Sie lieben das Leipziger Neuseenland. Und sie lieben es auf eine besondere Art: Lothar Eiรmann und Frank W. Junge sind Geologen. Und Geologen kommen immer da ins Schwรคrmen, wo sie einen Einblick in die Geheimnisse der Erde bekommen. Geheimnisvoll hat noch keiner das Neuseenland genannt. Aber man sollte es endlich tun. Dafรผr gibt es schon zwei dicke schรถne Argumente.
Sogar mehr, wenn man alle Verรถffentlichungen von Lothar Eiรmann zum Neuseenland zusammen nimmt. Aber vor zwei Jahren haben die beiden Geologen begonnen, die Faszination zu systematisieren und mit groรen Bildbรคnden fรผr Jeden, der es wissen und sehen will, aufzubereiten. Schon der erste Band โDas Mitteldeutsche Seenland. Der Sรผdenโ war atemberaubend, zeigte nicht nur die groรen, neu entstandenen Seen im Leipziger Sรผdraum, sondern erzรคhlte auch die Bergbau- und Sanierungsgeschichte der letzten 20 Jahre. Aber auch die Geschichte der Verluste, denn es gingen ja dutzende alter Dรถrfer und Rittergรผter verloren, der 150 Jahre betriebene Bergbau hat eine komplette Landschaft umgekrempelt und vielen Besuchern der neuen Erholungsseen ist gar nicht (mehr) klar, dass an ihrer Stelle noch vor wenigen Jahrzehnten gigantische Mondlandschaften gรคhnten, in denen die Bagger lรคrmten, die Kohlezรผge quietschten, die Pumpen das Wasser absaugten โ und nahebei qualmten und ruรten die Kohlekraftwerke und Brikettfabriken.
Viel anders war es im Norden des mitteldeutschen Seengebietes auch nicht. Aus Leipziger Sicht ist es eher so, dass man hier die Entwicklung im Norden kaum wahr nimmt, obwohl dort โ nach dem weitgehenden Stopp fรผr den Kohleabbau, der auch dort weitere Dรถrfer und Stรคdte zu verschlingen drohte โ genau so eine reiche Erholungs- und Gewรคsserlandschaft entstanden ist wie im Sรผden und im Westen Leipzigs. Fรผr den Westen wollen die beiden Geologen noch einen eigenen Band vorlegen.
Ins Leipziger Bewusstsein gerieten die Seen im Norden vor allem durch die Flutereignisse von 2002 und 2013. 2002 gab es den groรen Muldedurchbruch in den Goitzschesee bei Bitterfeld, 2013 dann den Durchbruch in den Seelhauser See. Fรผr Geologen natรผrlich eher ein wissenschaftlicher Befund, denn bei solchen Ereignissen wird natรผrlich die Urgewalt der Flรผsse sichtbar und ein Phรคnomen, das die Fachleute dann gern beschreiben mit: โder Fluร ist in sein altes Bett zurรผckgekehrtโ. Sie denken sowieso in ganz anderen Zeithorizonten. 50 Millionen Jahre zum Beispiel โ das ist der Horizont, in dem die รคltesten Kohlevorkommen im mitteldeutschen Raum entstanden. Die jรผngsten sind 10 Millionen Jahre alt. Zwischendrin gab es immer wieder Umwรคlzungen der Geologie. Zeitweilig schwappte die Nordsee bis an ihre Ufer beim heutigen Leipzig oder gar bis nach Altenburg. Davon erzรคhlen noch heute gewaltige weiรe Sandstrรคnde, die die Abraumbagger freigelegt haben, als sie sich zu den darunter liegenden Kohleflรถzen vorarbeiteten, die ja auch nichts anderes sind als die Reste uralter Moore und Wรคlder.
Und nicht nur das Nordmeer hat dazu beigetragen, gewaltige Sedimente รผber den vergrabenen Wรคldern aufzuschichten. Auch die Eiszeiten verrichteten ihr Werk und hรคuften gigantische Morรคnen und Endmorรคnen an โ an denen dann die Geologen auch die immer neuen Vorstรถรe der riesigen Eismassen nachweisen konnten. Kaum ein Bergbaupark kommt heute ohne die gigantischen Haufen von Findlingen aus, die praktisch sรคmtliche Gesteinsformationen Skandinaviens reprรคsentieren.
Aber Eiszeiten bedeuteten auch jedesmal einen gewaltigen Eingriff in die Flusssysteme. Sie stauten die Flรผsse auf und brachten sie dazu, ihre mitgebrachten Sedimente abzulagern: Kiese und Sande. Deswegen gibt es in diesem reich bebilderten Band eben nicht nur Ausflรผge in die Geschichte des mitteldeutschen Braunkohlebergbaus, sondern auch in die Geschichte der Kiesgruben. Auch sie haben eigene Landschaftssenken geschaffen โ und wo diese vollgelaufen sind mit Grundwasser, sind ebenso eindrucksvolle Teiche und Seen entstanden.
Welche gewaltige Arbeit die mitteldeutschen Flรผsse geleistet haben, ist dann im Kapitel zu den Kiesseen ausfรผhrlich gewรผrdigt. Dort zeigen die Autoren auch noch einmal, wie Flรผsse die Landschaft prรคgen, wenn sie in hunderttausenden von Jahren ihre Flusstรคler ausarbeiten oder gleich mal wechseln, wenn sie die Gelegenheit finden oder โ wie bei der Elbe โ dazu gezwungen werden. Dass die Elbe heute รผber Wittenberg in die Nordsee flieรt, daran ist die Weichseleiszeit schuld, die ihren damaligen Lauf nach Norden Richtung Ostsee abriegelte und die Elbe zum Abbiegen zwang. Seitdem flieรt sie in einem Flussbett, das zuvor die Elster benutzt hatte. Davon erzรคhlen noch heute die Schotter, die hier ausgegraben wurden und werden.
Eiรmann und Junge wรคren auch keine Geologen, wenn sie dem massiven Eingriff in diese Landschaft, die der forcierte Bergbau in DDR-Zeiten bedeutete, nicht etwas Gutes abgewinnen kรถnnten. Denn nur solche Eingriffe verschaffen Geologen den breiten Einblick in die Tiefen des Erdreiches. Heute ist der mitteldeutsche Raum der geologisch wahrscheinlich am besten erkundete Gelรคndeabschnitt weltweit. Und nicht nur Geologen wurden beschenkt. Auch Palรคontologen und Archรคologen kamen auf ihre Kosten. Letztere leider erst verstรคrkt in den letzten 20 Jahren, als die wissenschaftliche Aufnahme neuer Abbaufelder staatlicherseits zur Pflicht geworden ist. Das Ergebnis sind faszinierende Funde einer dichten menschlichen Besiedlung fรผr die letzten 7.000 Jahre. Besonders berรผhmt wurden die Brunnenfunde, aber auch die wertvollen Artefakte der Rรถmerzeit. Der Fundreichtum ist so groร, dass bis heute erst 5 Prozent dieses Bestandes รผberhaupt wissenschaftlich aufgearbeitet wurden.
Aber auch im Leipziger Nordraum konnten gerade in den Schottern der eiszeitlichen Flรผsse viele Funde gemacht werden, die den zeitweiligen Aufenthalt des Menschen fรผr die letzten 330.000 Jahre belegen. Wahrscheinlich nutzte er die Warmzeiten, um auch in diese Regionen vorzustoรen und allerlei heute ausgestorbene Wildarten zu jagen, deren Knochen ebenfalls gefunden wurden.
Vieles auch aus dem Leipziger Nordraum lagert heute im Leipziger Naturkundemuseum. Man bekommt so eine Ahnung, was fรผr ein erstaunliches Museum das fรผr den mitteldeutschen Raum sein kรถnnte, wenn es seine Schรคtze รผberhaupt adรคquat ausstellen kรถnnte. Vielleicht wรคre es sogar mรถglich, selbst die Funde aus der โBitterfelder Bernsteinerdeโ zu zeigen, der wohl grรถรten Bernsteinlagerstรคtte, die je abgebaut wurde. Und in vielen Bernsteinen haben sich ja Fossilien der alten Wรคlder am Rand der Ur-Nordsee erhalten, Insekten zumeist, die im Harz der Bรคume gefangen wurden.
Natรผrlich schwรคrmen Geologen noch von viel mehr. Sie freuen sich รผber Faltungen, Schichtenfolgen und schรถne glatte, frei gelegte Profile. Deswegen wurden die Tagebaue, in denen ab 1990 der Betrieb zu Ende ging, regelrecht zur Pilgerstรคtte fรผr Geologen. Hier konnten sie mit eigenen Augen sehen, wie alles รผbereinander lag. Ganz unten die Kohleflรถze und Tone, darรผber die Sande und die Glimmersande (in denen der Bernstein steckte) und darรผber wieder Kohle, Sande und dann das ganze Gerรผmpel der Eiszeit.
Das Buch ist gespickt mit Fotos โ uralten aus den diversen Tagebauen der Region, jรผngeren aus der Endzeit des Kohleabbaus und der beginnenden Flutung der Seen. Die รbergรคnge sind flieรend. Denn neue Vegetation siedelte sich an, neue Biotope entstanden. Manche Seen sind abgelegen und im Grunde reine Naturreservate. Andere wurden zu Bade- und Erlebnislandschaften umgestaltet. Im Grunde ist es Bitterfeld, das heute von sich sagen kann, die seenreichste Landschaft in Mitteldeutschland zu haben.
Manche Seen und auch Halden sind freilich noch auf Generationen gesperrt, weil sie in der Vergangenheit zur massenhaften Ablagerung giftiger Industrierรผckstรคnde genutzt wurden.
Wieder andere Seen โ wie der Muldestausee bei Bitterfeld โ dienen heute sogar ganz gezielt als Auffangbecken fรผr die Schwermetalle, die die Mulde aus den sรคchsischen Bergbaugebieten mit herbeischwemmt. Hier werden sie abgefangen und gelangen so nicht bis nach Hamburg, wo sie fรผr teuer Geld abgebaggert und entsorgt werden mรผssten.
Natรผrlich ist das Buch auch mit Karten und Gelรคndeschnitten versehen. Wer so ein kleines bisschen geologische Neugier hat, kommt hier auf seine Kosten.
Aber natรผrlich gibt es auch zu jeder Seenlandschaft eigene Portrรคts mit Entstehungs- und Kultivierungsgeschichte. Und natรผrlich haufenweise eindrucksvollen Bildern, die jeden, der hier nicht wohnen darf, eigentlich neidisch machen mรผsste. Denn mit den Seen ist eine eindrucksvolle Landschaft entstanden, in der Fotografen bei blauem Himmel nur noch ein lichterfรผlltes Bild mit Wasser, Grรผn und Himmel nach dem anderen machen kรถnnen. Dabei haben die Seen oft lรคngst ein eigenes Profil. Die meisten sind auch mit Wander- und Radwegen gut erschlossen, laden also regelrecht ein zum Entdecktwerden. รber 50 haben die beiden Geologen entdeckt und beschrieben, auch ein paar der alten Teiche, die zwar selten, aber berรผhmt sind โ wie die Lรผbschรผtzer Teiche.
Wer den groรen Band zum Sรผden noch nicht hat, bekommt nach diesem Band zum Norden ganz gewiss Lust darauf. Und wird es gar nicht abwarten kรถnnen, bis die beiden Geologen auch ihren Band zum Westen des riesigen Bergbaureviers vorlegen, von dem man 1990 eigentlich nur die Rauch- und Ruรseite kannte, auch wenn zumindest auf dem Reiรbrett schon eine Gewรคsserlandschaft geplant war. Vollgelaufen wรคren die Tagebaurestlรถcher alle irgendwann. Nur ob die ganzen Infrastrukturen, die sie heute nutz- und erlebbar machen, auch entstanden wรคren, ist wohl eher fraglich. Und ob der Bergbau so deutlich zurรผckgegangen wรคre wie heute, wohl auch.
Und dabei ist selbst die 200-jรคhrige Bergbaugeschichte โ geologisch betrachtet โ nur ein Wimpernschlag der Zeit. Erst der tiefe Blick in die geologischen Schichten lรคsst ahnen, wieviel Zeit die Menschheit in dieser Landschaft noch vor sich haben kรถnnte. Wenn sie sich nicht zu dรคmlich anstellt.
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