Seit einigen Jahren veröffentlicht der Verlag Voland & Quist liebevoll edierte Bücher von Autorinnen und Autoren aus Ost-und Südosteuropa. Bücher, die einem aus ostdeutscher Perspektive oft erstaunlich vertraut vorkommen, weil man ja einige Teile dieser Geschichte ganz ähnlich erlebt hat. Das trifft selbst auf die Literatur aus dem ehemaligen Jugoslawien zu, zu dem ja auch Kroatien gehörte.

Deutschland erlebt mit der Corona-Epidemie dieser Tage zum ersten Mal seit fast 75 Jahren wieder, wie brüchig das Leben tatsächlich ist. Und damit auch etwas, was man hinter sich gelassen zu haben glaubte, auch die Ostdeutschen, die sich kaum noch wirklich daran erinnern können (oder wollen), wie karg das Leben sein konnte und wie leer geräumt so manches Kaufhallenregal. In einer Zeit, in der Knappheit zum Alltag gehörte, genauso wie das Gefühl, dass die Zeit wie Blei fließt und sich für einen selbst eigentlich nichts ändert.

Ein großes Warten auf etwas, von dem man nicht mal hätte sagen können, was es sein sollte. Denn wie Geschichte zu passieren hatte, das wurde von alten weißen Männern an der Spitze grauer Parteien entschieden.

Das war in Jugoslawien nicht anders als in Ostdeutschland. Nur dass dort noch etwas anderes hinzukam: Der über Jahrzehnte nur unterdrückte Konflikt zwischen den jugoslawischen Republiken. Ein Konflikt, der zurückreicht bis in die Zeit der k.u.k.-Monarchie. Und der die jugoslawische Föderation 1991 regelrecht auseinanderfliegen ließ.

Ivana Sajkos „Familienroman“ endet praktisch mit dem Ausbruch des Jugoslawienkrieges – oder genauer: des Kroatienkrieges, in dem die Geschichte auf einmal wieder in ganz ähnlichen Kriegsszenen endet, mit der sie im Jahr 1941 beginnt, dem Jahr, als die deutsche Wehrmacht in Kroatien einmarschierte und das Land endgültig in die blutigen Wirren des 2. Weltkrieges hineinzog.

Wer freilich eine bilderbuchreife Familiengeschichte erwartet, wird sie auch in diesem Roman von Ivana Sajko nicht finden. Denn ihre Helden sind schon von diesem ersten Krieg gezeichnet, haben Besatzung, Partisanenkampf, Verwundung und Folter erlebt. Sie werden die Albträume ihrer Jugend nie wieder los.

Und wie sehr sie fremd bleiben in dieser neuen Welt, die Tito mit Methoden erschafft, die denen Stalins sehr verwandt sind, macht Sajkos Rückgriff auf authentische Quellen sichtbar. „Ich wollte zeigen, dass es unzählige Arten gibt, über Tatsachen zu sprechen“, schreibt sie. „Keine einzige davon bildet die Wahrheit ab.“

Auch dann nicht, wenn die historischen Daten verbürgt sind: die Gründung des Ustascha-Staates 1941, die Befreiung durch die Partisanen 1945, die große Überschwemmung von 1964, die im rücksichtslos bis ins Flussbett der Save gebauten Zagreb verheerende Zerstörungen anrichtet. Die Studentendemonstrationen von 1971, die dann im „Schwarzen September“ endeten.

Die Flugzeugentführung des Zvonko Bušić von 1980 ist ein weiterer Markstein, denn in ihr manifestiert sich das ungelöste Nationalitätenproblem in Jugoslawien. Wo Nationalismus lebt, ist der Faschismus nie weit. Und so verknüpft sich das Jahr 1991 direkt mit dem Jahr 1941.

Es ist auch eine ähnliche Ohnmacht, die die Betroffenen erfahren. Denn wieder werden die jungen Männer einberufen, in Schlachten geschickt, bestimmen (alte) weiße Männer in Uniform, was passiert, greifen laute Parolen Raum in Zeitungen und Rundfunk. Parolen, die Ivana Sajko immer wieder einmontiert in ihren wilden, hochpoetischen Sprachfluss. Und damit auch die Leser/-innen wissen, woher diese Töne kommen von neuen Zeiten und dem Fortschreiten zu neuen Horizonten, sind die Originalquellen allen unterm Text als Fußnote angegeben.

Auch als Mahnung an die Nachgeborenen, nicht zu vergessen, wie aus Mythen und Lügen Politik gemacht wird. Und wie schnell Menschen, die diesen Parolen folgen, alles verlieren, alle Sicherheit, alle Hoffnung, alle Freiheit. Wobei ja gerade das Wort Freiheit in solchen Parolen besonders strapaziert wird.

Da kennen auch Diktatoren nichts und verschmelzen die muskulös aufgemotzten Partisanen in ihren Denkmälern mit der barbusigen Freiheit aus dem berühmten Revolutions-Bild von Eugène Delacroix. Sie wissen, wie gut diese Verheißungen funktionieren und wie gern Menschen glauben wollen, dass eine neue Zeit angebrochen ist und es ihre Revolution ist, die da gesiegt hat.

Auch wenn sie schnell lernen, dass es hinfort Warten heißt. Und dass sie kaum etwas dabei tun können, nun wirklich ein Land zu schaffen, in dem die Wünsche der Menschen tatsächlich erfüllt werden. Was sie bekommen, sind die Memoiren der überlebenden Freiheitskämpfer, die längst gelernt haben, dass man die Macht nicht teilen muss.

Und dass manchmal auch die Verheißungen genügen. Jedenfalls so lange, bis andere Verheißungen – wie die schicken Klamotten in Triest – stärker werden. Aber es ist ein angespanntes Warten, eines, in dem immer die Hoffnung mitschwingt, dass das karge Dasein irgendwann aufhört, dass es besser wird.

Aber wie soll das gehen, wenn die Männer in den Ämtern noch immer von den Albträumen des Krieges geschunden sind und nicht fähig sind, die Blickrichtung zu ändern? Und wenn angepasste Nachkömmlinge auf einmal gnadenloser bestimmen, welches der richtige Weg und das richtige parteiliche Verhalten ist? Denn auch Diktaturen – egal, mit wie viel Hoffnung sie gestartet sein mögen – tendieren zur Verknöcherung, zur Radikalisierung des Verwaltetwerdens.

Da haben auch die Alten mit den Glocken ihrer Kriegsalbträume im Kopf keine Chance. Während Zagreb wächst, irgendwann Millionenstadt werden soll. Aufbaueifer und technokratische Überhebung in einem. Während Tito 1980 stirbt und das Land in Schockstarre hinterlässt, weil alles auf den Mann an der Spitze zugeschnitten war.

Während das Leben weitergeht und die Tochter heranwächst, die am Ende gehen wird, weil sie dieses Warten nicht aushalten will. Das in den Zeilen Ivana Sajkos geradezu drängend wird, so wie die Wasser der Save 1964. Denn auch wenn sich für ihre Heldinnen und Helden scheinbar nichts ändert, ist doch alles im Fluss. Erlebt die Tochter die erste Liebe und packt tatsächlich ihren Koffer, um in den Westen zu gehen.

Und geht dann doch nicht fort. Die Reise endet am Stadtrand. Auch diese Geschichten gibt es – die derjenigen, die es dann doch nicht fertigbrachten, alles hinter sich zu lassen. Und die nach weiteren zehn Jahren des Wartens dann miterlebten, wie wieder Armeen sich bis an die Zähne bewaffnen.

Die Geschichte endet da, wo andere Romane von Ivana Sajko begannen: mitten im Krieg. Einem Krieg, der wieder „Arme, Beine, Nieren. Lebern, Mägen, Geschlechtsteile und Köpfe“ verschlingen wird. Nur dass die Bilder diesmal im Fernsehen zu sehen sein werden, was Manchen in den Glauben versetzt, der Krieg wäre nur inszeniert.

Wie Krieg wirklich ist, wissen nur die, die mittendrin zu überleben versuchen. Und am Ende froh sind, wenn sie nur überleben. Und da Ivana Sajko das in einem zuweilen fast ironischen Tonfall erzählt, gerät ihre Familiengeschichte nie auch nur in Not, sentimental zu werden, so gefühlig wie die Familiengeschichten von Leuten, die all das, was wirklich passiert, immer verdrängen, so tun, als wären sie nie dabei gewesen. Als hätten sie keine Albträume, die sie immer wieder heimsuchen.

Aber gerade deshalb wird dieser Familienroman sehr nah und verständnisvoll. Werden die Handelnden spürbar in ihrem Geworfensein in ein Leben, dessen Bedingungen sie nicht bestimmen können. Wofür selbst das im Partisanenlager gespielte Stück von Anton TschechowDer Heiratsantrag“ steht, in dem es um ein – falsches – familiäres Glück geht und die Engstirnigkeit des russischen Adels, der sich bei einem Heiratsantrag über eine Ochsenweide zerstreiten kann.

Aber der Ton tut gut, genau deshalb, weil er so forciert ist, weil er den Willen der vom Leben gezeichneten Protagonisten in Sätze packt, fordernde Sätze, weil Sajko natürlich davon ausgeht, dass jeder Mensch ein Recht hat auf ein selbst gestaltetes Leben. Und darauf, von den Dramen der Mächtigen verschont zu werden. Denn wenn die Mächtigen spielen, werden die Unmächtigen zu Spielmasse und Kanonenfutter.

Und meistens darf man hinterher nie darüber reden, was die neuen Sieger angerichtet haben. Dann legt sich das Schweigen über die Familien, an dem die Kinder verzweifeln. „Aber auch weiterhin kommentieren sie nichts, es ist besser für sie zu schweigen, wegen der Kinder. Die Kinder ihrerseits hassen das Schweigen, das ihre Eltern um sich verbreiten.“

Denn die Propaganda-Töne aus den Memoiren sind falsch. Das wissen sie alle. Aber entkräften kann man sie nur, wenn auch die Betroffenen reden. Und sich nicht in Schweigen verstecken. Denn: „Die Kinder können nicht hören, was verschwiegen wurde, und auch nicht lesen, was ausradiert wurde.“

So wichtig sind Familiengeschichten. Wenn sie denn erzählt werden.

Ivana Sajko Familienroman, Voland & Quist, Berlin, Dresden, Leipzig 2020, 20 Euro.

Ivana Sajkos Liebesroman, der wirklich von Liebe erzählt am Rande des Abgrunds

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