Die bürgerliche Mitte ist kein ruhiger, geschützter Ort. Nirgendwo brodeln die (Verlust-)Ängste stärker als hier. Weil man auch weiß, dass man tatsächlich alles verlieren kann, denn alles ist nur Besitz, ein künstlicher Wert. Und man kann nicht einmal die Seiten wechseln, aussteigen. Weil dann alles, wirklich alles weg ist, was einen bürgerlichen Status und ein Bürger-Selbst definiert.

Den Mumm muss man erst mal haben. Leichter ist es da, zum Wut-Bürger zu werden und seinen Groll gegen all die zu richten, die nicht mitmachen, die nicht bereit sind, sich zu verwerten. Die Wertlosen.

War es vorher besser, bevor die Bürger anfingen, sich den Staat und die Gesellschaft gefügig zu machen?

Ein wenig scheint das so, wenn Große die bürgerliche Moderne mit den Ständegesellschaften der Vergangenheit vergleicht und manchmal auch die Armen und in ihrem Stand Gefügten als reichere, noch ganze Personen betrachtet, die sich noch nicht selbst zu Markte tragen (müssen) und damit als einen Wert verkaufen.

Aber das kann in diesem Fall ein Holzweg sein, auf den er da geraten ist. Auch weil er da und dort auch andeutet, dass der Weg zur Verbürgerlichung des Menschen ja nicht erst 1789 begonnen hat, sondern wohl schon Jahrhunderte oder gar Jahrtausende früher. Der Bürger wollte schon zur Form reifen, brauchte dazu aber wohl doch erst einen Mindeststand der entwickelten Produktivkräfte, wie das Marx mal beschrieb. Um Menschen zur Selbstverwertung zwingen zu können, braucht es die nötigen gesellschaftlichen Bedingungen. Eine Gesellschaft, die auch keine Tabus und keine Scham mehr kennt. Das ergibt bei Große ein paar deftige Kapitel auch zu Prostitution, Schamlosigkeit und völliger Würdefreiheit. Übrigens eins seiner Argumente, den brodelnden westlichen Unmut über all diese “Wilden” da draußen in der Welt zu erklären, diese “nackten Wilden”, die trotz aller primitiven Lebensverhältnisse ihre Würde nicht preis geben.

Diese wütenden, zutiefst beleidigten Bürger des Westens, die einfach nicht die Dankbarkeit bekommen, die sie dafür erwarten, dass sie diesem schamlosen Rest der Welt ihre Segnungen bringen, ihre Vorstellungen von einem werthaltigen Leben.

Für Große natürlich Anlass genug, auch Demokratie und Despotie zu vergleichen – und die dort jeweils gültigen Belohnungsmechanismen. Und Despotien haben auch welche. Sie verlangen zwar die komplette Unterordnung des Untertanen – aber sie verlangen nicht, dass er sich selbst zu Markte trägt und dann auch noch alle Beleidigungen und Erniedrigungen stillschweigend über sich ergehen lässt.

Was Spielräume eröffnet. Auch für moderne Despotien. Angebote für all jene, die sich in den bürgerlichen Demokratien tagtäglich entwertet fühlen. Gekränkt bis auf diesen kleinen Bodensatz, der vielleicht noch übrig bleibt und nach Wegen sucht, doch irgendwie wieder ein ganzer Mensch zu sein, raus aus der Opferrolle, kein Mensch mehr sein, der sein Leiden auch noch als Beglückung ausstellt. Man beginnt mit Jürgen Große auch ein bisschen anders nachzudenken über Terrorismus und seine Geburt mitten in einer Melange der bürgerlichen Kränkungen.

Aber auch über die Liebe als ein chaotisches Element – wenn sie noch echt ist und nicht wieder die so marketingträchtig ausgestellte Schamlosigkeit der Selbstdarsteller, die nichts mehr zu tauschen haben als falsche Worte und übertriebene Gesten.

Aber wo ist die mögliche Alternative?

Große selbst kritisiert ja die lähmende, zwangsläufige Alternativlosigkeit des bürgerlichen Daseins. Das keine Skrupel kennt, sich alles dienstbar zu machen, ganze “Völker leben zu lassen als Produzenten und Konsumenten des Überschüssigen und somit ein Menschenleben auf den Mangel zu gründen” (Seite 184). Da steckt sie ja, diese Urangst der Bürger: nie vollständig zu sein, immer unter einem Verlust zu leiden, bedrängt geradezu von all diesen Armen da draußen, deren bloße Existenz schon ausreicht, den Wertvollen in der Mitte die Luft abzuschnüren, die Panik hochzutreiben. Und so regiert am Ende nicht das Leben, sondern die (von Panik getriebene) Gier: “Die Gier benötigt keinen Nährstoff. Sie ist weder Drang noch Gefühl, sondern nackter, absolut gewordener Wille, der stolz ist auf seine Illusionslosigkeit.” (Seite 241)

Kein leichter Lesestoff. Eher einer, der unruhig macht und zum Teil auch wütend. Zumindest dann, wenn man noch so eine Ahnung hat, dass das Leben eigentlich kein Wert ist, der sich messen und verkaufen ließe, sondern ein Geschenk. Aber wer gelernt hat, alles zu taxieren, der ist auch nicht mehr fähig, Geschenke anzunehmen. Im Gegenteil: Der fürchtet sich geradezu davor, dass ihm die anderen auf die Pelle rücken könnten, zu nahe kommen. Nur ja nicht. Die Mitte ist bevölkert von lauter einsamen Produzenten ihrer selbst, Besitzstandswahrer, denen Sicherheit über alles geht. Bis ins tiefste gekränkt und unsicher in ihrem Stand.

Und dann diese andrängenden Anderen, die einem immerfort klar machen: Nichts ist sicher. Jeder Besitzstand ist auf Sand gebaut. Da kommt richtig Panik auf.

Jürgen Große “Der gekränkte Mensch. Dritter Band”, Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2015,24,95 Euro

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