Günter Müller versteht es zu reisen. Er fährt nach Naumburg mit der Bahn. Immerhin hat die Stadt an der Saale sogar einen ICE-Bahnhof. 2002 bis 2006 wurde er deshalb auch aufwendig saniert. Bahnhöfe sind, wenn man sie gut behandelt, architektonische Kleinode. Und Naumburg ist eine Stadt, für die sich der Kurzausflug lohnt - wegen Uta, Ekkehard und Wenzel zum Beispiel.

Wegen dem Dom, wo die schöne Uta neben ihrem Ekkehard steht, sowieso und auch dem Markt, der wieder so ein Schmuckstück in mitteldeutschen Landen ist, wo üppige Giebel und hohe Dachböden noch zeigen, dass auch diese Stadt mal reich war und lange Zeit erfolgreich als Messeplatz mithielt gegen das gar nicht so ferne Leipzig. Was nur im Nachhinein wie ein verlorenes Rennen aussieht, denn der Wirkungskreis von Messen hängt immer – freches Wort an der Stelle – vom Globalisierungsgrad der aktuellen Wirtschaft ab. Und bis ins 17. Jahrhundert waren Wirtschaftskreisläufe noch vorwiegend regional. Die Stapelplätze reihten sich an den großen Handelsstraßen wie Perlen auf. Was Städte wie Görlitz und Bautzen ostwärts von Leipzig waren an der Via Regia, das waren westwärts von Leipzig Naumburg und Erfurt.

In Naumburg ist der einstige Reichtum in der Häuserpracht noch zu sehen. Er vermengt sich mit der Atmosphäre der alten Bischofsstadt, die Naumburg seit 1028 auch war. Im Stadtmuseum in der “Hohen Lilie” kann man sogar am Beispiel eines einzigen Hauses ungefähr 700 Jahre Baugeschichte begutachten. Die Naumburger waren nicht so fleißig mit dem Abreißen und Neubauen wie die Leipziger. Selbst eines ihrer einst fünf Stadttore haben sie erhalten, das Marientor, an dem die Funktionsweise so eines Stadttores noch besichtigt werden kann. Im Anbau ist gleich die Stadtinformation. Da kann nichts schief gehen.

Und wenn man dann an der Marienmauer (oder sagt man in Naumburg auf der Marienmauer?) entlang zum Holzmarkt läuft, bekommt man natürlich kein Holz. Hier wird auch kein Holz mehr angelandet, das die Saale heruntergeschwommen kam. Dafür sitzt ein alter Bekannter hier: Friedrich Nietzsche, dessen Grab im nahen Röcken akut bedroht ist vom Tagebau. In Naumburg wuchs der Philosoph mit dem üppigen Schnauzbart auf, besuchte das Domgymnasium, ging später in das nahe Schulpforta. 1889 kam er dann zurück nach seiner Karriere in Basel und verbrachte die nächsten Jahre als Pflegefall in Naumburg und später in Weimar bei seiner Mutter und dann bei seiner Schwester.
“Die Wirkung seiner Texte hält bis heute an, besonders umstritten sind seine Konzepte des ‘Übermenschen’ und des ‘Willens zur Macht’, die vom NS-Regime leicht missbraucht werden konnten”, heißt es in einem der kleinen Randtexte, in denen Persönlichkeiten und Besonderheiten in Naumburg auch in diesem Heft hervorgehoben werden.

Ein kleines Foto zeigt das Nietzsche-Denkmal von Heinrich Apel, das heute auf dem Holzmarkt steht. Ein kleines Mädchen scheint den lässig dasitzenden Philosophen herauszufordern.

Was nicht da steht, dafür etwas weiter hinten unterm Wander-Punkt Nr. 21 “Nietzsche-Haus und Nietzsche-Dokumentationszentrum”, ist die zwielichtige Rolle, die Nietzsches Schwester Elisabeth nicht nur bei der Begründung des Nietzsche-Kultes im Kaiserreich und später unter Adolf Hitler spielte, sondern auch bei der Fälschung von Nietzsches Schriften und Briefen vor der Veröffentlichung. Und die schlichte Wahrheit ist: Es gibt keine Wirkung von Nietzsche Texten – sondern nur die üblichen Redundanzen der immer gleichen Allgemeinplätze. Die meisten Leute, die über Nietzsche reden, haben nicht ein Buch von ihm gelesen. Deswegen hier auch ein nicht ganz beiläufiger Tipp: Die Veranstaltungen des Nietzsche-Hauses in Naumburg sollte man wahrnehmen, wenn man sich die Gedankenwelt des Mannes erschließen will.

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“Gott ist tot”, stammt übrigens auch von ihm. Und Vieles, was man ihm als quasi-politisches Programm unterschiebt, ist beim genaueren Lesen eine unerbittliche und fast deprimierende Analyse der Zeit, in der er lebte. Wenn er sich über das “Jenseits von Gut und Böse” und überhaupt Moral Gedanken machte, dann hielt er einer vom Nationalstolz und Größenwahn besessenen Zeit auch den Spiegel vor. Wer – wie Nietzsche – nach der sozialen Herkunft von moralischen Maßstäben fragt, der gehört nicht auf die Nazi-Seite-Geschichte. Nicht wirklich. Nur reden auch die meisten Professores lieber der engstirnigen Elisabeth Förster-Nietzsche nach, als sich wie das kleine Mädchen aus Bronze vor Nietzsche hinzustellen und zu fragen. Man könnte was lernen bei so einem Besuch in Naumburg, bei dem man auch Max Klinger wiederbegegnet, der im nahen Großjena seine Ruhe suchte und fand.

Der Dom nimmt gleich mehrere Kapitel ein in diesem Heft. Einkehren und verschnaufen kann man auf Naumburgs ältester Steinstraße, dem Steinweg, oder am Markt im Ratskeller oder im Kanzlei-Café. Ein kleiner Seitentext erklärt, warum das Hussiten-Kirschblütenfest ein kleiner Schwindel ist. Dafür ein schöner. Markt- und Stadtfeste kann ja jeder feiern.

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Naumburg an einem Tag
Günter Müller, Lehmstedt Verlag 2012, 4,95 Euro

Viele Kirchen haben wieder in das Bändchen gefunden. Der Ein-Tages-Rundgang umfasst im wesentlichen das alte Naumburg innerhalb des ehemaligen Mauerringes. Das Schöne ist: Von hier ist es zu einigen berühmten Ausflugszielen nicht weit – zum Max-Klinger-Haus in Großjena etwa, nach Schulpforta, nach Bad Kösen oder zur Rudelsburg. Alles rechts und links der Saale, die hier auch noch mit Weinbergen gespickt ist.

http://mv-naumburg.de/nietzschehaus

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