Bis 1989 war vielen Leipzigern nicht mehr bekannt, welche Rolle ihre Stadt im Zusammenhang mit dem Attentat vom 20. Juli 1944 spielte. Man hatte vier Jahrzehnte lang vor allem den kommunistischen Widerstand gegen das Hitler-Regime gewürdigt und entsprechend für das eigene Staatsselbstverständnis vereinnahmt. Selbst Carl Goerdeler, Oberbürgermeister in Leipzig von 1930 bis 1937, bekam erst nach 1990 seine verdiente Würdigung. Nun rückt mit einem Buch sein Freund Walter Cramer ins Blickfeld.

Ein Stolperstein in der Gustav-Mahler-Straße erinnert seit dem 16. Juli an ihn und seine Ermordung am 14. November 1944. In der Straße, die damals noch Wiesenstraße hieß, stand das Wohnhaus seiner Familie, das im Krieg zerstört und später durch den Neubau des Gesundheitsamtes ersetzt wurde. Ein schmaler Weg führt von dort direkt in den Johannapark, wo seit 1996 gleich rechterhand auch ein Ehrenmal für Walter Cramer steht. Mit Carl Goerdeler verband ihn eine langjährige Freundschaft. Auch in ihrer Grundhaltung waren sie sich nah. Charlotte Cramer, Walters Ehefrau, fasst das in einem Brief an die Schriftstellerin Ricarda Huch 1946 so zusammen: “Ihn zog stets Großzügigkeit, Gerechtigkeit, Verantwortungsgefühl, Opfersinn, Selbstlosigkeit zum Wohle der Menschheit an.”

Carl Goerdeler hatte seinen Freund als (Übergangs-)Ministerpräsidenten von Sachsen vorgesehen, wenn der geplante Staatsstreich gelungen wäre. Nicht nur, weil er ihm als Freund vertraute, sondern weil er ihm die Aufgabe auch zutraute. Immerhin zeigte Cramer schon bei seinen verschiedenen Tätigkeiten für die Großhandelsfirma für Wollgarne Polter & Co. (die seinem Großvater gehörte), die Kammgarnspinnerei Gautzsch (die er 1919 übernahm und aus den Folgen des 1. Weltkriegs herausführte) und die Leipziger Kammgarnspinnerei Stöhr & Co., in deren Vorstand er 1923 eintrat, dass er die Kunst beherrschte, große Unternehmen zu sanieren und wieder auf feste Füße zu stellen, Geschäfte zu konsolidieren und auch ein europaweit agierendes Firmengeflecht mit ruhiger Hand zu leiten. Auch Stöhr & Co. holte er in den 1920er Jahren aus einer tiefen Krise. Wenn Unternehmen gerettet sind, dann kommen in der Regel die Neider, die glauben, das noch viel besser zu können.In Cramers Leben spielte Werner Stöhr diese Rolle, der seit den frühen 1930er Jahren mit den Nazis paktierte und über Jahre erfolglos versuchte, weitere Nazi-Größen im Vorstand von Stöhr & Co. zu platzieren. Was Cramer lange zu verhindern wusste, genauso, wie er um die jüdischen Mitarbeiter des Unternehmens lange und vorsichtig kämpfte. Diese Hilfe wurde ihm am Ende zum Verhängnis. Als er im Vorstand einmal mehr davon sprach, sich um “seine armen Juden” in der ungarischen Niederlassung kümmern zu wollen, zeigte ihn Werner Stöhr bei der Gestapo an. Das war im Frühjahr 1944. Aber von der Gestapo beobachtet wurde Cramer wohl schon länger. Und nach dem 20. Juli dauerte es dann nicht lange, dass er am 22. Juli verhaftet wurde und das erlebte, was er schon lange befürchtet hat: die Verhörmethoden der Gestapo.

Beatrix Heintze, die Enkelin Walter Cramers, hat seine Briefe und Tagebuchaufzeichnungen aus dem Gefängnis entziffert und legt sie hier erstmals als Buch vor. Die meisten Texte wurden aus der Gefängniszelle herausgeschmuggelt. Die wichtigste Rolle spielte dabei der katholische Gefängnispfarrer Peter Buchholz. Ein Kalender zu Walter Cramers Gefängnisaufenthalten vom 22. Juli bis 12. November und eine Liste der zuweilen unter Decknamen erwähnten Personen ergänzt das Buch. Im Anhang finden sich dann einige Briefe – unter anderem jene an Ricarda Huch – die die Nachgeschichte beleuchten. Teilweise ging es darin um die Entnazifizierung Werner Stöhrs. Die Weißwasch-Maschine war 1946 schon im Vollwaschgang. Auch ein strammer Nazi wie Werner Stöhr wurde damit bis auf ein paar Grautöne reingewaschen. Doch auch sein Brief vom 5. September 1944 an Hans Heintze ist mit abgedruckt, in dem er seine ganze Verachtung für den Humanismus eines Walter Cramer ausdrückte. Für Erforscher der Nazi-Seele ein Papier, das recht deutlich zeigt, wie sich ein Täter mit Verweis auf die jeweils geltende Staatsraison rechtfertigen kann und daraus auch noch moralische Pluspunkte für sich addiert. Ein Brief, wie ihn auch eine Type wie Diederich Heßling hätte schreiben können.In seinen Briefen und Tagebuchnotizen schildert Cramer, was ihm in der Haft zustößt, auch wenn er die Foltermethoden der Gestapo nur vage umschreibt. Seine Kraft gewinnt er auch durch Bücher. Charlotte Cramer schildert ihn als begeisterten Leser von Büchern zur Politik- und Militärgeschichte, zur Weltwirtschaft und von politischen Biografien. Im Gefängnis liest er Treitschke, Fichte und Storm. Und bangt dem Tag entgegen, an dem er nichts zu Lesen hat. Er will sich von daheim gar seine kleine Reclam-Sammlung schicken lassen. Besuchen dürfen ihn seine Liebsten erst kurz vor der Urteilsverkündung. Dass sie ihn auch vorher schon im Gefängnis besuchen wollten, erfuhr er nur, wenn ihm die mitgebrachten Sachen ausgehändigt werden.

In einigen Briefen setzt er sich auch mit der Anklage auseinander und mit der quälenden Frage, ob er durch die in den Verhören erpressten Geständnisse alte Freunde und Wegbegleiter belastet hat. Auch Ernst Schoen von Wildenegg und Oswald Rösler, mit ihm Mitglieder des Vorstands der Stöhr & Co. und langjährige Freunde, geraten in die Mühlen der Nazi-Justiz. Am 14. November stehen sie gemeinsam mit ihm vor dem Volksgerichtshof. Doch Cramers Bemühungen, allen Verdacht gegen die beiden Freunde zu entkräften, scheinen zu helfen – sie bleiben am Leben, während Cramers Weg aus dem Gerichtssaal direkt zur Henkersstätte führt.

Man spürt, wie stark seine Bindungen an seine Familie und Mitarbeiter sind und warum auch seine Angestellten ihn “wie einen Bruder” achteten und liebten. Unternehmer müssen keine kalten, menschenverachtenden Macher sein. Sie müssen nur wissen, wie die Dinge funktionieren und Vertrauen auch gewähren. Auch und gerade in Krisenzeiten – denn mit seiner Hilfe für die jüdischen Mitarbeiter hat Walter Cramer auch gezeigt, dass ihm gute Mitarbeiter auch dann am Herzen liegen, wenn die Staatsraison sie zum Freiwild erklärt.

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Walter Cramer. Die letzten Wochen
Beatrix Heintze, Leipziger Uni-Verlag 2013, 28,00 Euro

Cramer steht so für ein anderes Unternehmerbild, genauso, wie er für ein anderes, nicht von Vorurteilen verzerrtes konservatives Weltbild steht. Mit Dr. Wilhelm Schomburgck kommt übrigens noch ein dritter Leipziger ins Bild, der dem Widerstand vom 20. Juli 1944 nahe stand. Was mit Carl Goerdelers emsiger Netzwerkarbeit zu tun hat. Dem 20. Juli gingen Jahre des vorsichtigen Suchens und Abtastens voraus. Die Verhaftungswelle nach dem missglückten Attentat zeigt, wie leicht es der Gestapo fiel, die wichtigsten Beteiligten der Verschwörung binnen weniger Tage zu fassen und vor Gericht zu stellen. Und Walter Cramer wusste genau, dass ihm dieser Zugriff blühen würde – und konnte doch selbst im Kreis des Stöhr-Vorstandes nicht zurückhalten, seine persönliche Betroffenheit vom Umgang mit den Juden im Nazi-Reich deutlich zu machen.

Das Buch ist ein sehr emotionales Puzzle-Stück zum 20. Juli und vor allem zum Anteil der Leipziger an diesem Versuch, dem Hitlerreich vorzeitig ein Ende zu bereiten.

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