Es ist ein Stoff, aus dem sich immer wieder was machen lässt, dieses Jahr 1989, von dem am Anfang noch keiner wissen konnte, was am Ende dabei herauskam. Ein Jahr, in dem ein ganzes Land ins Rutschen kam. Und wer aufmerksam war, spürte natürlich, wie es knirschte im Gebälk. Da passen jede Menge großer, dicker Romane rein. Norbert Marohn versucht mal eine ganz ungewöhnliche Perspektive: Er versucht es aus der Sicht der "Liebe unter Männern".

Am Ende ist der Leser zumindest ein wenig im Unklaren darüber, worum es geht. Um das eigentliche Homosexuellenmilieu eher nicht. Oder fangen da schon die Probleme jener Männer an, die Männer lieben? Die Differenzierungen, die auch dieses Milieu zersplittern? In bekennende Schwule, in Homosexuelle, die ihre Veranlagung auch öffentlich zeigen, in Stricher, die es nehmen, wie es kommt, in Männer, die ihre sexuelle Orientierung verbergen, so gut es geht? Und geht es eigentlich immer nur um Sex, auch wenn das bei Marohn augenscheinlich immer wieder eine Hauptrolle spielt und seine Protagonisten umtreibt, umtreibt an Orte, vor denen man normalerweise flieht, wo sich das Heimliche mit der Angst verbindet, auch noch zum Opfer von Gewalt zu werden?

Und dabei war Leipzig vor 1989 ganz bestimmt ein etwas toleranteres Pflaster als andere Orte in der DDR – Ausnahme wohl Berlin. Auch wenn die Spielfelder Hauptbahnhof, Park, ein Club namens “Blaurosa” ihre eigene Tristesse aufweisen.

Es geht auch nicht nur um das Jahr 1989. Der Schaden im Bauwerk DDR war ja viel früher schon angelegt. Dafür steht exemplarisch der bullige Harms Gebauer, der gleich im ersten Teil des Buches – “Späte Sonne” – die zentrale Rolle spielt als vierschrötiger Monteur, der auch mal kräftig zulangen kann, wenn es darum geht, seine Jungs zu beschützen. Mit 50 ist er aus dem Lehrerberuf ausgestiegen, nachdem ihm die ganze Gängelei in seinem Lieblingsberuf zu viel geworden war. In der speckigen Welt der Gasleitungsbauer erfüllt er sich seine Liebe zu jungen Männern, gibt sich abgebrüht und gelassen. Aber man merkt trotzdem, dass er irgendwie doch nach einer tragenden Partnerschaft sucht und dass seine Hoffnungen am Ende bitter enttäuscht werden.

Die Männer in diesem Buch reden zwar jede Menge über Partnerschaft, Vertrauen, Ehrlichkeit und Gefühle, mehr als andere Männer normalerweise, – aber keinem gelingt es wirklich, sich die Träume einer wie auch immer gearteten stabilen Partnerschaft zu erfüllen. Die Liebesabenteuer geraten immer wieder zur Frustration. Blender verunsichern die eh schon unsicheren Akteure. Die Treue hält “nur einen Sommer lang”.Mit seinem Erzählstil macht es Marohn den Lesern nicht leicht, die Handlung überhaupt in den Griff zu bekommen. Die Geschichte an der Gastrasse scheint Anfang der 1980er Jahre zu handeln, als die sowjetischen Parteichefs starben wie die Fliegen. Das flackert nur am Rande auf. Auch Harms Gebauers Lehrer-Vergangenheit, die er mitsamt seiner Bücher entsorgt hat. Jetzt ist er nur noch Buller für seine Mannschaft. Eine Mimikry, die deutlich macht, wie weit man abtauchen musste, wenn man der dauernden Nötigung und Indoktrination entgehen wollte.

Der Hauptteil des Buches handelt in jenem Jahr von Herbst 1988 bis zum Herbst 1989, “als das alles geschah”. Geändert hat sich in den Jahren davor scheinbar nichts. Es wird noch immer in heruntergekommen Baracken gearbeitet, einige der Helden dieses Buches erleben die Tristesse des Armeealltags mit all seiner täglich erneuerten Stupidität. Aber auch hier wird Männerliebe thematisiert.

Einer der Helden erlebt sein Coming Out. Und weil er bei der Stadtbezirksleitung der SED (SBL) arbeitet, bekommt man auch einen Einblick in die dort wachsende Frustration. Der Erste und der Zweite (Parteisekretär) scheinen noch mit glühender Besessenheit die alte Marschrichtung zu verteidigen, schikanieren mit ihrer Funktionärsmoral auch die eigenen Mitarbeiter. Aber man begegnet hier auch Paul Gebauer, dem Bruder von Harms, der längst gesundheitlich darunter leidet, wie sehr sich das, was er in diesem Haus erlebt, von seinen alten KPD-Idealen unterscheidet. Und Ruben, der Agitationsmann, macht nur noch “Dienst nach Vorschrift”, mit Herz oder gar Verstand ist er längst nicht mehr dabei. Sein Problem ist eher seine Suche nach der ersehnten Männerliebe.

Und Grodek, dem Redakteur der Betriebszeitung geht es keinen Deut besser. Über das, was er in den Werkhallen sieht und erlebt, darf er nicht schreiben, auch wenn eine Rettungsaktion für den Bienitz so am Rande wie ein Hoffnungszeichen ist: Auch diese Gesellschaft könnte lernfähig sein und bereit, ihre Verwüstungen in der Natur zu beseitigen.

Aber als Grodek im Sommer ’89 die Stimmung aufgreift und das fordert, was damals tatsächlich die Gesellschaft bewegte, nämlich eine öffentliche und ernsthafte Auseinandersetzung mit den Problemen dieser Gesellschaft, wird nicht nur sein Kommentar einkassiert, sondern auch schon mal der Termin für die “Aussprache” benannt. Aber die “Aussprache” findet nie statt. Stattdessen erscheint Grodeks Kommentar dann doch. Aber viel zu spät. Denn spätestens nach diesem 9. Oktober 1989 sind alle Messen gesungen.

Im letzten Teil des Buches – “Erbrochene Bilder” – verdichten sich dann die Schilderungen zu diesem anfangs beklemmenden und dann fast ins Hymnische umschlagenden Herbst ’89 in Leipzig. Marohn lässt seine Helden immer wieder auch mit den verschiedenen Montagsdemos um den Ring ziehen – von der am 2. Oktober, als die Nikolaikirche von Polizei abgeriegelt war, bis zu jenen Demonstrationen nach dem 9. November, als die Demos auf einmal von nationalistischen Tönen dominiert waren. Dazwischen flicht Marohn Zitate aus der damaligen Presse.Er versucht aber auch die Geschichte der Gebauers mit einzubauen und tut das mit Zitaten aus Joseph Roth und einem Buch von 1941, in dem die Phraseologie des NS-Reiches sichtbar wird. Was aber auch wieder korrespondiert mit Zitaten aus Lebensläufen Gebauers und Kriegsbriefen aus dem 1. Weltkrieg. Eine stille, praktisch unkommentierte Diskussion über Kollaboration, Mitläufertum, Angepasstheit schwingt mit.

Am Ende wohl zu viel Stoff, um ihn mit der verwendeten Collage-Technik übersichtlich zu verarbeiten. Fast wünscht man sich, Norbert Marohn hätte sich kurzzeitig in einen Erzähler wie Uwe Tellkamp verwandelt und den Stoff wesentlich stringenter und klassisch “sortiert” dargeboten. Nicht nur in den Zeiten springt man hin und her (was natürlich auch mit der Inkonsequenz des Jahres 1989 selbst zusammenhängt, das sei zugestanden). Man wechselt auch immer wieder zwischen Schauplätzen und Akteuren, als drehte hier jemand einen Film, der das Unfertige und Chaotische dieses Jahres suggestiv zeigen will. Vielleicht sogar aus konsequentem Widerspruch gegen das fast olympische Erzählen eines Tellkamp.

Aber man erzählt ja nicht nur für das Feuilleton. Man erzählt auch für Leser, die sich bei Tellkamp auch deshalb wohl fühlen, weil die Geschichte einen Fluss hat, wenn es auch ein eher breiter, gemächlicher Elbstrom ist. Aber 500 Seiten in einem eher fluiden Erzählen, bei dem dem nicht informierten Leser auch die wichtigen Orientierungsmarken fehlen, sind für diesen eher Arbeit und Verwirrung. Was schade ist. Der Stoff hätte was hergegeben. So wirkt er eher wie ein Fragment aus Fragmenten.

Was natürlich auch eine Sicht ist auf dieses 1989. Ein Autor, der sich einer Sinn-Stiftung konsequent verweigert und damit die Einsamkeit seiner Helden auch aus Lesersicht verstärkt. Jeder bleibt eine ratlose Monade, findet keine Antworten auf seine Fragen. Und selbst wenn diese Männer (und ein paar ebenso ratlose Frauen) dann doch mit scheinbarem Ernst über ihre Gefühle reden, scheint am Ende nur eines sicher: Sie kehren nicht zurück. Sie fliehen weiter vor Bindung und Gefühlen.

Was dann wohl auch wieder ein Kreis der Danteschen Hölle ist. Aus dem kein Entkommen ist, außer, man säuft sich Leber und Gehirn weg und erwartet auch von den nächsten oder übernächsten Tagen nichts mehr.

“Wie nie zuvor”, Norbert Marohn, Lychatz Verlag 2013, 22,95 Euro

www.lychatz.com

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