Man denkt zwar an eine Trickfilmfigur, wenn man den Titel liest. Aber es geht in Philippe Smolarskis Debรผt-Roman nicht um eine Kindergeschichte, eher um einen Versuch, die Grauen des Nazi-Reiches einmal im Gewand einer vรถllig unerwarteten Literaturgattung zu erzรคhlen: der des Ganoven-Romans. Denn Fayvel alias Pavel alias Paul ist ein Ganove. Ein richtiger. Und ein jรผdischer noch dazu.
Und in Smolarskis Erzรคhlung geht er ein Wagnis ein, das im Jahr 1941 der reinste Hasard war: Er reist aus China, wo er seine Geschรคfte betreibt, in sein von der Wehrmacht besetztes Heimatland Polen, direkt nach Warschau. Und nicht nur dabei belรคsst er es: Er wagt sich auch noch ins von den Nazis eingerichtete Getto, um dort vielleicht die Spuren seiner Familie zu finden. Doch er merkt schnell, dass er dafรผr zu spรคt kommt. Das groรe Morden hat lรคngst begonnen und im Getto regiert der Hunger. Regelmรครig gehen SS-Streifen auf Menschenjagd. Und nur die verschiedenen politischen Untergrundorganisationen und ein guter alter Bekannter von Fayvel namens Chaim halten das Leben im Getto noch einigermaรen im Gang, wรคhrend die Gettoverwaltung und die Gruppe 13 mehr oder weniger mit den Besatzern paktieren.
Eigentlich genug alarmierende Zeichen, schnellstmรถglich wieder abzuhauen. Doch als Fayvel weiร, dass er seine Familie nicht mehr retten kann, hat er mit der aus Wien ins Getto verschlagenen Maria nicht nur eine neue (weitere) Geliebte, sondern auch eine neue Aufgabe, die ihn herausfordert zu zeigen, was ein echter Ganove ist, dem auch die Nazis und all ihre uniformierten Schnรผffler nicht das Wasser reichen kรถnnen.
Angelegt hat Smolarski โ Historiker, Archรคologe und Asien-Experte โ seine Geschichte als Teil eines Tagebuches. Den Leser lรคsst er durchaus im Unklaren, ob die Geschichte nun erfunden ist oder tatsรคchlich auf den Tagebuchaufzeichnungen eines 1968 in Paris verstorbenen alten Mannes basiert, die Smolarski durch Fayvels damalige Geliebte Maria zugespielt wurden. Ist es eine Abschrift, eine รbersetzung? Die Fleiรarbeit eines Historikers, der ein vรถllig unterbelichtetes Kapitel zur Erforschung des Warschauer Gettos thematisiert? Letzteres bestimmt. Denn dieser Teil des jรผdischen Kosmos wird ja zumeist vรถllig ausgeblendet, als hรคtte es in den groรen europรคischen Stรคdten nicht auch erfolgreiche jรผdische Geschรคftsleute vom Schlage Fayvels gegeben, die ihre Geschรคftsfelder sehr wohl gegen andere Ganoven in Warschau, Paris, Marseille zu verteidigen wussten und einen Ehrenkodex lebten, der tatsรคchlich wie einer aussieht, wenn man ihn mit dem Kadavergehorsam der Nazis vergleicht.
Am Ende ist es genau dieser Ehrenkodex, der fรผr Fayvel, Maria und ihren Begleiter Walter die unglaubliche Flucht quer durch Europa ermรถglicht. Selbst als sie der Abwehr in die Hรคnde geraten und eigentlich der Tod vorm Erschieรungskommando droht, helfen Fayvel seine lang geรผbten Fรคhigkeiten, sich als echter Ganove durchzuschlagen. Die Geschichte hat also eindeutig die Qualitรคten einer richtig guten Gangster-Story โ und Fayvel selbst muss mehrfach betonen, dass er in seinem Herzen eigentlich ein ausgekochter Verbrecher ist, sonst glaubt man es ihm einfach nicht.
Was vielleicht der verrรผckteste Kniff an der ganzen Geschichte ist โ denn gerade weil dieser zumeist eiskalt kalkulierende Meister der dunklen Geschรคfte mit den Mรคchten des NS-Reiches auf dem Hรถhepunkt von deren Macht zu tun bekommt, wird erst so richtig deutlich, wie sehr dieses Reich und seine Amtstrรคger jede Menschlichkeit, jeden Anstand, jede Wรผrde verkauft haben. Fayvel selbst nennt es einen um sich greifenden Wahnsinn, der alles erfasst hat. Und von der Warte des kรผhl und schnell kalkulierenden Gangsters ist das wohl auch die richtige Einschรคtzung: Er ist mit einem institutionalisierten Wahnsinn konfrontiert, der all seine Macht darauf verwendet, Menschengruppen aufgrund simpler รคuรerlicher Merkmale systematisch auszurotten.
Das ist so primitiv, dass es den anerkannten Ganoven geradezu herausfordert, diesen Verfolgern zu zeigen, dass er ihnen allemal noch gewachsen ist und ein Schippchen schlagen kann. Was nicht immer klappt โ seine chinesische Gespielin Meilin verliert er dabei. Und ohne die Hilfe anderer Mafiabosse, die mit ihm gute Geschรคfte gemacht haben, wรผrde er die gewagte Flucht bis nach Spanien auch nicht schaffen. Doch da Smolarski sich die รผblichen dramatischen Effekte spart (kein langes Klagen, kein Heraufbeschwรถren von รngsten, kein Ausmalen bedrohlicher, schier auswegloser Situationen, wie man das aus diversen nervenzehrenden Thrillern kennt), entsteht ein flotter, ungebremster Erzรคhlfluss. Dieser Fayvel lรคsst sich nicht in eine Ecke treiben, der hat den nรคchsten Schritt lรคngst bedacht, bevor der Leser die Seite wenden kann. Das liest sich schnell. Eher tauchen die รผblichen Spรผrhunde an Stellen auf, an denen sie keiner mehr erwartet hat โ auch Fayvel nicht. Immerhin ist das Nazi-Reich so dicht mit Geheimdiensten und Menschenjรคgern gespickt, dass sich auch ein ausgekochter Ganove keinen Moment der Unaufmerksamkeit leisten kann. Tut erโs doch, schnappt die Falle zu.
Das Buch ist โ man erfรคhrtโs erst am Ende โ eine รbersetzung. Schon die Untertitel verraten, wie unterschiedlich der Autor (in Straรbourg geboren) die Mentalitรคt der Leser einschรคtzt. In Frankreich erschien โFeivel le Chinoisโ mit dem Untertitel โCarnets du ghettoโ (Getto-Tagebรผcher) 2014, im selben Jahr kam โFayvelโs notebookโ auf englisch mit dem Untertitel โFrom Chinaโs Ganglands to the Warsaw Ghetto and Beyondโ heraus. Im Deutschen nun wird der โwahnwitzige Ganoveโ betont. Dadurch verschwindet das Warschauer Getto, dem Smolarski hier eigentlich einen weiteren Gedenkstein gesetzt hat, aus dem Titel. Und es ist โ gerade weil er so schrรคg ist โ ein besonderer Gedenkstein, denn er bringt โ nachdem jahrzehntelang stets der Ernst und die Trauer รผberwogen โ auch wieder jรผdischen Lebenswitz ins Spiel, die Unbekรผmmertheit, die neben Fayvel auch die anderen jรผdischen Protagonisten in dieser Geschichte so liebenswert machen. Und so nebenbei erinnert Smolarski natรผrlich auch daran, dass die Juden gerade im Warschauer Getto gezeigt haben, dass sie sich nicht einfach nur abschlachten lassen, wenn sie nur die Mittel haben sich zu wehren.
Es ist nun die zweite Publikation aus dem Leipziger Liesmich-Verlag, der sich auf ganz eigene Weise der Buchproduktion widmet, quasi jeden Titel wie ein Kind behandelt, das mit Liebe und besonderer Sorgfalt fรผr den Weg ins Leben vorbereitet werden muss. In diesem Fall wurde das Kind aus dem Franzรถsischen ins Deutsche geholt und liest sich so flott wie ein Ganoven-Roman aus รbersee. Und am Ende mag man den Ganoven irgendwie, auch wenn die Geschichte trotzdem traurig ausgeht. Die Zeiten sind eben nicht so. Und der Job leider auch nicht.
Philippe Smolarski โFayvel der Chinese. Aufzeichnungen eines wahnwitzigen Ganovenโ, Liesmich-Verlag, Leipzig 2015, 14,95 Euro
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