Am 3. Dezember war Buchpremiere in Knauthain für diesen "Lebensbilder"-Band aus dem Leipziger Südwesten. Auf dem Buchrücken steht schon die Nummer 1. Der Folgeband ist also in Arbeit. Irgendwann haben wohl auch Knauthain, Knautkleeberg, Hartmannsdorf und Rehbach eine Reihe von Büchern mit lauter Lebensgeschichten. Das Vorbild hat in Dölitz der Journalist Ekkehard Schulreich geschaffen.

Da anfangs noch vorsichtig. Doch mittlerweile sitzt er dort schon über Band 4. Oder sitzt in guten Stuben und sammelt das Material ein. Was aufs selbe herauskommt. Jeder Mensch hat eine Geschichte zu erzählen. Manche frei weg von der Leber, andere mit großem Schmerz oder großem Bedauern. Je älter die Erzähler, umso größer ist der Erzählbogen. Erst recht dann, wenn die Familie auf ein eigenes Unternehmen zurückblicken kann. Dann wird auch ein kleiner Teil der regionalen Wirtschaftsgeschichte sichtbar.

Die es noch gibt. Man staunt zuweilen – auch wenn das Bedauern häufiger ist. Denn die letzten 70 Jahre sind auch an den kleinteiligen Wirtschaftsstrukturen in den Leipziger Stadtteilen nicht spurlos vorübergegangen.Mal waren es die rabiaten Vergenossenschaftungen der frühen DDR-Zeit, die funktionierende Familienbetriebe zerschlugen, mal war es die strenge Gängelung der kleinen Handwerksbetriebe, die erst Ende der 1970er Jahre gelockert wurde, weil auch die Genossen Weltverbesserer mitbekommen hatten, dass ohne unternehmerische Kreativität das ganze Land in die Binsen geht – die lokale Grundversorgung sowieso. Und ab 1990 fegten neue Stürme durchs Land – die Discounter-Welle zum Beispiel.

Und so findet der Leser auch in diesem von Andrea Nabert zusammengetragenen Band viele Geschichten unermüdlicher Überlebenskämpfer. Erstaunlich viele. Angefangen von Rocco Jope, der das Gut Knauthain gern komplett erhalten hätte, wenn er den Zuschlag bekommen hätte – und der zumindest aus dem Teil, den er bekam, einen heute florierenden Reiterhof machte, bis zu Schlossermeister Freimuth Schubert, der sein Unternehmen in der dritten Generation führt. Fleischermeister Thomas Opitz kann sogar auf sechs Vorgängergenerationen zurückblicken – und hat mit seinem Sohn schon den Nachfolger im Unternehmen.

Aber nicht nur die Geschichten der Unternehmer zeigen die Bewohner der Orte “hinter den Pappeln” als erfinderische und immer emsige Akteure in oft schwierigen Zeiten. Auch einige Geschichten derjenigen werden erzählt, die sich – etwa in der Thomas-Müntzer-Siedlung unter durchaus spartanischen Bedingungen – ein Haus bauten. Andere verloren den Bauernhof ihrer Familie – und das will etwas heißen in dieser Ecke Leipzigs. Knauthain war einmal eines der reichsten Dörfer der Region, die alten Vierseithöfe entsprechend eindrucksvoll und oft genug denkmalgeschützt. Manches von diesem alten Bauernstolz sieht man in den Fotos aus den Familienalben, mit denen der Band reich bestückt ist.

Viele der erzählten Geschichten verflechten sich. Da saßen die heute Grauhaarigen einst zusammen unter Obstbäumen im Park des Schlosses Knauthain, das über viele Jahre die Schule für die Kinder aus der Gegend war. Man traf sich im Fortuna-Bad oder an der Pferdeschwemme an der Elster. Da und dort klingt das Echo des Tagebaus in diese Geschichten. Etliche der Erzähler kennen noch die alte, unbegradigte Elster, den doppelt so großen Elsterstausee, der bis Bösdorf reichte, sowieso. Der Stausee war ein Segler-, Bade- und Schlittschuhparadies.Auch die Schrecken des Krieges, den einige Erzähler als Kind erlebt haben, flackern ins Bild. Auch die Hoffnungskirche wurde ja durch Bomben zerstört und in den Folgejahren in etwas einfacherer Form und ohne Emporen wieder hergerichtet.

Man begegnet den Freuden und Leidenschaften der Menschen. Manche tragen ihr Leben lang einen Traum in sich – wie die Lehrerin Brigitte Meusel ihre Liebe zu den Tieren oder der Theologe Heinz Hieke seine Liebe zu den archäologischen Schätzen seiner Heimat. Das Buch erlaubt, was dem zufälligen Besucher dieser Ortsteile eher nie vergönnt ist – einen Blick in die Lebensgeschichten der Menschen. Manche sind in ihrer neuen Heimat gestrandet nach dem Krieg, andere hatten sogar zwei Fluchten hinter sich, kamen aus Bösdorf herüber, das Anfang der 1980er Jahre dem Tagebau weichen musste.

In einem ähnelt dieses Buch den “Lebensbildern” aus Dölitz: Leipzig scheint ganz weit weg zu sein. Die Orte sind – bis heute – dörflich geprägt, auch wenn kaum noch jemand von der Landwirtschaft lebt. Viele wertvolle Flächen sind nicht nur dem Tagebau, sondern auch dem Bau der Autobahn und dem Kiesabbau zum Opfer gefallen. Mancher ist hier angekommen, der hier die Ruhe fand, die er in der großen lärmenden Stadt nicht fand – Hasso Veit, der berühmte Hammondorgel-Spieler, und der Maler Erich Kissing, der sich über Jahrzehnte sogar jeglicher Vermarktung verweigerte. Erst seit 2011 scheut er das Licht der Öffentlichkeit nicht mehr und auch die Kunstliebhaber können seine bizarre und unverwechselbare Bilderwelt kennenlernen.

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Lebensbilder
Andrea Nabert, Verlag Pro Leipzig, 14,00 Euro

Sogar eine Botschaft haben diese Geschichten, auch wenn sie möglicherweise die schlimmsten Tief- und Schicksalsschläge aussparen. Die Botschaft lautet: Nicht unterkriegen lassen. Die Allmächtigen drehen zwar gern am großen Rad und immer wieder mal völlig durch – aber das Leben geht seinen Gang und wichtig ist nur, wie jeder Einzelne / jede Einzelne sich anstrengt, die eigenen Träume und Vorstellungen vom Leben zu verwirklichen. Das klappt zwar nicht immer, das gelingt oft nur auf Umwegen. Aber wer nicht bereit ist, die Ärmel hochzukrempeln, der wird nichts erreichen. Es können also auch junge Leute was draus lernen, wenn sie den Älteren zuhören. Oder lesen, was diese hier in 20 dichten “Lebensbildern” von sich und ihren Träumen preis gegeben haben.

www.proleipzig.eu

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