Eigentlich ist Verena Zeltners Buch โ€žKornblumenkinderโ€œ eher ein Jugendbuch, so ein richtiges. Fรผr Mรคdchen, die einfach gern hin und weg sind von wirklich schรถnen, romantischen Liebesgeschichten. Manche Autorinnen und Autoren fรผllen damit ja dicke Bรผcher. Bei Verena Zeltner aber kommen eigentlich noch zwei Geschichten extra dazu. Eine davon fรผhrt in die Finsternisse der DDR-Zeit, als tausende Menschen aus den Grenzgebieten rabiat umgesiedelt wurden.

Das gehรถrt zu den eher unbekannteren Kapiteln aus der Geschichte der DDR: die Umsiedlung von schรคtzungsweise 11.000 bis 12.000 Menschen aus dem Grenzgebiet der DDR in den Jahren 1952 und 1961. 1961 war einer der Tarnnamen dieser von den staatlichen Sicherheitsorganen durchgefรผhrten Kampagne โ€œAktion Kornblumeโ€. Deswegen hat das Buch eher nichts mit den Blumenkindern von 1968 zu tun, auch wenn ganz viel Liebe drin vorkommt. Im Grunde sogar drei Liebesgeschichten in drei Generationen. Die auch erst einmal erzรคhlt werden mรผssen, denn das Problem der รคlteren Generationen ist โ€“ ihr Schweigen.

Wenn aber รผber die Verletzungen der Kindheit nicht gesprochen wird, kommt meistens nichts Gescheites dabei heraus. Im Gegenteil: alte Verletzungen schmerzen weiter, tauchen als vรถllig unerwartete Aggression im Verhalten der Kinder wieder auf. Das Leben der Kinder ist von Irritationen รผberschattet und sie versuchen sich selbst wieder auf unberechenbare Weise gegen die schweigende รœbermรคchtigkeit der Alten zu wehren.

Am Ende ist es eher der unerwartete Krankenhausaufenthalt des GroรŸvaters, der seine Enkelin Julia auf die Spur seiner Lebensgeschichte bringt. Nicht ganz zufรคllig, wie sie spรคter feststellen darf. Denn den Opa hat tatsรคchlich schon so ein Gedanke umgetrieben, die alte Geschichte zu erzรคhlen, wie seine Familie bei Nacht und Nebel und ziemlich rรผcksichtslos aus dem thรผringischen Grenzgebiet und in ein heruntergekommenes Haus in Leipzig verfrachtet wurde. Ohne jegliche Erklรคrung, aber mit Androhung von drakonischen Strafen, wenn die Betroffenen je darรผber reden wรผrden. Dass die Stasi gleichzeitig ringsum ihre berรผchtigten Zersetzungsmethoden anwendete, hat die frรผhe Kindheit des musikalisch talentierten GroรŸvaters zur Hรถlle gemacht.

Man versteht schon, warum er sich schwer tat, an dieser alten Geschichte zu rรผhren โ€“ und wie froh er am Ende ist, dass seine Enkelin einfach neugierig ist und alles wissen will, dabei auch auf herrliche Art fordernd ist, denn mit diesem ganzen Schweigen und dem Nicht-drรผber-Reden kann und will sie nicht umgehen. Dabei ist nicht einmal der GroรŸvater derjenige, dem sie das รผbel nimmt, sondern ihr eigener Vater, der mit seiner vรถllig irrationalen Abneigung gegen Auslรคnder ausgerechnet auch noch ihrer ersten groรŸen Liebe in die Quere kommt.

So wรผnscht man sich Kinder und Enkelkinder: voller Neugier aufs Leben und herausfordernd, wenn es um ehrliche menschliche Haltungen geht. Und da lรคsst Julia auch keine faulen Ausreden von wegen โ€œzu viel Arbeitโ€ gelten. Man merkt aber auch, dass die 13-Jรคhrige ihr Selbstvertrauen auch daraus gewinnt, dass sie ermutigende und starke GroรŸeltern hat. Was ja nicht in allen Familien gegeben ist. Es gibt viel zu viele Familien, da schweigen alle Generationen รผber die Vergangenheit, da wird gar nichts geklรคrt, aber jede Menge schwadroniert. Da stinkt und qualmt es unter der Decke, dass man sich am Ende nicht wundern muss, dass auch die Enkel verbiestert, kommunikationsunfรคhig und aggressiv werden.

Deswegen wird Julias Sommergeschichte auch keine tragische, sondern eine voller Entdeckungen, รœberraschungen und Erfahrungen, wie stark sie sein kann, wenn sie sich auch die schlechte Laune ihres Vaters nicht gefallen lรคsst. Dabei entdeckt sie auch, dass die Traumata der untergegangenen DDR gar nicht so einzigartig sind, wie hierzulande gern getan wird. Denn die Geschichte ihres Freundes Andri macht sie auch mit den Ereignissen im Kosovo bekannt, die noch gar nicht so weit zurรผckliegen und ebenfalls mit der Vertreibung tausender Menschen endeten. Nur dass die Kosovaren nicht einfach durch das Geschenk einer โ€œdeutschen Einheitโ€ gerettet wurden.

So verweben sich die Motive der รคlteren und der jรผngeren Vertreibung mit den Dissonanzen der heutigen (Dresdner) Gegenwart. Auch wenn Julia und ihr GroรŸvater sich in Dresden tatsรคchlich wohlfรผhlen. Sie lieben ihre Heimatstadt. Und sie merken, wie wichtig es ist, den alten Geschichten nachzugehen und die offen gebliebenen Fragen zu klรคren โ€“ und zwar vor allem fรผr die ร„lteren. Die jungen Leute kรถnnen damit meist viel unbeschwerter umgehen. Und Julia entdeckt auf diese Weise auch ihre Eltern und GroรŸeltern neu. Ein riesiger Glรผcksfall eigentlich. Und ein paar richtige Kornblumen kommen auch drin vor. Denn eigentlich geht es ja um Julias groรŸe Liebe.

Verena Zeltner โ€œKornblumenkinderโ€œ, KLAK Verlag, Berlin 2015, 14,90 Euro

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