Jüngst legte der Verlag Reinecke & Voß den Gedichtband „Einbildung eines eleganten Schiffbruchs“ vor, Ergebnis eines Projekts an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald. Dort werden Übersetzerinnen und Übersetzer ausgebildet für so ziemlich alles, was rund um die Ostsee gesprochen wird. Und auch vor Prosa haben sie keine Scheu – und werden zu Entdeckern.

Nicht nur, weil sie auch Autoren aus Ländern übersetzen, die auf dem deutschen Buchmarkt nur spärlich vertreten sind. Sie machen einen großen Raum sichtbar, den man gemeinhin nicht als einen großen gemeinsamen Kulturkreis begreift. Die einen Länder gehören zum Westen, die anderen zum Osten. Manche Länder werden hin und her gezerrt. Und selbst Skandinavien erscheint – aus mitteleuropäischer Sicht – etwas unterkühlt und fremd.

Und dann übersetzen die angehenden Fennistinnen, Baltisten, Skandinavisten und Slawistinnen emsig ein paar Texte  von unterschiedlichsten Autorinnen und Autoren aus diesen Ländern – und man landet auf einmal in einer Welt, die einem vertraut vorkommt. Und fremd zugleich. Vertraut, weil alle diese Länder tief in der modernen Sinnsuche stecken, in einem Dämmerreich der Einsamkeit. Es ist kein Zufall, dass das zweite Kapitel in dieser Sammlung überschrieben ist mit „Eine große Einsamkeitsfabrik“.

Das ist unsere Zeit, in der sich fast alles in eine ewige Suche nach Beständigkeit verwandelt hat, einen Ort, an dem man bleiben kann, ohne vertrieben zu werden. Wo man vielleicht eine Arbeit hat, die das Leben sichert, und Nähe, die fast unmöglich scheint. Denn wenn alles, wirklich alles, was unser Dasein ausmacht, dem Markt unterworfen ist, dann bleibt kein Platz mehr für Gefühle. Außer den falschen. Denn wo nur noch das Individuum zählt, da beginnt der Zweifel, ob man richtig ist, ob man den Wettbewerbsmaßstäben genügt. Das Misstrauen greift um sich, die Frettchenjagd beginnt. Bin ich schön genug? Attraktiv genug? Werde ich geliebt?

Es webt und wabert in diesen Geschichten, von denen zwar keine so eine richtige Novelle wird, aber so manche zur Tragödie des sinnlosen Menschen. So wie in Einar Lövdahls (Island) „Hier ruht ein Durchschnittsmensch“, die ganz ähnlich fatal endet wie Alana Sauls (Finnland) „Über Macht“ oder Agnesa Rutkevicas (Lettland) „Null Quadratmeter“. Als hätte man lauter junge Menschen vor sich, die aufgegeben haben zu kämpfen, die das eigene Leben nicht mehr als Herausforderung begreifen und bereit sind, es einfach wegzuwerfen, wenn es auf einmal aus der Spur gerät – so wie in „Helmi und Loviisa“ von Jukka Ahola (Finnland).

Als wären sie um sich selbst nicht mehr besorgt, als wäre ihnen dieser Wille zum Dasein irgendwie abhandengekommen. Irgendwann verschwunden, vielleicht auf dem Trödelmarkt. Oder weil die Gesellschaft selbst gleichgültiger geworden ist, so wie die Zöllner an der ukrainisch-polnischen Grenze in Natalka Snjadankos (Ukraine) „Warschauer Meditationen“. Auf einmal geht es nur noch ums Geld. Wer genug Bestechung leistet, kommt auch mit dem dubiosesten Gepäck über die Grenze. Eigentlich aber besagen Grenzen nichts mehr, weil Menschen immer mobiler und heimatloser werden. Die Länder und Städte werden zu austauschbaren Oberflächen. Und nur in Alvydas Slepnikas’ (Litauen) Geschichte „Das Cello“ wird noch einmal die Atmosphäre der kleinen Dörfer spürbar, das Aufeinander-angewiesen-Sein der Menschen, die sich noch kennen, auch wenn sie über die Nachbarn lauter Tratsch erzählen.

Es ist die erste Geschichte im Buch, die in das Traumhafte hinübergleitet. Die anderen eher traumhaften Geschichten sind im dritten Kapitel mit dem Titel „So wächst in einem Spalier ein Rosenstock“ versammelt. Auch wenn Pär Thörns (Schweden) Geschichte „Wir sind wie ein Boot, dem das Wasser bis zur Reling steht, und die ganze Zeit schlagen Wellen rein“ eher in das erste Kapitel gehört hätte, zu „Hier ruht ein Durchschnittsmensch“. Denn er hat einfach eine Collage aus den Klagen schwedischer leitender Angestellter über ihre unzumutbaren Arbeitsbedingungen gesammelt. Auch die Schweden haben es nicht geschafft, dem zermürbenden Effizienzwahn der westlichen Welt zu entkommen.

Unsere Gesellschaft geht psychisch kaputt, bevor sie physisch in die Knie geht. Menschen werden in anonymen Hierarchien allein gelassen, haben wie Rädchen zu funktionieren. Doch wenn sie Hilfe brauchen, bleiben sie allein, werden gemobbt, landen in einer Hölle der Bosheiten und Anfeindungen. Denn eigentlich hält niemand diese modernen Arbeitswelten wirklich aus. Immer gehen sie an die Seele, stellen den ganzen Menschen infrage, wenn das System nicht mehr rund läuft.

Denn das große Versprechen der Moderne ist ja die Perfektion, die wie geschmiert laufende Maschine. Aber die gibt es nicht. Und sie verwandelt den Menschen immer mehr zu einem austauschbaren Ersatzteil. Sie spricht ihm seinen Sinn und seine Unversehrtheit ab. Wer sich nicht ganz aufgibt, stört irgendwann.

Logisch, dass die Phantasie einiger Autoren sich in märchenhafte Welten verliert. Denn wie kommt man heraus aus dieser Einsamkeit, die den nächsten Menschen zum bedrohenden Fremden macht? Die unsere Begegnungen in Klaustrophobie enden lässt?

Das mit der als allgegenwärtig empfundenen Einsamkeit war ja auch im Gedichtband schon zu spüren. Hier taucht es erneut auf, zeigt das allgegenwärtige Unbehagen der Autorinnen und Autoren verschiedenster Länder in dem, was wir aus unserer Welt gemacht haben. Wer sich nicht in die Kreisläufe der Nutzbarkeit einklinken will oder kann, landet in einem Schattenreich, in dem die Gleichgültigkeit erst recht spürbar wird.

Und selbst die Familie ist kein Ort der Geborgenheit mehr, wie man in der Geschichte „Zwanzig Minuten“ von Iris Backlund (Finnland) lesen kann, in der die junge Heldin gegen die Sauna-Rituale der Familie rebelliert und so erfährt, dass unter der Folie der freundlichen Gemeinschaft die hilflose Gewalt lauert. Denn auch Familie ist ja oft genug nur noch eine Inszenierung, der die verbindenden Gefühle fehlen. Eine alte Geschichte – aber so typisch für eine Gegenwart, in der die Erwachsenen schon lange heimatlos geworden sind, regelrecht unbehaust. Und mit den Rebellionen der Kinder können sie dann ganz und gar nicht umgehen.

Es gibt auch einige Texte, die extrem auf Sex fixiert sind. Denn das ist das überall angebotene Heilmittel für eine (Waren-)Welt, die eigentlich keine Liebe mehr kennt. Man tobt sich in Sex aus (und lese nur die überdrehten Zeitschriften unserer Tage), macht die Partnerwahl zu einem Hasenrennen – aber das geht nicht nur in diesen Geschichten tragisch aus. Denn wer nicht wirklich zu Liebe und Verständnis fähig ist, der konsumiert auch das nur.

Da scheinen dann all diese Länder (die sichtlich nicht alle an der Ostsee liegen) auf einmal ihren fast romantischen Charakter zu verlieren. Als hätte sich die Welt, die man aus älteren Büchern und Filmen zu kennen glaubt, einfach aufgelöst und in eine von Wind und Frost durchwehte Landschaft verwandelt, in der der Mensch nicht mehr zählt, regelrecht vertrieben ist aus einer Geborgenheit, die er durch keine Anstrengung ersetzen kann.

Und so beruhigend sind auch die Traumgeschichten am Ende nicht. Es bleibt das Gefühl: Rund um dieses eigentlich schöne Meer sind lauter Länder zu finden, in denen sich zumindest schreibende Menschen ziemlich einsam und hauslos fühlen. Nutzlos wie der Held in Einar Lövdahls Geschichte, den schon die ausbleibende SMS eines Mädchens völlig aus der Bahn schmeißt.

Matthias Friedrich, Slata Kozakova (Hrsg.) Weniger eine Leiche als vielmehr eine Figur, Reinecke & Voß, Leipzig 2017, 15 Euro.

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