Das Eichenlaub kommt später mal kurz vor, als Max in einer seiner vielen Krisen vorm Spiegel steht und nicht so recht weiß, ob er sich nun eigentlich einen Siegerkranz oder doch eher nur einen Kranz verwelkter Blätter verdient hat. Und ob es je etwas anderes geben wird. Er ist Student, studiert irgendwas mit Wirtschaftsmathematik, hängt Wochenende für Wochenende mit seinen Freunden ab. Und hat das Gefühl, in einem großen Brei von Sinnlosigkeit zu ersaufen.

Das soll vorkommen. Das Leben ist nicht einfach. Herauszufinden, was man mit seinem Leben einmal anfangen möchte, auch nicht. Und noch schwerer wird es, wenn es den Kommilitonen und Freunden genauso geht. Dann werden die wochenendlichen Einheizer und Absacker endgültig zum Ritual, die Wochen werden zu einer Schleife, in der Montag mit Trübsal beginnt und sich die Tage bis zum nächsten Vollsuff nur so dahinschleppen. Einziger Fixpunkt ist irgendwie noch die Vorlesung bei Professor X, der seinen Zuhörern augenscheinlich viel zu schwere Fragen stellt. Warum denn den Kopf zerbrechen, wenn man eh keinen Bock hat auf das alles?

Wer noch in dem Glauben lebt, Studenten seien zielgerichtet strebende kleine Denkmaschinen, der wird hier eines Besseren belehrt. Zumindest im Leben von Max Mustermann ist es so. In hellen Momenten bekommt er schon noch mit, dass da irgendetwas schief läuft – er weiß nur nicht so recht, was. Und das Auftauchen eines blonden Mädchens in der morgendlichen Straßenbahn (ja, ja, die blonden Mädchen) ist zwar so eine Art Lichtblick, so ein hübscher Charlie-Brown-Aufhänger, an dem sich etwas Herzberauschendes entspinnen könnte. Aber Max Mustermann hat nicht nur einen benebelten Kopf, eigentlich ist er auch noch geradezu krankhaft schüchtern. Mit seinen Kumpels Mehmet, Tim und Tom kann er das mit verbaler Kraftmeierei noch schön überspielen, da wird die Nacht in der Disko auch dann noch erzählenswert, wenn man schon vor Mitternacht hackedicht war und die Mädchen nur noch angelallt hat. Aber wie kommt man dazu, diesen kleinen blonden Lichtblick da in der Straßenbahn kennenzulernen?
Aber ist das eigentlich die Geschichte? – Wer nicht allzu viel Alkohol verträgt, der sollte beim Lesen vielleicht doch ab und zu einen Spaziergang einlegen. Denn so einfach kommt dieser Max Mustermann aus seinen Schleifen nicht heraus. Mancher wird diese Schleifen wiedererkennen. Sie lauern in jungen Jahren ziemlich oft, gerade dann, wenn man eigentlich innerlich gegen alles rebelliert, was die Älteren machen, wenn einem die Welt und die ganzen gesellschaftlichen Regeln so ziemlich egal sind. Da will man feiern, einen drauf machen und eigentlich auch gar nicht wissen, was der Prof. da vorn erzählt. Wäre da nicht die nächste Klausur, bei der sich entscheidet, wer im nächsten Semester wieder antreten darf und wer es vergeigt hat.

Was die Sache nicht leichter macht, denn mit so viel Frust im Kopf wird die Hürde noch höher und die innere Abwehr, sich für eine Klausur auch noch zu schinden, besonders groß. Hat diese den ganzen Alltag erfassende Lethargie auch was mit der Schüchternheit zu tun, die Max so hilflos macht gegenüber der geheimnisvollen Blonden, die sich gar nicht als so geheimnisvoll entpuppt, als er sie tatsächlich kennenlernt? Oder ist es nicht eher Juliette, die die Dinge in Bewegung setzt?

Das ist so recht nicht klar, denn Philipp Weigelt ist konsequent in seiner Erzählung, schildert die Welt komplett aus der Perspektive seines eher getriebenen als selbstbewegten Max Mustermann, dem die Dinge eher passieren, als dass er sie beim Schopf packt. Und damit scheint er im Hörsaal von Professor X nicht der einzige zu sein. Nur dass er noch einer der Wenigen zu sein scheint, die mitbekommen, dass auch der sonst so überlegen und abgebrüht wirkende Prof. so langsam austickt und irgendwann den müde lauschenden Dasitzern mitteilt, dass er die Nase voll hat. Von ihnen. Dass er einfach keine Lust mehr hat, seine Vorlesungen zu halten vor Menschen, denen völlig egal ist, was er erzählt und was er will. Irgendwie ein Enthusiast, wie er wohl selten geworden ist im bologna-normierten Studienbetrieb.

Den Hilferuf vernimmt Max wohl. Aber das reicht nicht, ihn aus seinem Tran zu holen. Die Probe-Klausur versaut er so gründlich, dass das persönliche Gespräch mit dem Prof. fast zwingend ist. Nur erlebt er hier einen Professor, der regelrecht laut wird, so enttäuscht ist er. Auch von Max.

Und wer da noch dachte, dass eigentlich die Liebesgeschichte mit Juliette die tragende Story ist, der lernt hier mal was anderes kennen: einen Burschen, der eigentlich das Zeug hat, die Dinge in die Hand zu nehmen. Einladungen, den eigenen Kopf zum Denken zu benutzen, zu widersprechen und selbstständig Lösungen zu finden, hat es genug gegeben in den vielen fast vertranten Vorlesungen. Sie kamen nur nicht so recht durch. Immerhin sind ja Max und seine Freunde Jungs von heute, aufgewachsen im deutschen Freizeitpark, mit RTL, Facebook, Party und Alkohol. Wer will sich da denn bilden, wenn bloßes Auswendiglernen reicht? Was überhaupt ist Bildung? Was meint dieser Prof., der auch durch seine Liebe zu Goethe auffällt wie ein Mammut im Streichelzoo?

Das Ergebnis ist – Goethe lässt grüßen – ein alkoholgetränkter, manchmal zermürbender, am Ende aber erstaunlich an Tempo gewinnender Bildungsroman, in dem Max (Juliette sei dank) ein Stück weit seine Schüchternheit überwindet, sich am Schopf aus dem Tran zieht und seinem Prof. zeigt, dass an ihm auf jeden Fall kein kluges Kerlchen verloren gegangen ist.

Unterschwellig ist das Ganze natürlich auch eine emotionale Auseinandersetzung mit den billigen Idealen und Suchtpotenzialen unserer Zeit. Und der Kluft, die sich auftut zwischen dem billigen (und entmutigenden) Schematismus der Bologna-Studienreform und der Frage, die der Prof. Max geradezu ins Gesicht schreit: Was ist eigentlich Bildung?

Bestellen Sie dieses Buch versandkostenfrei im Online-Shop – gern auch als Geschenk verpackt.

Eichenlaub
Philipp Weigelt, Einbuch Verlag 2014, 13,40 Euro

Immerhin schreit er den Richtigen an, der auch mit Restalkohol im Blut noch ahnt, dass das keine rhetorische Frage ist, sondern dieser wunderliche Kauz wirklich noch seine Schüler erreichen will und mehr von ihnen will, als auswendig gepaukte Sätze.

Wenn es so einen Professor an Leipzigs heiliger Alma Mater tatsächlich noch gibt, dann wurde ihm hier ein schönes Denkmal gesetzt, ein Dankeschön-Denkmal aus den Drangsalen der jugendlichen Ratlosigkeit. Dafür steht dann tatsächlich nicht das güldene Eichenlaub, sondern der Dickhäuter, den Prof. X in seine letzte Vorlesung einführt in der Hoffnung, dass die stumm Dasitzenden vielleicht doch noch was begreifen: das Rhinozeros.

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar