In der DDR gehörte der Leipziger Autor Gunter Preuß zu den bekanntesten Kinderbuchautoren, auch wenn er bis 1989 tatsächlich nur acht Bücher veröffentlichte. Das ist nichts im Vergleich zu dem, was der heute 74-Jährige seit 1990 alles veröffentlicht hat. Er ist regelrecht aufgeblüht und zeigte schon 1993, dass er eigentlich das Zeug dazu hat, in einer Liga mit den großen Fantasy-Autoren der Gegenwart zu spielen. Schärfer als Bibi Blocksberg ist seine Hexe Toscanella auf jeden Fall.

1993 veröffentlichte Preuß den ersten Band der mittlerweile zur Serie gewordenen “Kleinen Hexe Toscanella”. Damals natürlich noch nicht im Lychatz Verlag. Auch der zweite Band – “Die kleine Hexe Toscanella auf Schloss Edelstein” – musste noch in einem anderen Verlag Heimat finden – wie so manch anderes Buch aus seiner Werkstatt. Das war der andere Effekt des Endes der DDR-Verlagslandschaft: Die alten Standard-Kinderbuchverlage verschwanden und die neue Verlagslandschaft war nicht gerade so gestrickt, dass sie auf das zum Teil recht besondere Erzählen, das sich im Osten entwickelt hatte, eingestellt war. Das hat eher nichts mit einer besonderen DDR-Landschaft des Schreibens zu tun, sondern mit Marktgesetzen. Wenn der schnelle, auf Trends und Hypes setzende Mainstream die Verkaufszahlen bestimmt, haben ungewohnte, manchmal leisere, oft nachdenklichere Töne keine Chance. Das ist bei Literatur für Erwachsene und Jugendliche nicht anders als bei Literatur für Kinder.

Gunter Preuß ist nicht der Einzige, der ein Lied davon singen kann.

Doch seit ein paar Jahren ist er glücklich beim noch jungen Leipziger Lychatz Verlag gelandet, der mit Kinder- und Jugendbüchern auch wieder ein Segment bedient, das in Leipzig lange nicht vertreten war. Der Lychatz Verlag übernahm auch die beiden Toscanella-Titel ins Programm und setzte 2012 mit dem dritten Band gleich noch einen drauf: “Die kleine Hexe Toscanella verkauft dem Teufel ihr Schwein”. Übrigens alle drei Titel in neuer Reihengestaltung und mit neuen Illustrationen des Hallenser Grafikers Thomas Leibe, der den wilden Abenteuern der kleinen Hexe mit fröhlichem Bilderwitz noch immer eins obendrauf setzt.

Denn die Abenteuer, die Preuß seiner kleinen Hexe andichtet, leben von der fröhlichen Übertreibung. Diese Hexe muss nicht brav sein – oder gar werden, wie es in einigen der schrecklichsten Kinder-Hexen-Bücher so gern als “Entwicklungsroman” junger Hexen erzählt wird. Sie darf kleine Hexe bleiben, mal keine Lust haben, mal übertreiben, abenteuerlustig sein und nicht mal durch den Teufel einzuschüchtern, fordernd und manchmal auch launisch, wortverspielt und trotzdem immer liebenswert.

Im Grunde eine jetzt auf vier Bände angewachsene Sei-du-selbst-Geschichte für Mädchen und auch Jungen. Solche Jungen zumindest, die kapiert haben, dass die Graziellas zwar etepetete, aber eigentlich stinklangweilig sind, und die Toscanellas zwar unberechenbar, aber wesentlich aufregender. Zumindest ist garantiert, dass man mit ihnen ohne viel Federlesens im nächsten Abenteuer landet, wo es durchaus auch mal ums Ganze geht. Nicht nur für den Teufel, der gern den wilden Macho und Ziegenbock raushängen lässt und mit Toscanella noch ein Hühnchen zu rupfen hat, sondern auch für einen Burschen, dem Toscanella nach einem sowieso schon aufregenden Ausflug auf dem Blocksberg begegnet – und das auch noch in einem so richtig idyllischen Harzstädtchen, das Gunter Preuß lieber mal Schneckenhausen genannt hat, damit sich keins der echten Harzstädtchen gemeint fühlt.

Denn idyllisch geht es da nur ganz oberflächlich zu.

Tatsächlich sind selbst die Bewohner dieser Idylle arg in Eile, immer gestresst, haben keine Zeit oder verprügeln gern ihre Schulkameraden. Und in den Straßen treibt sich ein Kerl auf einem Motorrad herum, dem man schon von weitem den Gehörnten ansieht. Im Grunde kann Toscanella gar nicht anders. Sie muss zur Tat schreiten und die Welt retten. Denn das Ungeheuer, dass sich hier austobt und mit dem Teufel im Bunde ist, ist viel schlimmer als der Kerl mit dem Ziegenfuß. Und es gibt sogar einen schlauen Professor, der den Namen kennt und den Aufenthaltsort. Es ist der Zeitgeist.

Und der ist nicht einfach nur böse – auch wenn er sich so benimmt. Es ist ein anderes Böses in ihm, mit dem auch Toscanella erst einmal überfordert ist. In der natürlich ein gut Teil des Widerspruchsgeists des jung gebliebenen Autors steckt. Da lebt man nun schon so lange in dieser Welt, hat das Böse schon in vielerlei Form erlebt. Diese hier aber ist neu und trotzdem allgegenwärtig. Nur dass man sie nicht beschwören oder bannen kann wie den Teufel. Sie steckt in unseren Köpfen. Denn natürlich ist Schneckenhausen überall, nicht nur am Fuße des Blocksbergs zu finden. Überall sind die Menschen wie aufgescheucht in der Jagd nach dem Glück oder der nächsten Wunscherfüllung. Immer gibt es etwas, was sie noch nicht haben, ein neuer Wunsch, ein neues Begehren. Mit der Maßlosigkeit hat der Zeitgeist Macht über alles und jeden. Und lässt keinen aus. Er duldet keine Freiräume, keine Aussteiger, Nischenbewohner, Verweigerer oder jene seltsamen Bewohner des Hexenwaldes, die die Dinge tun, wenn sie Lust darauf haben. Was ist das für eine Dienstbereitschaft? Wer kann so etwas dulden?

Hört man da den grimmigen Rufer: “Raus aus der Hängematte!”?

Er steckt in diesem Zeitgeist, den niemand sieht, und der dennoch antreibt und atemlos macht, Familien die Zeit stiehlt, Liebenden, Kindern, Alten, Lehrern …

Natürlich wird die Geschichte philosophisch. So hat es Gunter Preuß gelernt, als man noch Zeit hatte, über den Sinn von Kinder- und Jugendbüchern nachzudenken und nicht einfach nur für einen hungrigen Markt produzierte, den man – wenn man nicht aufpasst – doch glattweg mit dem Zeitgeist verwechseln könnte. Kinder brauchen nicht nur platte Geschichten, in denen der Teufel besiegt wird – oder ordentlich über den Löffel balbiert, wie es Toscanella gern macht. Kinder brauchen auch den Untergrund, das dicke Schwein auf dem Sozius des Hexenbesens, das seine Klugheit mit Fresslust und Übergewicht verbindet und Toscanella trotzdem ein treuer Begleiter ist. Und sie brauchen die Fäden in die eigene Welt, die eben zumeist nicht magisch ist, aber ganz ähnlich undurchsichtig, nicht immer zu begreifen, weil da Kräfte am Werk sind, die man nicht sieht. Und die trotzdem zu spüren sind – oft genug leidvoll, weil sie von allem Besitz ergreifen und alles zu verschlingen scheinen.

Natürlich kann es in einem Kinderbuch nur spielerisch angepackt werden.

Da kann der Zeitgeist auch eine Maske und ein Gesicht bekommen. Kein Schönes. Aber immerhin ein greifbares. Der Bösewicht muss ja irgendwie gepackt werden, herausgefordert von den bedrohten Bewohnern des Hexenwaldes, wo er auch noch zuschlagen möchte. Grenzen kennt er ja nicht. Alles, alles soll sich ihm fügen und dann rennen wie der Hamster im Laufrad, angetrieben von den eigenen Wunschbefehlen. Nur nicht innehalten, nur nicht ruhen. Im Hexenwald begreift man zumindest noch, dass es dann mit dem schönen Leben vorbei ist – und wehrt sich. Zumindest die Mutigen machen mit. Ein bisschen rebellisch geht’s also auch zu.

Ein Buch für kleine und große Rebellen und solche, die manchmal noch einen Stupser (mit nasser Schweineschnauze) brauchen, dem Zeitgeist mal die Stirn zu bieten.

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