Jedes Buch aus der Reihe Sonar, mit der der Verlag Voland & Quist die Gegenwartsliteraturen Ost- und Südosteuropas erkundet, ist eine Entdeckung. Auch ein Aha-Erlebnis. Und eine freundliche Erinnerung daran, dass der deutsche Buchmarkt nach wie vor dreigeteilt ist - in eine Flut von Importen aus dem angelsächsischen Raum, Berge deutscher Selbstbefindlichkeiten - und den ganzen Rest. Zu dem dann irgendwo auch das ehemalige Jugoslawien gehört.

Eine Landschaft, die man aus deutscher Perspektive fast nur mit dem Krieg von 1991 bis 1995 in Verbindung bringt und all den ethnischen Konflikten der Folgejahre und der Gründung der diversen Teilrepubliken. Aber wie lang ist das eigentlich her? Und wie fern und fremd sind uns diese Menschen und Landschaften? Sind sie es überhaupt? – Es ist jedes Mal, als würde ein Vorhang weggezogen, wenn Voland & Quist ein weiteres Buch aus dem Reich der so fremden osteuropäischen Sprachen vorlegt. Das mag an der Auswahl liegen. Der junge Verlag, der sich anfangs um die blühende Spoken-Word-Szene in deutschen Landen kümmerte (und es auch heute noch tut), hat auch seinen eigenen Blick auf das, was er herüberholt aus den nur scheinbar fremden Literaturen.

Man sah es bei Edo Popovic, man sieht es bei Roman Simic: Wenn die Geschichten den Sprung aus dem Kroatischen ins Deutsche geschafft haben, wirken sie verblüffend vertraut. Nicht nur, weil Kroatien und der Osten Deutschlands den Versuch eines Sozialismus als gemeinsame Lebens- und Geschichtserfahrung haben – mit all den austauschbaren Bausteinen. Selbst die Gegenwart wirkt seltsam vertraut. Die Geschichten Roman Simics könnten auch irgendwo in Halle-Neustadt oder Leipzig-Grünau spielen. Die Helden könnten auch Männer und Frauen aus den hiesigen Umbrüchen sein. Auch wenn die Umbrüche anders heißen und etwas anders vonstatten gingen – als Friedliche Revolution (mit all ihrer Arglosigkeit) in Ostdeutschland, als blutiger Bürgerkrieg im zusammenstürzenden Jugoslawien.Für Roman Simi? und seine Helden war dieser Krieg, der 1991 begann wie eine fremde, völlig zusammenhanglose Radiomeldung, das Ende ihrer Jugend. Simic war 19, als der Kroatien-Krieg begann. In seinen Geschichten taucht er immer wieder auf – als großes Schweigen. In “Die Vögel des Diomedes” taucht einer der alten Kumpel aus Armeezeiten beim Erzähler der Geschichte wieder auf, und auch wieder unter. Selbst die Erinnerung an dieses Wiederauftauchen gehört schon wieder in tiefere Schichten der Zeit. Damals hatte der Held noch eine Frau, die ihm ein und alles war. Aber das Leben hat sie davongespült. Patchwork-Familie ist keine (ost-)deutsche Eigenart. Das moderne Leben, das die Menschen auf der Suche nach einem Auskommen und einem besseren Leben zu Nomaden macht, reißt die alten Familien auseinander, die jungen erst recht.

Vielleicht steckt ein gut Teil Roman Simi? in diesem Helden, vielleicht auch in den anderen Männern in diesen elf Kurzgeschichten, die teilweise so trocken und nüchtern daherkommen wie die “short stories” eines Charles Bukowski oder eines Raymond Carver. Zuweilen verzichtet Simi? auch wie Carver ganz auf Pointen. Was bei diesen Geschichten auch – wie in “Short Cuts” – wie eine Klammer wirkt: Sie wirken wie aus einem Kosmos, die Geschichten korrespondieren miteinander. Die Helden und Heldinnen sind nicht mehr jung. Das heißt: Der Leser wird auch vom üblichen Sex-Geflatter verschont und all dem Schmonz um die “große Liebe”. Die kommt auch drin vor – aber in der Rückblende.

Mehr zum Thema:

Junge Literatur aus Kroatien: Die erschöpften Menschen des Roman Simic
Kroatien, dieses kleine, langgestreckte Land …

Voland & Quist: Olja Savicevic sagt “Lebt wohl, Cowboys”
Ihrem Vater hat sie es zu verdanken …

Mitternachtsboogie: Die frühen Geschichten von Edo Popovic samt Zugabe
Nicht nur die Serben kommen zur Leipziger …

Und da sieht sie dann ganz anders aus. Die große Zeit, die der Held noch im Erleben als den Höhepunkt seines Lebens erinnern wollte, entpuppt sich aus der Distanz der 40-, 50-Jährigen als simpler Teil jenes Flusses, der das moderne Leben ist. Ein Fluss voller Strandgut, zufälliger Begegnungen, gescheiterter Partnerschaften, verpasster Chancen und einer fast wohltuenden Ruhe: Es war so. Man kann versuchen – wie es die Heldin in “Winterfrische” tut – an die Weggabelung zurückzukehren, an der eine Beziehung begann, auseinander zu gehen. In diesem Fall ist es ein Urlaubsbungalow am Meer, in dem alles auf seinen Höhepunkt zutrieb und einer innigen Begegnung in den Wellen – und gleichzeitig das Ende begann – mit den heulenden Sirenen des beginnenden Krieges.

Der Krieg ist auch in “Deserteure” präsent, auch wenn diese Geschichte ebenfalls viele Jahre nach dem Krieg in einem Nest in der Provinz spielt. Einem Nest, wie es auch irgendwo in der mitteldeutschen Pampa liegen könnte: Leben ist nur in der Urlaubssaison. Dann packen die Studenten, die zur Aushilfe da waren, ihre Sachen und desertieren wieder in die Großstadt. Und auch die jungen Leute aus dem Dorf fliehen, wenn es ihnen zu eng wird. Oder wenn diese Atmosphäre sie zu bedrängen versucht, in der es eigentlich egal ist, wie alt jemand ist – die Jungen benehmen sich so lethargisch wie die Alten. Man wartet nur noch und unterdrückt seine Gefühle des Verlassenseins. Bis sie sich – wie in dieser Geschichte – gewalttätig äußern. Auch eine Liebesgeschichte ist es, eine Art “Romeo und Julia auf dem Dorfe”, nur gründlich auf den Kopf gestellt: Liebende müssen die Starrköpfigkeit der Alten nicht mehr ertragen und erleiden. Sie setzen sich ins Auto und fahren davon.Die moderne, mobilere Zeit hat alle Provinzen erfasst, nicht nur die sächsische. Deswegen fehlt bei Roman Simi? auch das tragische Element. Es funktioniert nicht mehr in einer offenen Welt ohne die alten Mauern. Deswegen sind auch die beiden Geschichten über schwangere Heldinnen in diesem Band keineswegs tragisch. Obwohl die junge Malerin in “Füttere mich” durchaus nicht zufrieden ist mit dem Burschen, der ihr das Kind gemacht hat. Sie ist mitten darin, sich in Berlin eine eigene Existenz aufzubauen – lernt auch die rauen Kanten dieser Stadt kennen, aber selbst das schwierige Verhältnis zu ihren Eltern ändert nichts an ihrem beharrlichen Erkunden der Möglichkeiten. Krankheit und Trauer sind nicht die negative Seite unseres Lebens – sie gehören wie selbstverständlich dazu.

Und wenn dann der “Erzeuger” wie in “Telefonie” einfach mal sang- und klanglos irgendwo in der Wildnis verschwindet, löst sich die Welt trotzdem nicht auf. Die Heldin in dieser Geschichte muss sich nur neu orientieren und findet sich in einer schier unübersichtlichen Patchwork-Familie wieder. Und sie lernt die zwei Seiten des modernen Erfolges kennen: den sonnengebräunten erfolgreichen Verkäufer von Telefonverträgen im Hausflur, der sich nicht abweisen lässt, und seinen Schatten, abgehärmt und ausgelaugt auf der Bank im Park.

In “Also sprach Majakowski” ist es ein vielleicht gar nicht so verrückter Dichter, der den Helden daran erinnert, dass es vielleicht gar nicht die so beeindruckende Frau war, die das Wichtigste in seinem Leben war, sondern der Junge, den er an Vaters statt hätte annehmen können. Kinder kommen mannigfach vor in diesen Geschichten. Auch mal gern als Plage, die ihre überforderten Eltern über Jahre daran hindern, ein eigenes Leben zu leben und überhaupt noch zur Besinnung zu kommen. Und trotzdem reißt in dem gealterten Mann gerade die Erinnerung daran auf: Gerade dieses Nicht-zur-Besinnung-Kommen scheint im Nachhinein das Beste von Allem gewesen zu sein.

Bestellen Sie dieses Buch versandkostenfrei im Online-Shop – gern auch als Geschenk verpackt.

Von all den unglaublichen Dingen
Roman Simic’, Verlag Voland & Quist 2013, 18,90 Euro

Und solche Dinge erzählt Roman Simi? mit einer Leichtigkeit, die natürlich wohl tut, wenn man mal wieder zu viel deutsche Schwermut verschlungen hat. Das Leben ist so. Und im Nachhinein erweist sich Vieles von dem, was scheinbar über Weh und Ach entschied, als völlig banal. Teil eines Lebens, das sich immer neu zusammensetzt. Und oft genug kann man gerade die Verluste nicht verhindern. Das Unglaubliche geschieht nicht in all diesen immer gleichen Liebesgeschichten. Es geschieht danach, nach dem Happyend. Fast unmerklich, aber konsequent. Und so intensiv, dass auch das Staunen mitschwingt in Simi?s Geschichten, das Staunen über “all diese unglaublichen Dinge”. Als hätte man’s nicht selbst erlebt. Als wäre das einem anderen widerfahren. Wo war man da eigentlich?

Mittendrin, wie es aussieht. Unglaublich.

www.voland-quist.de

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar