Pestizide verbreiten sich in ganz Deutschland kilometerweit durch die Luft. Dies belegt die bislang umfassendste bundesweit durchgeführte Studie zur Pestizid-Belastung der Luft, die das Bündnis für eine enkeltaugliche Landwirtschaft und das Umweltinstitut München in Auftrag gegeben haben. Die Ergebnisse der Messungen an insgesamt 163 Standorten in ganz Deutschland zwischen 2014 und 2019 wurden am Dienstag, 29. September, in Berlin veröffentlicht.

Wissenschaftler/-innen des Forschungsbüros „TIEM Integrierte Umweltüberwachung“ konnten unter anderem das von der Weltgesundheitsorganisation als „wahrscheinlich krebserregend“ eingestufte Glyphosat in allen Regionen Deutschlands und weit abseits von potentiellen Ursprungs-Äckern nachweisen. An rund drei viertel aller untersuchten Standorte wurden jeweils mindestens fünf und bis zu 34 Pestizidwirkstoffe sowie deren Abbauprodukte gefunden.

Selbst auf der Spitze des Brockens im Nationalpark Harz waren zwölf Pestizide nachweisbar. Insgesamt fanden sich deutschlandweit 138 Stoffe, von denen 30 Prozent zum jeweiligen Messzeitpunkt nicht mehr oder noch nie zugelassen waren.

In Sachsen wurden unter anderem in Radebeul, Bautzen und Chemnitz Proben genommen. In Chemnitz wurden dabei allein 26 Ackergifte nachgewiesen. In Leipzig gab es zwei Standorte und auch noch einen in Taucha. In Leipzig wurden acht Pestizide nachgewiesen – darunter auch Glyphosat.

Karl Bär, Agrarexperte im Umweltinstitut München, sagt zu den Ergebnissen: „Die Ergebnisse unserer Studie sind schockierend. Glyphosat und andere Ackergifte verteilen sich als wahrer Pestizid-Cocktail bis in die hintersten Winkel Deutschlands. Pestizide landen in schützenswerten Naturräumen, auf Bio-Äckern und in unserer Atemluft. Wir fordern die Bundesregierung auf, umgehend zu handeln und Mensch und Natur besser zu schützen. Die Ackergifte, die sich am meisten verbreiten – Glyphosat, Pendimethalin, Prosulfocarb, Terbuthylazin und Metolachlor –, müssen sofort verboten werden.“

Diese fünf Wirkstoffe konnten bei den Messungen am häufigsten und weit entfernt von potentiellen Quellen nachgewiesen werden. Bär kritisiert, dass der sogenannte Ferntransport von Pestizidwirkstoffen bislang im europäischen Pestizid-Zulassungsverfahren nicht ausreichend berücksichtigt wird.

Boris Frank, Vorsitzender vom Bündnis für eine enkeltaugliche Landwirtschaft, geht auf die Kollateralschäden der eingesetzten Pestizide ein: „Immer wieder werden biologisch bewirtschaftete Äcker durch Ackergifte kontaminiert, ganze Ernten gehen so verloren. Unsere Studie liefert nun einen wesentlichen Grund dafür: Die Pestizide gelangen über die Luft auf Getreide, Obst und Gemüse, das von Bio-Bäuerinnen und -Bauern naturverträglich und ohne den Einsatz chemisch-synthetischer Pestizide angebaut wurde. Bislang trägt die Biobranche die Kosten für die aufwendigen Kontrollen ihrer Produkte und für Ware, die nicht mehr als Bio verkauft werden kann, weitgehend selbst. Agrarministerin Julia Klöckner muss die Beeinträchtigung des Bio-Landbaus durch chemisch-synthetische Ackergifte stoppen.“

Solange Pestizide in großem Ausmaß angewendet werden, müssen Öko-Landwirte bei Kontaminationen ihrer Ernte über einen Schadensausgleichs-Fonds entschädigt werden, fordert Frank. Dieser muss durch zehn Prozent der jährlichen deutschen Umsatzerlöse der Pestizid-Hersteller gespeist werden.

Wo wurde alles gemessen?

Für die Studie „Pestizid-Belastung der Luft“ wurden von März bis November 2019 über die gesamte Bundesrepublik Pestizide in der Luft gemessen. Untersucht wurden Standorte im Umkreis von weniger als 100 bis hin zu mehr als 1.000 Metern Entfernung von potentiellen Quellen – in Städten und auf dem Land, in konventionellen und Bio-Agrarlandschaften sowie in unterschiedlichen Schutzgebieten.

Die Daten wurden mithilfe von neu entwickelten technischen Passivsammelgeräten, aus Filtermatten in Be- und Entlüftungsanlagen von Gebäuden sowie durch die Analyse von Bienenstöcken und Baumrinden erhoben. Unterstützt wurde die Studie von Landwirt/-innen, Imker/-innen und interessierten Privatpersonen. Sie stellten die Pestizidsammler nach Anleitung der Wissenschaftler/-innen auf und sandten die Proben zur Auswertung ins Labor. In die Gesamtstudie flossen zudem Ergebnisse einer Untersuchung ein, bei der zwischen 2014 und 2019 Baumrinden auf Pestizide geprüft wurden.

Bernhard, Susanne und Aaron Wagner leben in einem Passivhaus am Rande der Stadt Leipzig. Der Filter, der sechs Monate in der Belüftungsanlage ihres Hauses eingebaut war, wurde für die Studie auf Pestizide untersucht. Zu ihrer Teilnahme an der Studie erklären sie: „Generell spielt das Thema gesunde Ernährung und der Umgang mit der Natur und Umwelt eine sehr wichtige Rolle in unserem Leben. Wir sind der festen Überzeugung, dass eine Lebensmittelproduktion ohne den Einsatz von chemisch-synthetischen Pflanzenschutzmitteln möglich ist.

Wir hatten zudem von einer Studie Kenntnis erlangt, in der menschlicher Urin auf das Totalherbizid Glyphosat untersucht wurde. Bei fast allen der 2.000 Testpersonen konnten Rückstände des Pestizids nachgewiesen werden und zwar auch bei den Probanden, die angaben, sich überwiegend mit ökologisch erzeugten Lebensmitteln zu ernähren. Da stellten wir uns die Frage: Warum ist das möglich? Über welchen weiteren Weg kommen derartige Substanzen in unseren Körper?“

In der Grafik ist es der kleine blaue Balken (Filter). Der größere grüne Balken daneben zeigt die Untersuchungen der Rinde von Bäumen in Leipzig, in der sich die Umweltgifte abgelagert haben.

Das Bündnis für eine enkeltaugliche Landwirtschaft und das Umweltinstitut München stellen sich hinter die Forderung der Europäischen Bürgerinitiative „Bienen und Bauern retten!“, bis zum Jahr 2035 in der EU schrittweise alle chemisch-synthetischen Pestizide zu verbieten. Im europäischen Pestizid-Zulassungsverfahren muss bis dahin der Ferntransport und die Kombinationswirkung unterschiedlicher Wirkstoffe stärker berücksichtigt werden.

Die Initiatoren der Studie begrüßen die Initiative des Bundesamts für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL), ein jährliches Monitoring über die Verbreitung von Pestiziden in der Luft durchführen zu lassen. Allerdings muss sichergestellt werden, dass das Monitoring regelmäßig, flächendeckend und umfassend für alle Pestizidwirkstoffe – also auch für nicht zugelassene – durchgeführt wird.

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