspolitik zu äußern. Anhand von sechs kritischen Vorträgen entstand eine durchaus konstruktive und zielgerichtete Diskussion. Das Ergebnis des Abends soll im weiteren Prozess den Stadträten zur besseren Meinungsfindung zur Verfügung gestellt werden.

Nur die Wirtschaftskammern fehlten, bedauert Linke-Stadtrat Mathias Weber: „Aus meiner Sicht ist sehr bedauerlich, dass die Industrie- und Handelskammer sowie die Handwerkskammer ohne Angabe von Gründen der Veranstaltung fern geblieben sind. Der Stadtrat hat darauf gedrungen, die Meinung der Fachöffentlichkeit zu den Mobilitätsszenarien vor der entscheidenden Stadtratssitzung in einer Veranstaltung einzuholen. Leider haben es die Kammern wiederholt verpasst, ihre Positionen am richtigen Ort und zur richtigen Zeit vorzubringen, um sich so konstruktiv in den Meinungsbildungsprozess einzubringen.“

Und Franziska Riekewald, verkehrspolitische Sprecherin der Linksfraktion, ergänzt: „Noch am Dienstag beim kommunalpolitischen Empfang der Handwerkskammer habe ich mich über das Angebot gefreut, dass sich die Kammern an den Zukunftsdebatten zum Thema Verkehr beteiligen wollen. Der gestrige Workshop wäre dafür eine gute Gelegenheit gewesen, die leider von den Kammern nicht genutzt wurde.“

Und auch die SPD fragt sich, warum die Diskussion über Leipzigs Verkehrspolitik aus dem Stadtrat verlagert wird. Das ist doch nun einmal das demokratisch legitimierte Gremium, das so etwas bespricht und beschließt.

Der Sprecher des Arbeitskreises Stadtentwicklung und Umwelt der SPD-Leipzig, Henrik Fischer, sagt dazu: „Leipzigs starkes Wachstum muss politisch gestaltet werden, damit es ein Erfolg für die Menschen in unserer Stadt wird. Dabei müssen sich alle Gruppen und Verbände einbringen, deshalb freue ich mich über das Engagement der Wirtschaftsverbände, ohne alle ihre Forderungen zu teilen.“

Doch der Forderung, den Stadtentwicklungsplan Verkehr und öffentlicher Raum außer Kraft zu setzen, erteilt Fischer eine Absage.

„Die SPD arbeitet daran, dass die Leipzigerinnen und Leipziger sich schnell und bezahlbar in ihrer Stadt bewegen können. Dafür brauchen wir einen kühlen Kopf und müssen nicht hektisch beschlossene Pläne über Bord werfen. Mit der Förderung von ÖPNV und Radverkehr geht der Stadtentwicklungsplan den Weg in die richtige Richtung“, sagt Fischer. „Es stimmt, dass Leipzig auch in die Fläche wachsen muss, aber nicht nur mit Einfamilienhäusern am Stadtrand. Bis 2030 braucht Leipzig zwischen 45.000 und 70.000 neue Wohnungen – familienfreundlich geschnitten, gut erreichbar und vor allem bezahlbar. Das muss die Stadt durch den gezielten Kauf von Grundstücken und durch Bauleitplanung bald vorbereiten. Neubau ist zudem so teuer, dass wir dringend mehr Mittel vom Freistaat für sozialen Wohnungsbau brauchen. Die schwierige Situation auf dem Wohnungsmarkt betrifft aber vor allem den Bestand. Wir müssen Mietsteigerungen vorbeugen, um die weitere Verdrängung einkommensschwacher Gruppen aus vielen Stadtgebieten zu verhindern. Diesen sozialen Aspekt vermisse ich bei den Forderungen der Wirtschaftsverbände.“

Und auch der Ökolöwe meldet sich wieder zu Wort, denn ein Großteil des einst geplanten Mittleren Ringes ist aus simplen Naturschutzgründen nicht umsetzbar. Gerade die Strecken, die durch den Leipziger Auenwald verlaufen würden, wurden deshalb auch nach langem Zögern der Stadtverwaltung gestrichen.

Für den Ökolöwen sind „Schnellstraßen durch Leipzigs Park- und Grünanlagen und den Auwald“ nicht diskutabel.

„Wir fordern gemeinsam mit über 11.500 LeipzigerInnen mit dem Appell ‚Mehr Grün für Leipzig‘ den Schutz unserer grünen Oasen“, sagt Friederike Lägel vom Ökolöwen. „Es sind veraltete Straßenpläne, die ständig aus der Mottenkiste herausgekramt werden. Wer Tagentensystem und Ring fordert, will Schnellstraßen durch Naturschutzgebiete im Auwald, durch Clara-Zetkin-Park und Rosental, durch Parks und Wohngebiete bauen. Doch es ist Zeit für ein Umdenken! Grün ist ein unerlässlicher Bestandteil einer lebenswerten Stadt. Sein Schutz muss endlich oben auf der Tagesordnung stehen.“

Konkret kritisiert der Ökolöwe die Vorschläge, eine Schnellstraße quer durch das Naturschutzgebiet im Auwald südlich des Wildparks zu bauen, die Idee, eine Schnellstraße als Tangente durch das Rosental nördlich des Waldstraßenviertels anzulegen und die Forderung, eine weitere Schnellstraße durch den Stünzer Park und den Wilhelm-Külz-Park im Leipziger Osten zu bauen.

„Auch im Naturschutzgebiet im Nördlichen Auwald neben dem Auensee wollen die Kammern von den Steuerzahlern eine Schnellstraße gebaut bekommen. Letztere soll weiterführend mitten durch das Wohngebiet an der Auenseestraße in Leipzig-Wahren geschlagen werden“, moniert der Ökolöwe. „Die Hauseigentümer sollen dort enteignet werden. Gleiches gilt für die gesamte Kleingartenanlage entlang der S-Bahn in Lößnig. Auch diese grüne Oase soll aus Sicht der Kammern einer Schnellstraße weichen.“

Wenn Leipzig 2030 den Verkehrskollaps verhindern will, muss es jetzt in die großen Planungen einsteigen

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