In vielerlei Hinsicht ist Erich Loest in den letzten Jahren zurückgekehrt. In seine Heimatstadt Leipzig, zu seinen Lesern im Osten, selbst zu seinem einstigen Ostverlag, dem Mitteldeutschen, der im Februar einen Großteil seines Werkes in Vertrieb nahm. Ein bisschen bitter für den Leipziger Plöttner Verlag, der das kurz zuvor so im Programm hatte. Doch dafür hat der jetzt ein fast 500 Seiten dickes Loest-Lesebuch im Programm.

Am Dienstag, 3. April, war Buchpremiere in der Moritzbastei. Mit Autor und Herausgebern. Die sind keine Unbekannten im Fall Loest: Michael Hametner und Regine Möbius beschäftigen sich schon seit Jahren mit dem Werk des heute 86-Jährigen, das mittlerweile über 50 Bücher umfasst. Das schaffen nicht viele Autoren. Schon gar nicht die Flitzpiepen, die alle Nase lang über die Schwierigkeiten des Schreibens jammern. Sollen sie doch in den Wald gehen, hat Loest in einem seiner schönen eindeutigen Interviews gesagt, das im Februar 2011 im “Tagesspiegel” erschien.

Nicht ohne Grund war es Loest, der 1980 mit “Swallow, mein wackerer Mustang” den bis dahin verpönten Karl May in der DDR wieder ins Gespräch brachte. Denn eines haben beide sächsischen Autoren gemein: die Lust am Schreiben. Ausgelebt hat sie freilich jeder auf seine Weise. May mit der phantasievollen Flucht in erdachte Abenteuer. Loest mit Romanen, in denen er eigentlich genau das tat, was sich einst die Erfinder des “Bitterfelder Weges” und des “sozialistischen Realismus” ausgedacht hatten: Er schrieb über das reale Land, in dem er lebte, dessen Lebens- und Arbeitsbedingungen. Er scheute sich auch nie, die viel gepriesene “Arbeiterklasse” und ihre Arbeit darzustellen. Er tat das, was in der DDR schnurstracks in den Knast führte.Denn für den “sozialistischen Realismus” galt dasselbe wie für die “Partei neuen Typus” – sie waren beide nie das, als was sie verkauft wurden. Das bekam Loest 1957 zu spüren, als er wegen “konterrevolutionärer Gruppenbildung” verhaftet und zu siebeneinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Er hatte die Entstalinisierung als Chance begriffen für die DDR und ihre “führende Partei”, endlich Reformen einzuleiten und den Stalinismus hinter sich zu lassen. Pustekuchen war’s. Die da an den Schalthebeln saßen, wollten alles andere, nur kein Tauwetter und keine Reformen. Den Mut würde erst 30 Jahre später ein Mann namens Gorbatschow haben.

Das Besondere an Loest: Er ließ sich auch von den sieben Jahren in Bautzen nicht zermürben und entmutigen. Und er blieb da und schrieb wieder Bücher über dieses Land, die erstaunlicherweise sogar erschienen. Bücher wie das 1978 erschienene “Es geht seinen Gang”, in dem er mit seiner detailreichen und realistischen Erzählweise das wohl entlarvendste Buch über das (Schein-)Leben in der DDR vorlegte. Nicht “Schein” als falsches Leben oder nur scheinbares: Es war durchaus real. Doch gerade aus der zeitlichen Entfernung verblüfft, wie genau Loest die Chamäleon-Verhaltensweisen seiner Protagonisten schildert, wie er das Land schildert in seiner grundlegenden Scheinheiligkeit, die jeder lebte, der darin ein Pöstchen haben wollte. Die alten Ideale wurden zwar wiedergekäut, längst zur Phrase verkommen, aber hinter den Phrasen wurde anders gelebt, gehandelt und gesprochen.

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Natürlich war Loest nicht der Einzige, der sein Land so genau betrachtete. Seine Bücher gehören neben die Bücher eines Werner Bräunig, einer Franziska Reimann oder auch Neutschs “Spur der Steine”. Man könnte neben die von Faber und Faber herausgegebene DDR-Bibliothek eine zweite setzen. Und sie würde zeigen, wie genau Autoren wie Loest ihr Land beschrieben haben, dessen Piefigkeit, Provinzialität und Zerrissenheit.

Zehn Bücher haben Möbius und Hametner ausgewählt, um dem Leser einen wesentlichen Überblick über Loests Werk zu verschaffen – von “Jungen die übrig blieben” (1950) bis zu “Sommergewitter” (2005). “Löwenstadt” (2009) steht zwar am Ende, ist aber eigentlich der schon 1984 erschienene Roman “Völkerschlachtdenkmal”, den Loest um ein Kapitel zur Friedlichen Revolution erweitert hat. Schon mit diesen zehn Titeln hat sich Loest als Chronist seiner Zeit kenntlich gemacht. Ist jetzt zwar gemein, diese Wendung hier zu verwenden. Auch die wurde in der DDR-Literaturpolitik mehr als genug missbraucht. Nur: Welche Worte verwendet man dann? – Denn gerade bei Loest wird ja deutlich, welche Art Literatur entsteht, wenn einer das, was andere nur als Phrasen benutzen, ernst meint. Wenn künftige Historiker einmal anfangen, die DDR aufzuarbeiten als das, was sie war, werden sie gut beraten sein, mal bei Loest hineinzulesen. So detailtreu hat kaum ein anderer das Leben in diesem Land beschrieben.

So ernsthaft übrigens auch nicht. Selbst in seiner Zeit im Westen behielt Loest Kontakt in seine Heimatstadt, verfolgte die Entwicklungen hier mit der Neugier des Chronisten. Er hat es nicht nötig wie sein “Held” Hans-Georg Haas aus “Zwiebelmuster”, sich abenteuerliche Geschichten in exotischen Ländern auszudenken. Loest zeigt, dass das Erzählenswerte tagtäglich stattfindet. Was ihn auch angenehm von einem Großteil der (west-)deutschen Literatur-Schickeria unterscheidet, die das simple, alltägliche Leben der Menschen keineswegs für einen akzeptablen Stoff zum Erzählen hält. Da sinniert man lieber ins Übersteigerte, Gedankentiefe. Freud lässt grüßen.Loests Bücher lassen sich auch noch nach Jahrzehnten lesen – die handelnden Personen sind nicht nur stimmig, sie sind einem – was ja eigenartig ist – auch noch vertraut. Der kleine Funktionärskarrierist genauso wie der dienstgeile Grenzoffizier, der ratlose junge Bereitschaftspolizist genauso wie der Ingenieur, für den die Leipziger Beat-Demo noch immer eine Richtmarke fürs eigene Leben ist und der einfach keine Lust darauf hat, Macht über andere Leute zu bekommen.

Die Personage – und das zeigen ja auch Loests Romane aus den 1980er Jahren – ist verpflanzbar. So anders war das Leben und Scheinen westwärts der Grenze nicht. Und das herrliche Gedankenspiel, der DDR einfach mal ein paar zusätzliche Devisen zu verschaffen, indem man zwei NVA-Divisionen an die Bundeswehr vermietet, ist so witzig und ernüchternd, dass eigentlich nicht viel fehlt zu der Frage: Wie viel Schein und falsches Leben ist eigentlich immer noch? Trotz “Wende” und hunderten Sonntagsreden seither?

Möbius und Hametner geben vor jedem Kapitel eine kurze Einführung in die Entstehungsgeschichte des jeweiligen Buches (und da und dort auch zu den Folgen für Loests Leben), dazu eine knappe Inhaltszusammenfassung des jeweiligen Titels. Denn natürlich passen nicht zehn Loest-Romane in ein Lesebuch, nur einige markante Szenen und Kapitel. Aber auch die zeigen, wie stringent Loest über 60 Jahre lang schreibt, beobachtet, aufzeichnet. Hier hat einer aus dem Lebensstoff, der ihm begegnete, Literatur gemacht. Und zwar solche ohne Gänsefüßchen, ordentliches Lesebrot. Der Vergleich mit Fallada liegt nah und ist gerade seit der Neuedition Falladas noch augenfälliger.

Und jetzt können auch noch die Literaturprofessoren versuchen, diesen Mann irgendwo einzuordnen. In die literarischen Moden der letzten 60 Jahre passt er nirgendwo. Und das ist gut. Und jedem, der sich vor dem ganzen Mammutwerk noch scheut, kann man das Lesebuch natürlich empfehlen. Als vorsichtigen Einstieg. Nicht nur in Loests Schreiben, sondern auch in den Stoff, der ja bekanntlich kein heldenhafter und kein exotischer ist, sondern einer aus den Mühen der Ebene. Die so eben nicht ist, wie es immer scheint, wenn alle zusammen begeistert losrennen: Hurra! Eine neue Welt! – Nach 40 Jahren sieht auch eine neue Welt erstaunlich schäbig und uneben aus.

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Das halbvolle Glas
Regine Möbius; Michael Hametner, Plöttner Verlag 2012, 16,00 Euro

Und noch etwas Schönes passiert bei diesem Appetit-Lesen: Man merkt, wie dieser ganze erstaunliche Herbst 1989 in 40 Jahren gewachsen ist. In Leipzig. Und die ganze Zeit hat Loest über dieses Wachsen geschrieben, ohne wissen zu können, was 1989 daraus werden würde. Er brauchte im Nachhinein nichts umzuschreiben (auch das “Völkerschlachtdenkmal” eigentlich nicht), alles passt. Und der späte Leser fragt sich eher: Warum haben die da nicht schon früher gemerkt, was 1989 kommen würde?

Aber so ist das mit Zeitgenossen: Sie sehen zwar, was passiert, aber sie ahnen nicht einmal, was draus werden wird. Die Logik der Geschichte zeigt sich immer erst im Nachhinein.

Das Loest-Interview im Tagesspiegel: www.tagesspiegel.de (http://www.tagesspiegel.de/zeitung/erich-loest-ich-haette-ihm-eine-scheuern-koennen/3859792.html)

www.ploettner-verlag.de

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