Es sind kleine Schatzkästlein, die der Leipziger Geschichtsverein jedes Jahr veröffentlicht, etliche Jahre als Almanach, seit Kurzem als Jahrbuch. Ein Jahrbuch, das gar nicht dick genug sein könnte. Denn hier tauchen die Themen auf, die in der Leipziger Geschichtsschreibung bislang fehlen. Denn dass Thietmar von Merseburg Leipzig ("urbs libzi") für das Jahr 1015 erstmals schriftlich erwähnt hat, das hat sich mittlerweile herumgesprochen, das weiß nun "jeder".

So wie jeder die Heldentaten des Hieronymus Lotter kennt, die Napoleon-Niederlage von 1813 und Goethes kleinen Ausrutscher in Auerbachs Keller. Aber 1.000 Jahre sind eine mächtig lange Zeit. Selbst 100 Jahre sind es. Die Leipziger 100jährigen von heute könnten es bezeugen, wenn doch nur alles im Kopf gespeichert wäre, was da passiert ist.

Aber schon der Blick in alte Ratsakten zeigt: Was der Mensch nicht aufschreibt, geht verloren. Ohne die Schreiber, die selbst die langweiligste Sitzung des Engen, des Sitzenden oder des gesamten Leipziger Rates bis 1831 protokollierten, würden ganze Forschungswelten nicht mehr existieren. Es gibt große deutsche Städte, die haben Protokolle bis ins 13. oder 15. Jahrhundert hinein. In Leipzig begann die Protokollierung der Sitzungen jener Herren, die die Stadt regierten und am Laufen hielten, vielleicht auch schon früh. Systematisch wurde das aber erst 1627, stellt Beate Kusche fest, die sich in diesem Jahrbuch einmal intensiv mit den alten Leipziger Ratsprotokollen beschäftigt. Wer will, erfährt hier eine Menge über Leipziger Selbstverwaltung zwischen 1627 und 1831.

Angewiesen hatte die systematische Protokollierung wohl Kurfürst Johann Georg I. – der Grund ist einem irgendwie vertraut: Es war der Krieg. Der später so benannte “Dreißigjährige”, der alle Kriegsteilnehmer, Verbündete und Betroffene von Anfang an in Geldnöte trieb. Eigentlich wie jeder Krieg bis heute. Nur konnten die Fürsten des 17. Jahrhunderts die Kriegskosten nicht einfach in immer mehr aufgeblähten Schuldenhaushalten verstecken. Zwar wurde Sachsen recht spät von den direkten Kriegsfolgen erreicht – doch sie waren dann genauso heftig. Leipzig war bis 1688 unter Zwangsverwaltung durch den Landesherrn. So lange brauchte es, um die städtischen Finanzen wieder in Ordnung zu bringen.Die Ratsprotokolle geben noch Forschergenerationen Material an die Hand, sich über die komplexen Aufgaben und Ämterverteilungen in einer Bürgerstadt des 17. und 18. Jahrhunderts zu informieren. Hier sind Krisenjahre sichtbar (mit einer dichten Folge von Beratungen, um die akuten Probleme in Griff zu bekommen), hier werden aber auch die Regierungsmechanismen der Stadt deutlich mit ihrer jahrhundertelang von reichen Kaufleuten und an der Universität ausgebildeten Juristen gebildeten Ratsherrschaft. Leipzig war – von der Seite des Rates, der seine Mitglieder selbst berief – über lange Zeit eine Stadt der Kaufleute und Gelehrten.

Womit man bei einem besonderen Aspekt wäre, den Cornelia Caroline Köhler beleuchtet und der für Leipzig ebenfalls typisch ist: dem Reichtum an gelehrten Frauen im 18. Jahrhundert. Die Namen von Luise Adelgunde Victoria Gottsched und Christiana Mariana Ziegler sind mittlerweile wieder etwas berühmter. Über Christiana Benedicta Naubert berichtete die L-IZ erst kürzlich.

Cornelia Caroline Köhler hat noch Namen von Dutzenden weiterer Frauen gesammelt, die zu ihrer Zeit durch eigene Arbeiten bekannt wurden, die Mitglied in Gelehrtenvereinigungen waren, eigene Salons unterhielten, forschten oder “nur” die Schriften ihrer Männer herausgaben. Fast alle stammen sie aus Familien Leipziger Gelehrter, manche wuchsen mit den großen Bibliotheken und Sammlungen ihrer Väter auf und führten sie fort bis zu dem Tag, an dem diese versteigert wurden.

An der Stelle berührt sich der Beitrag mit einem Beitrag, den Dietulf Sander über die Kunstsammlungen von Max und Paul Bleichert schrieb. Beide Kunstsammlungen wurden 1929 und 1931 versteigert und gingen Leipzig fast komplett verloren. Was Sander mit einige kritischen Worten begleitet – denn es sind zwar zwei bislang nicht so bekannte Fälle von Versteigerungen: Aber die Leipziger Bürgergeschichte ist voll von solchen Versteigerungen, bei denen einst wichtige und wertvolle Privatsammlungen in alle Winde zerstreut wurden. Die Gründung des Museums der bildenden Künste 1858 war auch ein Notanker – so schufen sich die Leipziger endlich einen Sammelort, der nicht gleich wieder in alle Winde zerstob, wenn der Besitzer starb.

Dass später die Nationalsozialisten das Bildermuseum regelrecht plündern würden in ihrer Wahnsinnsaktion “Entartete Kunst” ist bis heute spürbar. Wichtige Kunstwerke fehlen schmerzhaft im Bestand.

Eine kleine aber wichtige Fleißarbeit ist deshalb Robert Giesels Beitrag zu “Leipzigs nationalsozialistischen Oberbürgermeistern”, die zwar “nur” von 1937 bis 1945 regierten. Aber die Entmachtung Carl Friedrich Goerdelers gehört mit in diese Geschichte, in diese Zeit. Er war der letzte Oberbürgermeister in einer deutschen Großstadt, der nicht der NSdAP angehörte. Hitler hielt den konservativen Politiker bis 1935 als Reichskommissar für Preisüberwachung im Amt. Als Goerdeler Hitlers Wirtschaftspolitik kritisierte, war es mit der Gnade vorbei und Rudolf Haake kam zum Zug, der schon vorher daran gearbeitet hatte, erst das Amt des 3. Bürgermeisters abzuschaffen und dann sich selbst in die Position des 2. Bürgermeisters zu lancieren, eine Stellung, aus der heraus er Goerdeler immer wieder unter Druck bringen konnte.Haake hatte praktisch den Stadtrat hinter sich, der seit 1933 ein von der NSdAP dominierter Stadtrat war. Schon mit dem Aufziehen der Hakenkreuzfahne im März 1933 auf dem Turm des Neuen Rathauses hatte Haake gezeigt, welche Ziele er verfolgte. In den Folgejahren zeigte er sich als emsiger Antisemit und auch als Kunstfeind. Der Abbruch des Mendelssohn-Denkmals am Gewandhaus am 9. November 1936 kam nicht wirklich überraschend und auch nicht wirklich bei Nacht und Nebel. Wer die Geschichte nachlesen will, hier kann er sie finden.

Nebst all den anderen Intrigen, mit denen nicht nur Haake agierte, darin ein wirklich würdiger Gegenspieler zum sächsischen Gauleiter Mutschmann, der 1937 mit dem Kreisleiter der NSdAP Walter Dönicke versuchte, seine Marionette im Leipziger Rathaus zu platzieren. Was schon nach einem Jahr mit dem sang- und klanglosen Abgang Dönickes endete und einer neuen Amtszeit als kommissarischer OBM für Haake, der dann 1939 gegen den neu installierten Bruno Freyberg erneut versuchte zu intrigieren, diesmal aber kläglich scheiterte.

So bekommt der Leser drei wichtige Puzzle-Stücke für die noch längst nicht geschriebene Geschichte Leipzigs in der NS-Zeit, lernt drei der wichtigsten Akteure kennen. Hier könnte und sollte wohl auch weitergeforscht werden. Hier gehören auch die Unternehmer her, die die Stadt zu einer Hochburg der deutschen Rüstung machten. Hier gehören die Verleger her, die in Millionenstückzahlen das Propagandagut des “Dritten Reiches” produzierten. Ein wenig ist ja schon über die Architektur- und Baugeschichte in der NS-Zeit geschrieben worden.

Das finstere Kapitel “Arisierung” wird in einem Beitrag von Lore Liebscher kurz gestreift, die sich mit dem “Zionistischen Turn- und Sportverein Bar Kochba Leipzig (1919 – 1939)” beschäftigt.

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Leipziger Stadtgeschichte
Markus Cottin; Detlef Döring; Gerald Kolditz, Sax Verlag, 15,00 Euro

Aus einigen der im “Jahrbuch” dargestellten Forschungsthemen werden ganz bestimmt irgendwann Bücher, die der Stadtgeschichte ein neues komplettes Kapitel hinzufügen, die bisherige Geschichtsdarstellung da und dort auch ergänzen oder zu Neuinterpretationen zwingen. So fehlt auch noch das große Lesebuch zum Leipziger Vormärz, das zwar mit einigen Darstellungen zu Robert Blum schon gut besetzt ist. Aber etwas intensiver beschäftigt sich hier Sebastian Nickel mit der Rolle der Männergesangsvereine in der Zeit vor 1848/1849. Die Überschrift sagt eigentlich alles: “Auf, jagt sie von dannen, Despoten, Tyrannen!” Das Deutschland, das sich diese singenden Bürger wünschten, hat wirklich erstaunlich wenig mit dem zu tun, was die Nazis später draus machten.

Auch das “Jahrbuch 2011” ist ein Schatzkästchen für Leute, die die immer gleichen Allerweltsgeschichten über ihre Stadt Leipzig nicht mehr hören und lesen können – oder wollen.

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