Wie stellt man eigentlich einen Film vor, den es noch gar nicht gibt? Denn das tut Thomas Taube ja in seiner Koje in der Preisträgerausstellung zum Marion Ermer Preis 2016 im Leipziger Bildermuseum. Und den Preis hat der Videokünstler ja für sein filmisches Arbeiten bekommen. Für Filme, die versuchen, diese komische Sache mit dem Erzählen zu hinterfragen.

Narration nennen es die Kunsttheoretiker, wenn sie ganz klug klingen wollen. Wenn Menschen Dinge vermitteln wollen, weben sie Teppiche aus Geschichten. Scheinbar ganz logisch, eins nach dem anderen. Oder als Szene in einem Bild, in dem Personen, Orte und sichtbare Dinge davon erzählen, was geschehen sein könnte und welche Bedeutung das Gesehene hat. Geschichten zielen immer auf Bedeutung – und auf Deutung.

Und da wird es spannend und gefährlich. Was der Betrachter und Zuhörer meist gar nicht mitbekommt. Denn an sich haben Ereignisse ja keinen Sinn, keinen höheren und auch keinen tieferen. Sie geschehen einfach und nur unsere Wahrnehmung der Zeitfolge gibt ihnen eine Logik, passt sie ein in ein Sinnmuster: Weil das und das passierte, war das da die (notwendige) Folge.

Die meisten Geschichten lügen. Sie laden Ereignisse mit Bedeutungen auf, die nicht drin stecken. Die genialsten Künstler sind sogar noch schlimmer: Sie verführen den Betrachter ihrer Kunst dazu, dem Wahrgenommenen selbst einen Sinn unterzuschieben. Meistens einen genau durch die Geschichte intendierten. Manchmal führt das zu seltsamen Situationen. Der Betrachter fühlt sich übers Ohr gehauen, irgendwie betrogen. Die Geschichte nötigt ihm einen Schluss auf, den er so nicht ziehen will. Er fühlt sich genötigt.

Aber wie geschehen Geschichten tatsächlich? Das ist im Grunde die Frage, die Thomas Taube beschäftigt – so wie schon Generationen von Filmemachern vor ihm, die sich sehr bewusst waren, dass Filme immer auch eine Verengung sind. Der Kamerablick verändert die Welt, schneidet Ereignisse ab, konzentriert sich auf Szenen, die dann im Zusammenschnitt scheinbar eine packende und logische Geschichte ergeben. Er schafft eine fiktionale Wirklichkeit, die der gewöhnliche Betrachter des Films aber als echt empfindet. Die Fiktion wird zur geglaubten Realität.

Was übrigens nicht nur auf Kinofilme zutrifft. Wer wüsste das besser als einer, der wie Thomas Taube die ganze Sinnerzeugung durch bewegte Bilder studiert hat in Leipzig. Seit 2010 schickt er immer neue Filmprojekte in die Welt, die das Thema des Geschichtenerzählens mit der Kamera umkreisen. Eindrucksvolle Filmstills sind in diesem kleinen Katalog abgebildet, zwischendrin auch Taubes fragmentarische Gedanken, mit denen er seine Filmideen notiert und reifen lässt. Möglichst in komplexen Strukturen. Denn eigentlich will er raus aus dem Korsett der stringenten Erzählung, der eindeutigen Narration.

Aber kann er raus? Die Bilder zeigen: Er versucht es zumindest. Es entstehen Bilder und Eindrücke, die offen sind, die noch keinen zwingenden Handlungsverlauf in sich tragen – und damit auch keine vom Regisseur aufgedrückte Geschichte. Gern arbeitet er mit Montagen, lässt unterschiedliche Orte und Szenen ineinanderfließen. Denn Dinge ereignen sich fortwährend. Stehen einfach nebeneinander, passieren, ohne dass der Beobachter weiß, was sie ausgelöst hat und wohin sie führen.

Erst der Erzähler gibt Ereignissen einen Sinn. Der Mensch kann nicht ohne. Er ist der große Erzähler, der sich immerfort Geschichten erzählen (oder ausdenken) muss, um die Geschehnisse um sich herum einzuordnen, zu werten und am Ende auch ein bisschen zu begreifen. Auch deshalb gehen wir ja ins Kino, ins Theater, glauben sogar im Fernsehen solche hilfreichen Krücken zu finden, die uns unser Dasein fassbar machen, ihm einen großen Sinn geben, eine Bewegungsrichtung auf ein großes „Richtig“ hin.

Was bei Taubes neuester Arbeit draus wird, wird man erst am 25. Januar erfahren, wenn sein Film „Situations“ fertig ist. An dem arbeitet er gerade. Im Museum der bildenden Künste sind seine Arbeitsschritte sichtbar: die ersten Ideen und Satznotate, die eine Art Raster ergeben, in das sich dann die ersten Skizzen einfügen. Oder auf das sie aufsetzen. Dann folgen die ersten Videosequenzen, beiläufig aufgenommen, aber schon dem Material ähnlich, das später entstehen soll. Die Filmcrew bekommt also so eine Art Wort-Skizzen-Bilder-Wolke, die dann am Drehort – in diesem Fall New York – umgesetzt werden soll in richtige Filmaufnahmen. Nur dass es auch kein Filmscript und auch kein Drehbuch gibt. Das lässt Raum für Zufälle, Störungen, die Unberechenbarkeit des Moments. Und selbst von den Geräuschen koppelt sich das Material ab. Die gibt es vorab schon mal aus einer Hördusche zu hören, als vorgeprobtes Soundmaterial, das dann die Bilder ergänzen soll, oder gar konterkarieren, widersprechen. Auflösen, was in den klassischen Regisseurfilmen zwingend eine Einheit ist, die den Betrachter nicht mehr herauslässt aus der Handlung, soll schon von vornherein verhindert werden.

Spannung ist ja nichts anderes, als vom Zeitstrahl einer linear erzählten Geschichte mitgerissen zu werden. Bis zum Finale, zum Showdown oder Happyend. Der Sinn ist dann meistens genau fünf Pfennig wert.

Aber was passiert, wenn Filme eben nicht versuchen, der Welt eine solche simple Geschichte überzustülpen? Macht es sich da einer nicht zu schwer?

Natürlich. Da arbeitet einer gegen den Strom, gegen die vielen so simplen und eingängigen Geschichten. Und gleichzeitig hinterfragt er unsere Wahrnehmung. Denn als Betrachter bringen wir ja schon haufenweise Geschichten mit. Unsere ganze Welt funktioniert so. Wir sind auf simple Erzählmuster getrimmt, auf Gut und Böse, Liebe und Hass, Sieg und Niederlage, schwarz und weiß. Und wir sind darauf trainiert, diese Erzählmuster überall zu erkennen. Und damit werden wir verführbar. Können an der Nase herumgeführt werden. Denn simple Geschichten sind hochemotional, schnell zu erfassen – und schon gibt es den Kurzschluss im Kopf.

Da kann man gespannt sein, ob es Taube mit seinem neuen Film gelingt, diese Fiktionen aufzulösen, den Zuschauer zum Grübeln zu bringen und zum Hinterfragen des Gesehenen: Ist es das, was es scheint? Drängt sich da eine (falsche) Geschichte auf? Schafft es Taube, die Erzählweise hinter seinem Film sichtbar zu machen? Denn erzählen muss er ja auch. Auch wenn er dem linearen Verführen auszuweichen versucht. Aber damit kommt er ja unserem wirklichen Erleben näher, das ein großes Kaleidoskop völlig unabhängiger Bilder, Erlebnisse und Szenen ist. Die Erzählarbeit, die Sinngebung, die übernimmt dann unser Gehirn von ganz allein. Und manche können dann stundenlang begeistert davon erzählen, sogar so, dass man sich selbst nicht wiedererkennt, obwohl man dabei und mittendrin war.

Auch das ist eine Gesellschaftskritik, eine, die die gängigen Erzählmuster unserer Gegenwart hinterfragt. Was natürlich wieder nur ein kleines Häuflein wirklich nachdenklicher und neugieriger Menschen erreichen wird. Was schade ist und auch tragisch. Denn es sind die feurigen und billigen Märchenerzähler, die der Geschichte ihren „Sinn“ aufdrücken und damit eigentlich Besinnungslosigkeit forcieren, für Tempo sorgen, das schließlich blind macht, weil eine simple Geschichte die nächste jagt, ohne dass ein Moment zum Innehalten und Stutzen bliebe: Macht das so tatsächlich Sinn?

Was ja nicht viel nützt, wenn alle anderen weiterrennen in der atemlosen Spannung, irgendwo doch über den letzten Sinn des Ganzen stolpern zu können.

Katalog „Thomas Taube. Marion Ermer Preis 2016“, Museum der bildenden Künste, Leipzig 2016, 8 Euro

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