2012 brachte der Lehmstedt Verlag den Fotoband "Über den Dächern von Leipzig" heraus, der das alte, unzerstörte Leipzig in Luftaufnahmen der 1920er und 1930er Jahre zeigte. Der Band war binnen kürzester Zeit vergriffen. Aber wie das so ist mit Büchern, die das Interesse der Leser erwecken: Sie bringen ein paar neue Ideen mit sich. Können auch mal abgehobene sein.

In diesem Fall war Dietmar Baudiß, der mit seinem Motorsegler gern mal in die Luft geht und vorschlug, er könne doch die alten Schwarz-Weiß-Bilder aus gleicher Perspektive heute noch einmal fotografieren. Sozusagen ein “Leipzig gestern und heute”, wie es Armin Kühne und Niels Gormsen in den prächtigen Bildbänden vom Erdboden aus machen. Müsste doch die Leipziger auch interessieren, denn wenn man schon unten auf der Erde Etliches erklären muss, was sich in den vergangenen 70, 80 Jahren verändert hat, dann aus der Luft erst recht. Gerade die innerstädtischen Quartiere, die 1943 und 1944 besonders von Bomben zerstört wurden, haben heute ein ganz anderes Gesicht als vor dem 2. Weltkrieg. Dichtbebaute Wohnquartiere sind verschwunden. An ihre Stelle traten Brachen, Grünflächen oder moderne Blockbebauungen. Manchmal muss man lange suchen, um überhaupt noch eine Landmarke zu finden, die den Vergleich ermöglicht.

Die ersten Bilder, die Baudiß auf diese Weise aufnahm, waren 2013 in einer Ausstellung in der Stadtbibliothek Leipzig zu sehen. Die natürlich auf großes Interesse bei den Leipzigern stieß. Für den Geografen Heinz Peter Brogiato und den Motorsegler, Fluglehrer und Luftbildfotografen Baudiß im Grunde die klare Ansage: Das Projekt wird weiter betrieben. Nicht mit allen Fotos aus dem Band von 2012, das wäre ein Mammutprojekt geworden. Schon rund 70 Motive waren eine echte Herausforderung für den Flieger. Denn er musste ja nicht nur das richtige Flugwetter abwarten und die entsprechend gute Beleuchtung, er musste auch versuchen, den Winkel zu erwischen, aus dem zwischen 1910 und 1935 fotografiert worden war. Damals gab es noch keine so strengen Regeln für den Flugraum. Heute ist die Flughöhe für Freizeitflieger über der Stadt beschränkt. So dass viele Perspektiven, die sich einst bequem aus der Gondel eines Zeppelins ergaben, so nur schwer zu erreichen waren.Baudiß ist trotzdem das Kunststück gelungen, den alten Sichtachsen recht nahe zu kommen. Da auch die Originalvorlagen schon einen Zeitraum von 25 Jahren umfassen, sind auch in diesen alten Schwarz-Weiß-Fotos die Veränderungen der damaligen Stadt sichtbar. Gleich auf dem ersten Hansa-Luftbild von 1926 stutzt der Blick: Bis auf den Turm des Neuen Rathauses und – wesentlich kleiner – die Türme von Thomas- und Nikolaikirche – hat die Innenstadt keine Höhenmarken. Das wirkt schon fremd, weil man heute diese Landschaft nicht ohne City-Hochhaus, Wintergartenhochhaus, Europa-Haus und Krochhochhaus denken kann. Aber 1926 sind weder das erste Hochhaus Leipzigs – das Krochhaus – noch das Europahaus zu sehen. Dafür springt der Blick zur Paulinerkirche, die genauso unversehrt am Augustusplatz steht wie das Bildermuseum und das Neue Theater. Und auf dem Königsplatz (dem heutigen Wilhelm-Leuschner-Platz) steht eine gewaltige provisorische Messehalle.

Schon allein vor diesem Foto kann man stundenlang verweilen. Der Blick sortiert und vergleicht mit der Gegenwart, die daneben in Farbe zu sehen ist. 2013 und 2014 kamen genügend Sonnentage zusammen, die Baudiß ermöglichten, die Vergleichsfotos detailreich und gut ausgeleuchtet zusammenzutragen. Oder zusammenzufliegen. Dabei haben Brogiato und Baudiß vor allem die großen Stadtausschnitte gewählt, ganze Quartiere und Straßenzüge, die auch das Ausmaß der Veränderungen deutlich machen. An manchen Stellen lassen gewaltige Verkehrsbauten von heute kaum noch erkennen, dass hier einmal etliche präsentable Gebäude standen – an Goerdeler- und Tröndlinring zum Beispiel, wo erst der Vergleich zeigt, was für eine Lücke das Alte Theater und die “Dauernde Gewerbeausstellung” hinterlassen haben. Verschwunden ist auch die Neue Handelsbörse – dort steht jetzt ein Hotel. Und zur benachbarten Grünfläche muss Heinz Peter Brogiato schon erklären, dass da mal das Robotron-Gebäude stand.Zu jedem Foto-Doppel hat er kleine erklärende Texte geschrieben, die dem Betrachter erläutern, was sich verändert hat. Aber der Betrachter sieht meist auch selbst, wie sehr Architekten und Stadtplaner an vielen Stellen in die alten Stadtstrukturen eingegriffen haben. Das City-Hochhaus und der schwarze Kubus des MDR-Sinfonieorchesters stehen mitten auf der Goethestraße, die bis in die 1960er Jahre an der Moritzbastei (auf der 1913 noch die 1. Bürgerschule steht) direkt an die Schillerstraße anschloss. Und natürlich fuhr dort eine Straßenbahn. Heute undenkbar – die Ecke ist völlig verbaut.

Aus mehreren Blickwinkeln wird die Innenstadt betrachtet. Und Brogiato muss es gar nicht erwähnen, es ist unübersehbar, wie die dichte, kleinteilige Bebauung des Jahres 1924 heute einem Gewimmel großer Bauquader gewichen ist, die ganze Quartiere umschließen. In der Westvorstadt muss man ein Weilchen suchen, bis man den heutigen Verlauf der Friedrich-Ebert-Straße mit der alten Weststraße in Einklang bringt. Und wenn einen der Flug über die Nordvorstadt schon verwirrt, braucht es über der Ostvorstadt – dem alten Grafischen Viertel – schon eine Menge Erläuterung, um die Bilder überhaupt vergleichen zu können.

Die Löcher, die einem immer wieder als grüne Wiese begegnen, erweisen sich oft genug als Standorte einst markanter Gebäude – unübersehbar bei der Johanniskirche auf dem Johannisplatz. Oder beim Neuen Johannishospital oder dem Eilenburger Bahnhof.

Da auch die Neubauprojekte der 1920er Jahre nicht ausgespart werden, ist Stadtumbau gleich in doppelter Bedeutung im Bild – etwa wenn der Flieger über Gohlis-Nord (der “Kroch-Siedlung”) schwebt oder in Mockau über Weidenhof und “Roter Front”. Auch einige Teile aus den damaligen und heutigen Stadtrandlagen werden sichtbar, etliche der gezeigten umliegenden Gemeinden sind ja heute eingemeindet. Und gerade die zeitliche Dimension macht auch sichtbar, in welchem Tempo und welchem Umfang in Leipzig seit 100 Jahren tatsächlich gebaut wurde und wird. Eine Aufnahme aus dem Jahr 1914 zeigt die beeindruckende Internationale Baufachausstellung (IBA). Das Völkerschlachtdenkmal steht schon. Aber das heutige Bild der Alten Messe daneben zeigt eine völlig verändere Baulandschaft. Und selbst dieses Kapitel der Leipziger Messegeschichte ist ja schon beendet.

Es ist also eher kein Buch für Nostalgiker, obwohl es natürlich seinen Reiz hat, sich mit jeder neuen Aufnahme in die alte Stadt Leipzig zurückzuversetzen. Oder in jene Phase, in der sie gerade steckte, als der Flieger über Eutritzsch oder das Militärviertel in Gohlis / Möckern flog. Es gibt auch Zustände, die möchte man nicht wirklich wieder haben. Aber eine Stadt ist ja zum Glück nichts Starres, sondern ein lebender, sich permanent verändernder Organismus, der immer neue Bedürfnisse ans Wohnen, Arbeiten, Produzieren, an Verkehr und Freizeit erfüllen muss. Manchmal ergibt das fast kurzweilige Erscheinungen wie die Alpenlandschaft im Zoo, den Palmengarten (in einer Aufnahme von 1929) oder die Kleinmesse mit ihrer fast stadtartigen Budenlandschaft auf den Frankfurter Wiesen (Aufnahme um 1930), wo heute das Sportforum steht.

Es ist ein Buch für (Wieder-)Entdecker. Und für kleine Forscher, die in den sich verändernden Strukturen auch den drängenden Modernisierungsprozess sehen, der Leipzig nun seit Jahrhunderten antreibt. Stadt ist eigentlich nur ein Synonym für permanente Veränderung. Und für städtebauliche Aufgaben, die nach immer neuen Lösungen suchen. Was dann oft eher ein schmerzlicher Prozess ist. Am Ende schlägt man das Buch mit einem letzten Blick aufs Völkerschlachtdenkmal (1930) zu, erhascht dabei kurz einen Eindruck von einem noch nicht von Bäumen überschatteten Südfriedhof und ist eigentlich ganz froh, dass die Ruß- und Qualmnebel, die damals über der Stadt schwebten, heute verschwunden sind. Wäre Leipzig nicht so eine immer geschäftige Werkstadt, könnten auch solche Bücher nicht entstehen.
Dietmar Baudiß; Heinz Peter Brogiato “Leipzig aus der Luft”, Lehmstedt Verlag 2014, 19,90 Euro

www.lehmstedt.de

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