Es gibt nicht viele Pfarrer, die so ein Lebenswerk vorzuweisen haben, wie der emeritierte Leipziger Nikolaipfarrer Christian Führer, 1943 geboren, seit 1980 Pfarrer an der Leipziger Stadtkirche St. Nikolai und 1989 eine der prägenden Gestalten jenes Herbstes, den die Leipziger als Friedliche Revolution feiern. Was zusammen gehört. Aus einer friedlichen (Kirchen-)Reformation wurde eine Bewegung, die ein ganzes Land umwälzte.

Auf jeden Fall aus Christian Führers Perspektive. Aus welcher auch sonst? Ordiniert worden war er im Jahr 1968, das er wie so viele andere damals als ein entscheidendes erlebte. In Prag wurde von sowjetischen Truppen der Versuch niedergewalzt, vielleicht doch mal eine andere Art Sozialismus auszuprobieren, und in Leipzig ließen die Machthaber die intakte Universitätskirche St. Pauli sprengen, Höhepunkt eines da schon 20 Jahre währenden Versuches, die Kirche und die Religion aus der realsozialistischen Gesellschaft zu tilgen.

Als junger Mann hat Führer noch erlebt, wie die Kirchenvorstände versuchten, sich dem neuen Staat anzudienen – obwohl längst die Verfolgung Andersdenkender begonnen hatte und – wie in Leipzig – Mitglieder der jungen Gemeinde verhaftet und inkriminiert wurden.

Kirche sollte verschwinden aus diesem rot angestrichenen Land. Aber es waren junge, aufmerksame Pfarrer wie Christian Führer, die merkten, dass das sogar eine ungeheure Chance war – weg von der alten Staatskirche aus Kaiserszeiten, in denen die Leute quasi automatisch zum Mitglied einer Kirche wurden. Hin zu einer Kirche, die sich wieder auf Jesus besann und auf ein Handeln ganz im Sinne der Bergpredigt. Was dann ja ab 1980 nicht nur in Leipzig auch zum gesellschaftlichen Phänomen wurde: Es waren die Kirchen und Kirchentage, in denen sich der Friedenswille zu äußern begann, deutlich abgesetzt vom öffentlich propagierten Frieden, der nur ein Scheinfrieden war im Schatten von zunehmender Militarisierung und Hochrüstung. Ein Scheinfrieden unter immer dunkleren Wolken – in Ost wie West.

In der DDR und der BRD wurden die neuen Mittelstreckenraketen stationiert, die die Vorwarnzeit für einen möglichen Atomschlag praktisch auf Null reduzierten. Hellwache Menschen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs wussten genau, was das bedeutete: Das Überleben des Kontinents hing auf einmal von einem Knopfdruck ab. Oder einem Computerfehler irgendwo in den USA oder der UdSSR.Und während im Westen die Friedensbewegung öffentlich mobil machte, dockte sie in der DDR an die Kirche an. Eines der ersten Dinge, die Christian Führer in der Nikolaikirche einführte, war die Friedensdekade, 1981 gefolgt von den Friedensgebeten, die acht Jahre später eine so wichtige Rolle spielen sollten.

Gleich der zweite der zwei Dutzend Texte, die Christian Führer für dieses Buch ausgewählt hat, schildert die Entstehung und die Entwicklung der Friedensgebete an der Nikolaikirche, die mit der zunehmenden Ausreisewelle immer mehr zu einem Sprachrohr der sich häufenden gesellschaftlichen Probleme im Land wurden. Und die auch zu einem Ereignis wurden, zu dem sich immer stärker Christen mit Nicht-Christen trafen. Das große Schild “Nikolaikirche – offen für alle”, das heute so selbstverständlich vor der Kirche steht, stand auch in den 1980er Jahren vor der Kirche, ganz bewusst als Einladung gedacht für alle. Nicht nur für Gemeindemitglieder und Gläubige.

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Und in vielen seiner Reden, Artikel und Predigten, die Christian Führer hier versammelt, geht er auf dieses Grundverständnis ein, das für ihn der Beginn einer echten Kirchen-Reformation war: die Rückbesinnung auf den Jesus, wie er im Neuen Testament zu erleben ist, der aus allen Hierarchien heraustrat, der aber auch die Absonderung eines Johannes aufgab und statt dessen unter die Menschen ging, auch zu denen am Rande, den Zöllnern, Kranken, Erniedrigten und Beleidigten. Und der auch auf die Mittel der Macht verzichtete, sondern statt dessen immerfort mahnte: Liebe Deine Nächsten. Und nicht nur die, sondern auch Deine Feinde.

Für Christian Führer eine Botschaft, die moderner nicht sein kann, denn anders lassen sich die alten Konflikte, das Säbelrasseln, Hochrüsten, Blöckeschmieden und (Vertreter-)Kriegeführen nicht beenden. Deswegen staunte er zwar, als er 2005 gemeinsam mit Michail Gorbatschow den Augsburger Friedenspreis bekam, aber er sah sich – auch aus der 1989er Erfahrung – mit Gorbatschow auf einer Wellenlänge. Denn der hatte ja – obwohl der Boss eines säkularisierten Reiches – politisch nichts anderes getan, als die Waffen niederzulegen und den Kalten Krieg, den sein amerikanischer Gegenspieler gerade richtig aufheizte, für beendet zu erklären.

Vorbild bis heute.Der Band vereint Texte von 1988 bis 2013. 1988, als das Rumoren in der DDR und in Leipzig schon unüberhörbar war und sich Christian Führer hinstellte und die versammelten Ausreisewilligen fragte, warum sie gingen und welche Lücken sie hinterlassen würden. Aber auch die Texte und Predigten nach 1990 reflektieren immer wieder auf diese Zeit, in der einige Kirchen im Land zum Schutzraum für all jene wurden, die sich in anderen gesellschaftlichen Bereichen nicht (mehr) äußern konnten. Nicht nur für Ausreisewillige und Friedensaktivisten.

Auch die ökologische Bewegung der DDR fand ihren Schutzraum hier. Jene Kirchgemeinden, die sich für diesen gesellschaftlichen Disput öffneten, waren tatsächlich so etwas wie eine versuchte Reformation der alten staatsnahen Kirche. Und entsprechend deutlich spricht Führer auch an, dass 1990 nicht nur die gesellschaftlichen Reformansätze in der einvernahmten DDR gleich wieder einkassiert und durch die bräsigen alten bundesdeutschen Normen ersetzt wurden, mit der Kirche im Osten war es genauso – sie wurde einfach wieder dem alten westdeutschen Kirchensystem einverleibt. Und so fanden sich Kirche und Gesellschaft postwendend wieder in hierarchischen Strukturen, die man doch gerade eben erst überwunden hatte.

An zwei Stellen geht Führer auch auf das so emsig diskutierte Leipziger Freiheits- und Einheitsdenkmal ein. Nicht ganz schlüssig, wohin es ihn treiben würde. 2012 ließ er sich vom Getrommel der LVZ anstecken und plädierte für den Wettbewerbsentwurf “Herbstgarten”, der für ihn die zentrale und wichtige Botschaft “Keine Gewalt” trägt und damit – in verknappter Form – den Inhalt der Bergpredigt. Seiner Rede zur Verleihung des Augsburger Friedenspreises 2005 aber hat er ein Postscriptum beigefügt, das einen ganz anderen und viel eindrucksvolleren Vorschlag macht. Es bezieht sich auf die von Jewgeni Wutschetitsch geschaffene Skulptur “Schwerter zu Pflugscharen”, von der es zwei Exemplare gibt, eines in der Tetjakow-Galerie in Moskau und eines als sowjetisches Geschenk vor dem UNO-Hauptquartier in New York. In der DDR wurde die Skulptur zum Symbol der Friedensbewegung und damit auch zu einem Symbol der friedlichen Veränderungen 1989.

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frech, fromm, frei
Christian Führer, Evangelische Verlagsanstalt 2013, 14,80 Euro

“Müsste es nicht noch zwei Skulpturen ‘Schwerter zu Pflugscharen’ geben”, fragt Führer, “eine für Augsburg und eine für Leipzig?”

Zumindest würde eine solche Skulptur auf dem Platz der Friedlichen Revolution viel besser und ohne jede weitere Erklärung zeigen, was den Kern des Friedlichen Herbstes ausmachte. Und was auch 2014 noch immer die alte, neue Botschaft aus Leipzig sein sollte. Die Bibelstelle mit der dem Propheten Micha zugeschriebenen Prophezeiung könnte man durchaus auch wieder im Sockel platzieren: “Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. (…) Und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.” Mehr braucht es eigentlich nicht.

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