Wieder in Ulcinj, wieder in Montenegro. Am Rand Europas, könnte man sagen, wenn man die derzeitige Politik betrachtet. Balkan - das klingt wieder wie 1913, genauso abwertend, genauso fremd. Folge einer 25 Jahre dauernden Einmauerung. Die Deutschen müssen erst gar keine Mauern bauen, um die Welt draußen zu halten. Sie tragen ihre Mauern im Kopf. Dagegen hilft zumindest ab und zu ein Blick in die Bücher aus dieser Region.

Denn anders als Journalisten, die sich immer nur die Meldungen aus den Agentur-Tickern heraussuchen, die ins Raster ihrer Weltinterpretationen passen, schreiben Autoren wie Andrej Nikolaidis natürlich über ihre Welt in aller Komplexität, mit der Kenntnis der europäischen Literaturen und dem Wissen um die eigene Geschichte. Und einer wie der in Sarajevo geborene Nikolaidis spielt mit den Möglichkeiten. Er nimmt seine Heimat als Folie, macht es ganz ähnlich wie Roman Simic drüben in Kroatien. Es ist eine eigenwillige, aber auch sehr illusionslose Generation von Autoren, die im ehemaligen Jugoslawien zu Stimmen der Zeit geworden sind, die genau beobachten, ihre Mitmenschen porträtieren, so, wie sie sind, ihre Lethargie, ihre Anpassung, ihre Maskenhaftigkeit. Sie wissen, dass sie sich auf den äußeren Schein nicht verlassen können, dass der Krieg nur scheinbar alles geändert hat.

Die Wirtschaft ist zurückgeworfen. Die jungen Leute sind ausgewandert (wenn sie nicht von eisigen deutschen Innenministern gleich wieder zurückgeschickt werden), viele fahren über Landesgrenzen, um anderswo als Billigarbeitskräfte ihr Geld zu verdienen, während man im alten Städtchen Ulcinj an der montenegrinischen Küste froh ist, den Badetourismus zu haben, der den Ort mit sonnenverbrannten, schwitzenden Gestalten füllt. Und ausgerechnet da wohnt der Held von Nikolaidis’ 2006 in Zagreb erschienener Geschichte “Der Sohn”. Es ist eine bittere Geschichte. Ein bisschen in der Nachfolge von Sartre (“Die Hölle, das sind immer die anderen”) und Camus, meint der Verlag, irgendwie auch eine Hommage auf Thomas Bernhard mit seinen bändedicken Monologen voller Bissigkeit und Abscheu.

Und Abscheu plagt auch diesen Burschen, den gerade seine Frau verlassen hat, weil sie es mit ihm nicht mehr aushält, weil sie die sprachlose Situation nicht mehr aushält. Und dabei hält er eigentlich sich selbst nicht aus. Und das hat möglicherweise Gründe tief in der Kindheit, hat irgendwie mit seinem Vater zu tun, dessen Verhältnis mit seiner Frau am Ende völlig zerrüttet war. Doch selbst der Sohn beschimpft seine Mutter noch am Krankenbett, will von ihr nicht in die Pflicht genommen werden für ihren Tod. Schuld und – fehlende – Sühne dominieren die Kindheit. Und in seiner Reise durch die Nacht begegnet der Held allerlei Gestalten, die ihm das Muster einer zerstörten Vater-Sohn-Beziehung immer neu vor Augen führen. Auf den Straßen drängt sich das Volk, weil ein Vatermord die Leute erschüttert: In diesem Fall hat der Sohn seinen Vater ermordet, weil der ihn nie strafte, ihm alles verzieh.

Man merkt schon, dass hinter der teilweise auch sehr anschaulich geschilderten Abscheu vor den Anderen etwas anderes brodelt, so ein Gefühl, dass nicht nur der eigene Vater versagt hat, dass das Versagen der Väter sogar die Regel ist. Der eine verkauft seine Töchter als Prostituierte und legt damit ihre Rolle fürs Leben fest, der andere ist selber ein alles vergebender Sohn und verliert Frau und Kind an den schamlosen Nebenbuhler.

Es ist so eine schwere, schwüle Geschichte, die ihre eigentlichen Motive nicht offen zeigt. Man merkt es erst hinterher, dass hier einer nicht nur das alte Vaterbild demontiert und die schweigenden Möchtegern-Heiligen aus ihrer starren Rolle zu kippen versucht – was ihm vielleicht nicht gelingt, denn die rigiden Vater-Bilder sind ja Schutzmauern und Trutzbilder, hinter denen sich falsche Autorität und Unfähigkeit zur Veränderung verstecken. Man fühlt sich zwar mitgenommen in einem archaischen Strom der Gefühle, Bilder und Anklagen, ganz ähnlich wie bei Camus (“Der Fremde”). Aber ist das nun wirklich nur eine mediterrane Geschichte, die sich allein mit den Gefühlslagen der paternalistischen Gesellschaften da unten beschäftigt? Oder könnte man eine ganz ähnliche Sohn-Vater-Geschichte auch über die sächsische Provinz schreiben? Mit genauso kaputten, sprachunfähigen Vatertypen, die hinter ihrer Starrheit eigentlich nur eines wirklich verstecken: ihre Unfähigkeit zur Nähe, zum Gespräch, zum Sich-Selbst-Verändern? Oder mal so formuliert: ihre Unfähigkeit, sich auf die Welt einzulassen, ihr völlig fehlendes Welt-Vertrauen. Und wer hält dann schon aus, dass sich die Welt verändert, wenn er mit sich selbst nicht fähig ist dazu?

Und wie ist das mit den Müttern? Wo sind sie? Sind sie tatsächlich so überfordert damit, zwischen Vätern und Söhnen zu vermitteln? Oder sind sie selbst Teil des Problems, weil sie sich fügen?

Das Problem mit den Vätern – und damit den Männern – ist also viel umfassender, als man sonst so erzählt bekommt. Auch deutlich komplexer, als es unsere hysterischen Kollegen im Fall Köln erzählt haben. Alle europäischen Gesellschaften sind durchtränkt von diesem hilflosen Paternalismus, der zum verstehenden Zuhören nicht fähig ist und seine Angst und Unsicherheit im Umgang mit dem fremden Wesen hinter lauter autoritären Masken verbirgt und sinnlosen Verhaltensschleifen wie bei diesem Vater, der seine Vorwürfe an den Sohn nicht fähig ist zu artikulieren, ihn aber mit einer quälenden Vergebung regelrecht nötigt, sich zu distanzieren.

Man ahnt, warum dieser selbst einsam gewordene Held so wütend ist und das Haus, seine selbstgewählte Einsamkeit, nur noch verlässt, um sich Alkohol zu besorgen. Dabei weiß er selbst, was diese Sprachlosigkeit anrichtet: Sie macht den Sohn unfähig, sich solidarisch zu verhalten, auch wenn er eigentlich weiß, dass er handeln und helfen kann. Doch genau das bringt er nicht fertig.

Vielleicht ist es wirklich eine in sommerlicher Schwüle platzierte Hommage an Bernhard. Vielleicht ist es auch ein überfälliges Psychogramm für eine ganze Generation, die nun in kleinen, randlagigen Ländern gelandet ist, die nicht nur vom Krieg, sondern auch vom wirtschaftlichen Absturz gezeichnet sind. Man hat sich arrangiert und versucht, die alten Regeln noch irgendwie zu leben – so ein bisschen nachbarschaftliche Solidarität, die den Erzähler regelrecht abstößt.

Auch bei Simenon gibt es ein paar Romane, die sich mit diesem unlösbaren Konflikt der Söhne mit ihren ungreifbaren Vätern beschäftigen. Einige davon enden mit dem Selbstmord des Helden. Bei Nikolaidis passiert das nicht, was der durchaus düsteren Stimmung am Ende noch ein wenig die Schwere nimmt. Er versucht doch noch irgendwie den Weg ins Haus des Vaters zu finden, auch wenn er dort dann die recht staubige Bestätigung findet für die völlige Nichtexistenz des Vaters.

Aber spätestens hier ist einem dieses Muster so vertraut, sieht man die ganze Girlande konfliktunfähiger “Vater”-Figuren vor sich, die der Welt ihre Denkmuster aufzwingen, die einen mit scheinheiligem Getue, die anderen mit verbissenem Gesicht. Und die verhärtetsten mit blasiertem Stolz auf sinnlosen Demonstrationen gegen die Veränderung der Welt. Da können die großen, weichgespülten Medien von heute noch so oft über “neue Väterbilder” schreiben. Die schlichte Wahrheit ist: In den europäischen Gesellschaften regieren die alten Vaterbilder, die tristen Versteinerungen von Männern, die zu Dialog und zu Empathie unfähig sind.

Der Trost: Wenigstens die Autoren aus dem einstigen Jugoslawien schreiben derzeit über das Thema. Wohl auch, weil sie am eigenen Leben erfahren haben, was diese alten Steinherzen anrichten, wenn sie der Welt ihre Vorstellungen überhelfen – meist in eisiger Pflichterfüllung. Das zerstört gerade unseren Kontinent. Aber wissen sollte man es schon.

Andrej Nikolaidis Der Sohn, Voland & Quist, Dresden und Leipzig 2015, 16,90 Euro.

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