Beim Durchblättern des Bildbandes "Berlin in einer Hundenacht" kommt man des öfteren ins Grübeln und fragt sich: Welche Geschichte steckt dahinter? Liefen diese vom Leben gezeichneten Gestalten der Fotografin einfach so vor die Linse? Immerhin ist es ja nicht das Berlin, das die DDR-Bürger aus ihren Medien kannten. - Gundula Schulze Eldowy hat tatsächlich die Geschichten hinter ihren Bildern erzählt.

Berliner Geschichten nennt sie sie im Untertitel. Und Berliner Geschichten sind es anfangs auch. Geschichten aus jener Zeit, als die 18jährige Thüringerin versuchte, in Berlin Fuß zu fassen und in mehreren teils alptraumhaften Wohnungen und Wohnecken versuchte, ihr Leben als angehende Fotografin zu organisieren. Die Wohnungen lagen meist im Umkreis des Alexanderplatzes, in jenen Restbeständen der alten Bebauung, die nach der Eroberung Berlins noch einigermaßen intakt gewesen waren. Das Wort Restbestände trifft auch auf die Gestalten zu, denen die junge Frau am Alex und bei einem recht dramatischen Intermezzo am Prenzlauer Berg begegnete.

Darunter die hartnäckigen Überlebenden des alten Berlins, die sich sträubten, fortzuziehen und in teilweise ruinösen Häusern weiterlebten, Wand an Wand mit den meist jungen Neuankömmlingen, die wie das Mädchen aus Thüringen in Berlin den Ort suchten (und oft auch fanden), an dem ein selbstgewähltes Leben möglich war.

Dass sie dabei nicht nur in die vom Verfall gezeichneten alten Wohnquartiere zogen, sondern dort auch Menschen begegneten, die so gar nicht zum bejubelten Bild des “sozialistischen Menschen” passten, war fast zwangsläufig. Nicht so zwangsläufig war die Aufgeschlossenheit der angehenden Fotografin für das Leben und die Schicksale der Menschen, die sie traf. Viele darunter genau das, was man so landläufig als verkrachte Existenz betrachtet. Mit etlichen hatte die Autorin recht berührende, manchmal heftige und zuweilen auch beängstigende Erlebnisse.

Sie erzählt trotzdem darüber – mit viel Neugier und Verständnis für diese Lebenswege. Auch mit viel Poesie. Und mit wachem Blick für das, was sich da zusammengebraut hat im Land. Ausweichen kann sie dem nicht. Eines Tages steht auch bei ihr die Stasi nicht vor der Tür, sondern in der Wohnung. Das Schloss ist einfach ausgewechselt und mit einem dubiosen Vorwand wird sie vorgeladen zum Gespräch. Und weil der Geheimdienstapparat nie mit offenen Karten spielte, erfährt sie auch nicht, was man wirklich von ihr wollte. Sie reimt es sich trotzdem zusammen. Und ahnt, das sie haarscharf einem ganz bösen Schicksal entkommen ist.

Und das ihr, die sie doch diese drängende Sehnsucht nach Freiheit und Abenteuer hat. Eine Sehnsucht, die sie auf einer Reise nach Polen auslebt – einer Reise, kurz bevor die DDR ihre Grenzen nach Polen schließt. Eine Sehnsucht aber auch, die ihr Leben nach 1990 komplett verändert hat.

Jetzt beginnt man zu ahnen, warum dieses Berlin, das sie von 1977 bis 1990 als Fotografin so fasziniert hat, sie nicht wirklich mehr reizt. Was nicht nur mit Berlin zu tun hat. Das erfährt man später aus einem Brief an einen in Peru zurückgebliebenen Freund. Denn heute lebt Gundula Schulze Eldowy zwischen den Welten – auf Reisen zwischen Peru und Berlin und den anderen Orten auf Erden, an denen sie etwas von dem findet, was für sie ein Teil ihres Lebens ist.

Zwischen den Berlin-Geschichten und dem Peru-Teil ist ein Kapitel eingeklinkt, in dem sie den Leser mitnimmt beim Suchen nach diesem Ureigensten, was das Leben ist – oder sein könnte. Es handelt in Braunsdorf, wo sie dem Alten Schweden begegnet, der so natürlich nicht heißt, sie aber mit seiner Erzählfreude berauscht und neugierig macht auf das, was hinter diesen wilden Geschichten von Indianern, Kosaken und Captain Cook steckt. Sie erfährt es – und entdeckt dabei nicht nur den genauso lebenshungrigen Menschen hinter der bunten Fassade, sie lernt auch die Welt der Braunsdorfer kennen, ihre Nöte und ihr Schweigen. Denn das, was man oberflächlich sieht, ist nicht die Wahrheit. Die Wirklichkeit nur in Teilen. Ein Stück der Wirklichkeit wird sichtbar, als sie mit den Männern des Dorfes in die Gummifabrik fährt, wo sie unter prähistorischen Bedingungen arbeiten.

Und als sie vom Selbstmord des Mannes erfährt, der den Getränkestützpunkt im Dorf betrieb, ahnt sie, wieviel in diesem Dorf nicht gesagt wird. Und damit auch, welche Faszination nun ausgerechnet der Außenseiter Alter Schwede auf die Männer im Dorf ausübt mit seinem Geschichtenfuror und seiner Unabhängigkeit. Doch nicht nur die DDR hat die Arbeitenden zu Rädchen im Getriebe degradiert. Das kann eine, die seit 1990 in der weiten Welt unterwegs war, durchaus mit Recht sagen und schreiben. Wenn sie aus dem weiten Südamerika zurückkehrt nach Deutschland, begegnet sie immer wieder aufs neue der verbissenen Jagd nach dem Geld und der Erfüllung falscher Träume. Denn die meisten Dinge, denen Menschen nachjagen und für die sie sich oft ein Leben lang verschulden, haben mit ihren eigenen Wünschen und Träumen nichts zu tun.

Sie leben nur die eine Hälfte ihres Lebens aus – meistens die sachliche, nüchterne, männliche. Diszipliniert, flexibel, anpassungsfähig bis zum Selbstverlust.

Das Finale des Buches wird sehr philosophisch. Und wenn man akzeptiert, dass jeder Mensch die Lösung nur für sich allein finden kann, dann versteht man diese Rigorosität, die Gundula Schulze Eldowy auch in ihrer Kunst auslebt. Auch wenn sie zwischen den Welten lebt. Vielleicht sogar zwischen den Welten leben muss, denn Deutschland ist kein Land, in dem tatsächlich Rückzugsräume entstehen. Das Primat des Gewinns gilt überall, selbst im letzten Dorf, wo Dorfschulze und Klempnermeister gemeinsam schreien “Wir brauchen eine Autobahn!”

Könnte man ja sagen: Wenn’s euch glücklich macht … – Aber das ist ja nicht wirklich der Maßstab. Es geht um Standorte und Wettbewerbsvorteile, Effizienz und Hoffnungen auf obskure Investoren.

Alle konkurrieren gegeneinander, jeder fühlt sich benachteiligt. Und wo bleibt das Glück? Das eigene Leben? – Etwas flapsig schreibt die Autorin davon, dass jeder dritte Deutsche eigentlich in der Klapsmühle steckt. Und wären alle die psychischen Krankheiten von der Depression bis zum Burn-out-Syndrom ein Grund, Menschen in die Psychiatrie zu stecken, wäre es auch so. Und alljährlich melden die Krankenkassen höhere Fallzahlen. Was logisch ist: Wo das Grundverständnis für ein menschliches, ausgefülltes Leben fehlt, kann der Mensch nicht unbeschadet bleiben.

Es ist also ein Buch voller Geschichten für Leute, die wissen, wie wertvoll Stunden der Ruhe und Besinnung sind, Stunden, die ganz sich selbst und den Lieben gehören, in denen das Gerenne und Geheule da draußen keine Rolle spielen. Denn das vergisst man so leicht: Man lebt nicht für all diesen blendenden Schnickschnack da draußen. Man lebt ein kurzes, einmaliges Leben – und wer sich selbst darin immer wieder verleugnet, der leidet natürlich, der fürchtet sich am Ende auch vor allem, was sich da anmaßt, unangepasst und rebellisch einfach anders zu sein.

Wie diese Fotografin zwischen den Welten.

Gundula Schulze Eldowy “Am fortgewehten Ort”, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2011, 24,90 Euro

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