Seit über einem Jahr marschiert PEGIDA durch Dresden - mit jeder Menge Aufmerksamkeit für ein Häuflein radikalisierter Demo-Teilnehmer, von denen einige Mitglieder unterschiedlichster extremer und extremistischer Vereinigungen sind, die sich schon lange auch in den sogenannten sozialen Netzwerken des Internets austoben, auch auf Facebook. In aller Öffentlichkeit - und trotzdem will ausgerechnet Sachsens Innenminister von all dem nichts wissen.

Immer wieder wird die sächsische Regierung gerade von Abgeordneten der Grünen und der Linken mit Fragenkatalogen zu dieser radikalen Gemengelage am ganz rechten Rand konfrontiert. Und das auch nicht erst seit PEGIDA. Auch vorher schon. Aber die Anfragen dazu würden mittlerweile dicke Aktenordner füllen. Die Antworten sind hingegen eher dürftig, etwas verkniffen und meistens mit Ausreden gespickt, warum niemand in den sächsischen Sicherheitsapparaten sich wirklich mit diesem diffusen Graufeld von Revanchisten, Fremdenfeinden, Islamophoben und ausgewachsenen Nazis beschäftigt.

Irgendwie hat jetzt auch die Sprecherin für antifaschistische Politik der Linksfraktion im Sächsischen Landtag, Kerstin Köditz, die Nase voll von dieser ganz offiziellen Arbeitsverweigerung. Denn genau dieses Wegschauen und Ignorieren habe den Polemikern vom rechten Rand erst den Raum gelassen, in dem sie sich ohne Hemmungen austoben und am Ende selbst bei verunsicherten Bürgern das latente Gefühl erzeugen, sie seien irgendwie tatsächlich “das Volk” und ihre Propaganda sei die Mehrheitsmeinung.

Ein Thema, das augenscheinlich nicht nur der Sächsische Verfassungsschutz völlig verkannt hat. Und auch im Herbst 2015 scheint das sächsische Innenministerium nicht bemüht, sich ernsthaft mit der Eskalation rechter und rassistischer „Proteste“ im Internet zu beschäftigen.

“Soziale Medien werden geradezu überschwemmt mit Lügengeschichten über angebliche Straftaten durch Geflüchtete und Muslime – offenbar ein gezieltes Instrument von Rechtsaußen, um rassistische Stimmungen weiter zu schüren. Doch Innenminister Ulbig ficht das nicht an. Er hat überhaupt keinen Überblick über solche Fälle, wie er jetzt auf eine meiner Landtagsanfragen eingestand”, zieht Kerstin Köditz die Bilanz aus der Antwort von Markus Ulbig zur Frage der rechtsradikalen Aktionen in den “sozialen” Netzwerken.

In amtlich schmallippiger Weise hatte er der Links-Abgeordneten einfach geantwortet: “Eine diesbezügliche Recherche ist nicht möglich, da in den Informations- und Auskunftssystemen der sächsischen Polizei keine entsprechenden Erfassungs- bzw. Abfragwerte existieren. Die Fragen können daher nicht beantwortet werden. Unabhängig davon wird darauf hingewiesen, dass falsche Tatsachenbehauptungen gegen unbestimmte Personengruppen, wie in diesem Fall ‘Migrantinnen und Migranten’ nicht zwingend Straftaten darstellen.”

So erklärt man einfach mal mit trockenen Worten eine amtliche Arbeitsverweigerung.

“Das Problem ist”, betont Kerstin Köditz: “In vielen weiteren Fällen hat er ebenso wenig Kenntnisse. Nicht über die Mitwirkung von Hooligans und Neonazis bei Pegida und nicht über sich bereits seit Monaten häufende Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten am Rande solcher Versammlungen (Anfrage Kerstin Köditz, 6/2895). Richtigerweise warnen Medienverbände vor einer Aushöhlung der Pressefreiheit in Sachsen. Umso bedenklicher ist, dass Ulbig auf all das nicht reagieren will oder kann. Angesichts der aufgeheizten Lage wäre es das Mindeste, ein Lagebild zu führen. Stattdessen handelt er gerade jetzt, wo er gefragt wäre, nach dem Motto ‘Was ich nicht seh’, tut mir nicht weh’.”

Wahrscheinlich ist es noch schlimmer. Denn das Ignorieren der Übergriffe auf Journalisten ist auch Medienpolitik. Sie signalisiert einer zunehmend gewaltbereiten Extremistenszene, dass der sächsische Staat es nicht mehr für seine Aufgabe erachtet, die Pressefreiheit im Land zu schützen. Wozu ja auch die Unversehrtheit jener Journalisten gehört, die sich mit ihren Mitteln bemühen, nach wie vor eine realistische Darstellung all der zunehmend radikalisierten Demonstrationen in Sachsen zu bringen. Dass im gleichen Zug die fremdenfeindliche Propaganda in Portalen wie Facebook ungehindert weitergeht, erzeugt ein mehr als seltsames Bild vom Zustand der öffentlichen Meinungsbildung in Sachsen.

Aber zum Bild gehört eben auch, dass die Wachsamkeit der sächsischen Ermittler sofort erlischt, wenn das Beobachtungsobjekt nicht groß und breit das Wort “Nazi” auf der Stirn trägt oder gar offiziell Mitglied der NPD ist. Dass sich immer mehr rechte Bewegungen neue Namen zulegen und tarnen, scheinen nicht mal die viel gelobten sächsischen Verfassungsschützer mitbekommen zu haben. In ihren Berichten taucht dazu jedenfalls keine Auswertung auf.

Und so weiß der Minister auch nicht, was auch seine untergeordneten Behörden nicht wissen wollen – oder sollen.

“So hat er auch keinen Überblick über Aktivitäten der extrem rechten ‘Identitären Bewegung’ und selbsternannter „Bürgerwehren“. Nach der kürzlichen Verhaftung mehrerer mutmaßlicher Führungspersonen einer rassistischen ‘Bürgerwehr’ in Freital ist das ein Hohn. Unter solchen Voraussetzungen ist nicht zu erwarten, dass Sachsens unionsgeführte Innenpolitik der Lage effektiv Einhalt gebieten kann – ob man das nicht kann oder nicht will, lasse ich dahingestellt.”

Und dann zieht sie die Schlussfolgerung, die zumindest der sächsische Innenminister bis heute nicht gezogen zu haben scheint: “Das Versagen des Innenministers leistet einem nicht geringeren Problem Vorschub: dass sich die Öffentlichkeit, genau wie er, an die Gewaltatmosphäre gewöhnt. Das unterhöhlt die Demokratie.”

Und das hat mit hoher Sicherheit dazu beigetragen, dass sich nicht nur im Internet die Wortmeldungen im vergangenen Jahr immer weiter radikalisiert haben, sondern auch die zunehmende Radikalisierung auf den diversen Demonstrationen in Sachsen und in deren Umfeld befeuert. Da ist es wie auf dem Schulhof, wenn sich die Klassenschläger so richtig gegenseitig in Rage reden: Wenn keiner eingreift und Grenzen setzt, endet das in der Regel in einer großen Klopperei. Nur dass im Freistaat Sachsen ein ganzes demokratisches Gemeinwesen zur Disposition steht.

Aber vielleicht findet Markus Ulbig einfach keine Polizisten mehr, die diesen Job übernehmen. Das kann auch sein. Aber diese Suppe hat er sich auch selbst eingebrockt mit einer völlig unsinnigen “Polizeireform 2020”.

Die jüngste Antwort von Innenminister Markus Ulbig auf die Anfrage von Kerstin Köditz.

Die Anfrage zu Übergriffen auf Journalisten.

Anfrage von Kerstin Köditz zur “Identitären Bewegung”.

Anfrage von Enrico Stange zu selbsternannten Bürgerwehren.

Anfrage von Kerstin Köditz zu selbsternannten Bürgerwehren.

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