Eine junge Berliner Autorin schlenderte jüngst über die Leipziger Büchermesse und fühlte sich zum ersten Mal gut aufgehoben. Ein Verlag hatte eins ihrer Bücher nicht nur gedruckt. Die erste Auflage war nach zwei Monaten sogar ausverkauft, die zweite in Planung. Und über das nächste Buch wollte man sprechen. Dabei hatte Petra Kasch doch immer das Gefühl gehabt, Bücher zu schreiben, die junge Leser brauchten. Aber Jugendbuchverlage in Deutschland haben ihre eigenen Vorstellungen vom Jungsein.

In ihren Programmen dominieren Fantasy und Grusel, Wilde Kerle und scharfe Blondinen. Sie leben ein Jugendbild, das gut passt zu der bunten Soße, die auch das deutsche Fernsehen gern produziert. Ganz der Überzeugung, dass deutsche Familien aus einem erfolgreichen Papa, einer toughen Mama, fitten Großeltern und superklugen Kindern bestehen, Schule eigentlich Spaß macht und der Rest des Lebens aus Mountainbiken, Tennis und Segeln besteht.

Petra Kasch, selbst Mutter einer aufgeweckten Berliner Göre, schreibt nicht über solche Traumfamilien. In Berlin gibt es davon nicht allzu viele. Und darin ähnelt Berlin Leipzig, für das die Zahlen eine brutale Sprache sprechen: Nur in 64.000 der 281.000 Leipziger Haushalte leben Kinder. Im Klartext: Rund 300.000 Leipziger leben ihren Alltag ohne die Gegenwart von Kindern. 142.000 davon sind so genannte „Singles”, der Rest – Paare ohne Kinder.

Leben mit / ohne Kinder

60 Prozent der Leipziger brauchen sich nicht mit all den Fragen herumzuquälen, die mit Kindern erst aktuell werden – von der Suche nach einem Krippenplatz bis hin zu Hundekot im Sandkasten, genervten Nachbarn und einer Verkehrspolitik, die das Auto als unantastbaren Götzen betrachtet. Und auch die restlichen 200.000 leben nicht in „bunten Verhältnissen”. Nur in 44.000 der 64.000 Kinder-Haushalte betreuen noch Vater und Mutter gemeinsam die Kleinen, oder Stiefvater und Teilzeitmama, denn nur in 32.000 dieser Haushalte sind Papa und Mama noch zusammen. Der Rest wurschtelt sich als so genannte „Patchwork”-Familie durch.

Oder als Problemfall Alleinerziehende. 26.000 Leipziger Kinder erleben die allein erziehende Mutter – seltener auch den allein erziehenden Vater – als Normalfall Familie. Wie Julian in Petra Kaschs Buch „Verräter verdienen Keine Chance”. Julian ist ein talentierter Junge, sportlich und naturwissenschaftlich begabt. Doch eines Tages spielt er nicht mehr mit, lässt Schule Schule sein, macht Lernverweigerung zu Protest und bleibt folgerichtig sitzen.

Das ist kein besonderer Fall mehr. Leipzigs Lehrer kennen das Phänomen, das nichts mit Begabung und Leistungsstärke zu tun hat. Irgendwann in der Mittelschule, aber auch am Gymnasium ticken sie aus, verweigern die Mitarbeit, schwänzen. Für manchen Lehrer gibt es da oft nur noch den Ausweg, das Kind auf eine Förderschule für Lernbehinderte abzuschieben.

Sieben Prozent aller Leipziger Schüler besuchen eine dieser sechs Förderschulen. Und jeder vierte schafft auch dort seinen Abschluss nicht. 11 Prozent jedes Jahrgangs schaffen in Leipzig keinen Schulabschluss. Das sind Zahlen, die viel aussagen darüber, wie hilflos sich Kinder fühlen in einer Welt, die den Leistungsdruck immer mehr erhöht und dabei wenig bis gar keine Rücksicht nimmt auf Kinder und Familien. Familien, die in vielen Fällen selbst Opfer sind einer Arbeitswelt, in der nur Effizienz, Flexibilität und Anpassung zählen. In der auch alleinerziehende Mütter in Schichten arbeiten müssen, sonst kommen nicht einmal die üblichen Frauenberufe für sie in Frage.

Wenn alles auf Leistung geeicht ist

Es gibt Leute, die halten diese Erhöhung des Dauerdrucks für selbstverständlich. Die sehen nicht ein, warum Arbeitsfelder geschützt werden müssen, Regionen ihre eigenen funktionierenden Strukturen brauchen und Städte familiengerecht eingerichtet sein müssen. Für die sind Kindertagesstätten, Schulen, Jugendklubs und Bibliotheken unnötige Geldfresser.

Von diesen Leuten erzählt Petra Kasch nicht. Ihr Thema sind Julian und seine kleine Welt, in der das Schweigen dominiert. Das Schweigen der Eltern, die sich getrennt haben, als die Berufskarriere des Vaters nicht so aufging wie erträumt. Der Vater geht und wird zum Tabu. Und mit dem ersten Tabu kommt das nächste, gibt es immer mehr Dinge, über die man nicht mehr spricht. Oder sprechen kann.

Familien sind kein geschützter Ort. Vielleicht waren sie das einmal. Aber das war, als noch märchenerzählende Großmütter die Großfamilie dirigierten, als ein Jobverlust kein Ehrverlust war und der Glaube noch lebbar, jeder sei seines Glückes Schmied. Familien sind klein geworden und verletzlich. Sie schützen ihre Kinder nicht mehr, in Großstädten nicht und auch nicht mehr in den Dörfern, die ihre Schulen verlieren, weil „sich kleine Schulen nicht rechnen”.

Wenn einer nicht passt

Schule existiert längst unter dem allgemeingültigen Diktat der Rentabilität. Wer das Klassenziel nicht erreicht, wer sich nicht einfügt, wird aussortiert. Julian hat Glück. Lehrer und Mitschüler wollen ihm helfen. Ihm, der sich nicht helfen lassen will, der die Nase voll hat von Astronomie, der Fußballmannschaft und der neuen Klasse. Er braucht niemanden. Er steht das allein durch. Und wenn die „Kriegerin” ihm eine Mutprobe abverlangt, dann zieht er auch das durch. Er kennt keine Angst. Und Schmerz kennt er auch keinen. Indianer weinen nicht.

Wieviele dieser Indianer streunen durch unsere Städte? Suchen sich selbst, ohne zu wissen, wie. Familien – man ahnt es beim Lesen – müssen einmal so etwas wie das Maß der Dinge gewesen sein, eine Orientierung für ihre Kinder. Nicht nur ein Schutz, auch ein Kosmos. Ein Kosmos, den Schule nicht ersetzen kann. Ein Kosmos, ohne den aber der rote Faden fehlt in einer Welt, die so besessen ist von Mobilität, Innovation und Cleverness.

Es ist eine Welt der Krieger. Eine unerbittliche Welt, die sich wiederfindet in der Welt der Jugendlichen – in Gewaltexzessen, „Mutproben”, Drogenkonsum. Sie begegnen einer unerbittlichen Welt – mit Unerbittlichkeit. Gegen sich selbst, gegen Gleichaltrige, gegen hilflose Eltern. Man leidet mit, wenn Julian seine Abenteuer besteht. Noch diesseits der Grenzen. Es sind eher Tom-Sawyer-Abenteuer, auch wenn man sich immer wieder verkneifen muss, den Jungen aus den Buchseiten zu zerren und ihn zur Vernunft zu rufen. Vernunft zählt nicht viel in diesem Alter, in dem sich Jungen und Mädchen auf die Suche machen nach sich selbst.

Ruckzuck ausverkauft

Aber wer ist man schon in einer Welt, in der die Gründe immer mehr werden, lieber keine Kinder mehr zu bekommen? Etwa weil die gegenwärtige Lebensphase zu unsicher ist, wie 45 Prozent aller 18- bis 34jährigen in Leipzig sagen. Das ist der Normalzustand: Eine Dauerkrise in der Lebensplanung, die besonders die jungen Eltern betrifft. Durchschnittsnettoeinkommen: 650 Euro. Da lacht sich sogar Peter Hartz ins Fäustchen. Also sagen auch 41 Prozent: „Die finanziellen Ausgaben wären mir zu groß.” 38 Prozent fürchten um ihren Arbeitsplatz, wenn sie Kinder kriegen. Das ist die Realität.

Das ist die Angst, die beiläufig mitschwingt in dieser Geschichte. Julians Mutter hat Arbeit, aber reich ist die kleine Familie deswegen nicht. Hinter dem Schweigen spürt man, wie fragil alles ist. Dass das Tabu, über den „Verräter” zu sprechen, auch ein Selbstschutz ist. Ein Selbstschutz, der auch impliziert: Nur nicht hochkommen lassen die Geschichte, nur nicht riskieren, dass alles noch komplizierter, noch unüberschaubarer wird.

Verständlich, dass die Fröhliche-Kindheit-Verlage reihenweise zurückschreckten vor der Geschichte. Nur ja den jungen Lesern nicht noch mehr Angst machen. Ganz der alte Reflex: Als könne man die Jugend schützen vor einer Wirklichkeit, die jenseits de bunten Kanäle Realität ist.

Die jungen Leser haben die Verlags-Vorurteile Lügen gestraft. Das Buch – empfohlen für Leser ab 11 Jahre – war ruckzuck ausverkauft. Auch diese sehr jungen Leser wollen wissen, was da vorgeht in der Welt um sie herum, warum Eltern schweigen, Lehrer verzweifeln und die Altersgenossen ausflippen. Sie wollen nicht eingelullt werden mit immer wieder denselben albernen Geschichten, in denen sie sich nicht wiederfinden. Es gibt mehr Julians, als es sich viele Buchverlage träumen lassen.

Petra Kasch „Verräter verdienen keine Chance”, Ravensburger Buchverlag 2007, 5,95

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