Das mit der Revolution hat Bernie Sanders selbst in den Titel gesetzt. Oder sein Verlag, Thomas Dunne Books, wo dieses dicke Buch schon kurz nach Sanders’ Beendigung seines Wahlkampfs 2016 erschien. Auch wenn es nur die Kandidatenkür der Demokraten war – sogar deutsche Medien barmten ja herum, dass die so lange dauerte und Sanders nicht einfach aufgab. Deutschland hat längst ganz ähnliche Medienprobleme wie die USA.

Deswegen gibt es das aus Medienmacher-Sicht spannendste Kapitel ganz zum Schluss: „Die Medienkonzerne und die Bedrohung unserer Demokratie“. Denn dass Bernie Sanders überhaupt so beeindruckend gegen Hillary Clinton bestand, hat der Senator aus dem Bundesstaat Vermont gegen die großen Medien in den USA geschafft, gegen die großen Fernsehsender, die dem Rüpelkandidaten der Republikaner, Donald Trump, schon in den Vorwahlen 80 Mal mehr Aufmerksamkeit schenkten als diesem unabhängigen Gegenspieler von Hillary Clinton, der nicht polterte, pöbelte und log, sondern versuchte, ein ganzes Manifest in den Wahlkampf zu tragen.

Im Grunde das, was der Leser hier vor sich hat, von Sanders und seinen emsigen Unterstützern gleich nach dem Vorwahlkampf niedergeschrieben. Was auch nicht überrascht, denn Sanders hat seinen Wahlkampf auch als einmalige Gelegenheit begriffen, Amerika wieder mit seinen Problemen zu konfrontieren und mit Lösungen, die dem mitteleuropäischen Leser so erstaunlich vertraut vorkommen.

Da wundert man sich eher, dass Sanders, der sich mit Graswurzelarbeit vom Bürgermeister über den Kongress hinaufgearbeitet hat bis in den Senat und sich selbst als Demokratischen Sozialisten bezeichnet, überhaupt so weit kam.

Dafür hatten ihn einige deutsche Medien schon an die Wand genagelt. Obwohl das Wort vom  demokratischen Sozialismus selbst bei der SPD (zumindest ihrem Jugendverband) noch manchmal vorkommt und früher sogar mal bei der CDU im Programm stand, in jener kurzen Phase der Besinnung, als sich westwärts der Zonengrenze die Mehrheit einig war, dass die großen deutschen Konzernbosse eine gehörige Portion Anteil am Aufstieg des Nazi-Reiches, an Krieg und Holocaust hatten. Bekanntlich wechselten die Meisten dann schnell wieder ihr Mäntelchen. So wie nach 1989 im Osten auch. Deswegen sieht alles so heilig aus, obwohl hinter den Kulissen auch hier geschraubt und gesägt wird, um das zu demontieren, was im Westen als soziale Marktwirtschaft entstand und die Republik tatsächlich erst stark gemacht hat.

Ganz ähnlich war es ja auch in den USA durch die vielen Reformen, die Franklin D. Roosevelt noch in den 1930er Jahren begann. Man muss einfach immer wieder daran erinnern, was der Finanzcrash von 1929 gerade in den wichtigsten Industrienationen der Welt damals anrichtete, wie er Millionenheere nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA in Armut stürzte. Und dass es in beiden Ländern Jahre brauchte – in den USA acht Jahre – um die Folgen dieser Finanzkatastrophe in den Griff zu bekommen und mit klugen Gesetzen wieder Stabilität in die Wirtschaft und die Gesellschaft zu bringen. Ergebnis dieses unter Roosevelt gestarteten „New Deal“ war der gewaltige Wirtschaftaufschwung in den USA nach dem Weltkrieg und die Entstehung einer Mittelklasse, die über ein halbes Jahrhundert der Stolz des Landes war.

Wer sich mit Deutschland und dem sogenannten „Wirtschaftswunder“ beschäftigt, weiß, dass es hier genauso war, wenn auch durch Nazis und Weltkrieg um 12 Jahre verzögert.

Und da liest man nun Bernie Sanders und sieht: Was er in seinem Wahlkampf um die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten forderte und formulierte (und was eigentlich seine ganze politische Karriere seit den 1970er Jahren prägt), das läuft in weiten Teil auf etwas hinaus, was der sozialen Marktwirtschaft der Bundesrepublik frappierend ähnelt. Was kein Zufall ist. Denn diese Austarierung einer Gesellschaft, in der auch Arme, Alte und Kranke eine Absicherung finden, Bildung in weiten Teilen kostenlos ist, Umweltschutz ein Thema ist und so etwas wie eine in Ansätzen solidarische Finanzierung des Staatswesens existiert, war ja auch mal Grundlage amerikanischer Politik. Bis dann die die Reaganomics begannen, alles wieder zurückzudrehen und dem Mittelstand die ökonomische Basis entzogen.

Ganz so weit ist es in Deutschland noch nicht.

Aber dass die USA längst ein tönerner Riese sind, dessen Infrastrukturen so langsam kaputtgehen, wo Millionen Menschen ohne Krankenversicherung sind, ganze einst blühende Landstriche verarmt sind, Bildungssystem, Gesundheitswesen und Polizei in der Krise stecken, das schwappt zumindest ab und zu in Nachrichten auch nach Europa herüber. Auch wenn man hier genauso fixiert auf die Pöbeleien eines Donald Trump war und ist. Auch hiesige Medien lieben die auf den Zirkus reduzierte Politik-Geschichte – den ewigen Showdown von Republikanern und Demokraten. Da schreibt man dann auch mal Präsidenten wie Obama zu Lichtgestalten hoch, übersieht aber geflissentlich, was auch die von wenigen riesigen Konzernen betriebenen Großmedien der USA immer wegblenden. Sie schreiben und senden einfach nicht drüber – nicht über den schäbigen Umgang mit den Veteranen, die Käuflichkeit der Politiker, den gigantischen Einfluss der Milliardäre auf die Parlamente oder gar die Sorgen der Millionen Menschen, die schon unter den neoliberalen Reformen seit Ronald Reagan litten und noch viel stärker unter den Folgen der Freihandelsverträge, die die USA seit den 1990 Jahren abschlossen. Die allesamt – Bernie Sanders kennt ja die Zahlen – das Gegenteil dessen bewirkt haben, was die Erfinder dieser Verträge behaupteten. Sie haben keine neuen Arbeitsplätze in den USA geschaffen, sondern Millionen Arbeitsplätze vernichtet, weil die großen Konzerne all die zuvor tariflich bezahlten Arbeitsplätze ausgelagert haben. Outgesourct, wie es so schön heißt.

Die Freihandelsverträge haben die einstmals mächtige Industrie der USA verschwinden lassen. Die berühmten Konzerne lassen heute allesamt in Mexiko, China und anderswo zu Billiglöhnen und unter menschenunwürdigen Bedingungen produzieren.

Das ist der Punkt, an dem Donald Trump mit seinem „Make America great again“ einhaken konnte – nur hat er kein einziges Programm in der Tasche, das Amerika tatsächlich wieder zu einer Nation machen könnte, in der der Reichtum gerecht verteilt wird, soziale Programme für alle da sind und die Menschen vor allem wieder von ihrer Hände Arbeit leben können. All seine Pläne zielen auf das Gegenteil ab – bis hin zu seiner „gigantischen Steuerreform“, die die Superreichen in den USA, die ihre Vermögen seit Reagan schon vervielfacht und in astronomische Höhen getrieben haben, ein weiteres Mal von Steuern befreien soll. Und das in einer Situation, in der viele dieser Superreichen die hohe Kunst beherrschen, ihre Steuerlast nicht nur auf Null zu rechnen, sondern ihre Vermögen auch noch in Offshore-Paradiesen lagern und vom amerikanischen Staat auch noch Milliardenhilfen ertricksen. Massiv erlebt mit jenen Riesenbanken, die 2007/2008 beinah die Weltwirtschaft in den Zusammenbruch getrieben haben und mit Billionen Dollar (tatsächlich: Billionen) vor der Pleite gerettet wurden. Sie sitzen allesamt wieder in der Regierung und schreiben die nächsten Gesetze mit, mit denen der amerikanische Steuerzahler ausgeplündert werden soll.

Das Erstaunliche ist: Dieser Bernie Sanders mit seiner Analyse und seinen Lösungsvorschlägen ist einem erstaunlich nah. Denn dieselbe Gruppe der gierigen Superreichen hat ja auch in Europa die letzten Jahre massiv genutzt, ihre Art verlogenes Denken zu verbreiten, riesige Thinktanks zu bezahlen und Politiker zu kaufen. Was noch nicht ganz so leicht ist wie in den USA. Aber wie massiv der Angriff auf die (ach so teuren) Sozialsysteme ist, stets gekoppelt mit einem einzigen Gejammer, die Steuern seien zu hoch, kann jeder beobachten. Dazu muss man nur die einschlägigen Wirtschaftsmagazine lesen und die fadenscheinigen Reformprogramme einiger Parteien.

Tatsächlich formuliert Sanders ein Programm für eine gerechte Gesellschaft, in der wieder alle ihre Bürger eine Chance auf echte Teilhabe haben, auf einen wohlverdienten Wohlstand. Das beißt sich nicht mit Marktwirtschaft. Aber es beißt sich mit der neoliberalen Gier der Superreichen, die nicht mal dran denken, die zusammengerafften Gewinne wieder in ihr Land zu investieren. Es sei denn – wie die Brüder Koch – dass sie Politiker und Parteien kaufen, die ihre chauvinistischen und zutiefst rassistischen Vorstellungen von einem Staat in Gesetze gießen und durch die Parlamente prügeln. Bis hin zu all den Vorstößen, auch all das zu privatisieren, was ureigenste staatliche Aufgabe ist – von Schulen über das Gesundheitswesen bis hin zu Gefängnissen. Alles regelrechte Gelddruckmaschinen, wenn die neuen privaten Betreiber die Standards nach unten fahren und sich die staatlichen Gelder in die eigene Tasche stopfen. Auf allen drei Feldern sind die USA heute – obwohl sie teilweise die höchsten Kosten haben – auf dem Stand eines Entwicklungslandes.

Und natürlich merken das die Amerikaner, wenn ihr stolzes Land den Bach hinabgeht.

Nur: Es entsteht ein schizophrener Zustand, wenn die Menschen vor Ort diese Erfahrungen machen, in den großen Medien aber nichts darüber berichtet wird. Dass Sanders im Vorwahlkampf so viele Wähler mobilisieren und Hillary Clinton sogar ganze Bundesstaaten abnehmen konnte, hat genau damit zu tun: Er sprach auf seinen Wahlkampftouren von diesen wirklichen Problemen der Menschen. Und als ihn einige wohlwollende Talkmaster einluden, konnte er es auch im Fernsehen thematisieren. Er führte einen anderen Wahlkampf als die üblichen Vertreter des politischen Establishments. Und das Buch zeigt, dass er sich für all die Probleme, die er beschreibt, auch finanzierbare Lösungen ausgedacht hat. Das Buch ist im Grunde ein richtiges politisches Programm, sehr detailliert. Man merkt, dass sich der eigenwillige Senator mit all diesen Themen gründlich beschäftigt hat.

Und man staunt natürlich, dass das die sozialen Demokraten in Deutschland, wo die Karre noch nicht so tief im Dreck steckt, nicht fertigbringen. Können sie es nicht? Wollen sie nicht? Oder haben sie nicht das Format?

Denn die neoliberalen Schäden sind auch hierzulande zu besichtigen, in anderen europäischen Ländern ebenfalls. Und man repariert sie nicht damit, dass man hofft, neue Freihandelsverträge, neue Privatisierungen und Deregulierungen würden irgendwie wundersamerweise die Produktivität hochschrauben und lauter gut bezahlte neue Arbeitsplätze erzeugen. Das Gegenteil ist der Fall: Gerade wenn Regierungen dafür sorgen, dass mehr Menschen am Wohlstand teilhaben, einen auskömmlichen Arbeitslohn haben und damit auch wieder als Bittsteller bei staatlichen Sozialleistungen wegfallen, dann prosperiert das Land. Und vor allem schmeißt es seine jungen Menschen, die sich den mit enormen Schulden verbundenen Aufstieg zu höherer Bildung nicht leisten können, nicht einfach weg, treibt sie nicht in Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und Kriminalität.

Zu Recht betont Bernie Sanders etwas, was die meisten Politiker vergessen zu haben scheinen: Alles hängt mit allem zusammen. Ein Land entfaltet seine Kräfte erst, wenn es seine Bürger respektiert, fördert und einbindet.

Und am Ende ist Sanders auch nicht taurig, dass er die Vorwahl verloren hat. Denn allein der Vorwahlkampf hat ihm eine Plattform für seine Vorschläge geboten, die er vorher in keinem Medium bekommen hat. Und das alles mit einer Graswurzelfinanzierung. Hinter ihm standen nicht die schwerreichen Milliardäre, die sich für gewöhnlich mit ihren „Wahlkampfspenden“ auch gleich die genehme Politik kaufen. Sanders ist auch überzeugt, dass die Bewegung, die ihn getragen hat, nicht verschwinden wird. Dass sich künftige Kandidaten mit diesem Menschen und ihren Themen werden beschäftigen müssen.

Ob es die gigantischen Medienkonzerne tun werden, da ist er selbst skeptisch. Mit dem Medienthema geht Sanders im Grunde über den Kern des Buches hinaus und zeigt, wie Journalismus missbraucht werden kann. Da müssen nicht mal Falschmeldungen produziert werden. Da muss nur klar sein, wie der Milliardär tickt, dem die Zeitungen und TV-Stationen gehören. Das wird ganz von allein zur Denkmaxime. Wer da anheuert, richtet sich nach diesen Denkverboten – und berichtet eben nicht über all die Themen, die Sanders in diesem Buch aufblättert. Die Lüge beginnt mit dem Verschweigen – bis hin zu den gewaltigen Umweltskandalen, die die riesigen Energiekonzerne anrichten. In manchen Gegenden der USA sieht es längst viel schlimmer aus als im geplagten China.

Das Land, das Sanders beschreibt, wäre ein anderes Amerika, eines, das jenem Amerika ähnlich wäre, das Roosevelt einst vor Augen hatte.

Und am Ende kommt Sanders zu demselben Schluss, zu dem auch einige bisher sehr zaghafte europäische Initiativen gekommen sind: „Nein, wir werden diese Ziele nicht erreichen, wenn wir die Demokratie nur aus der Zuschauerperspektive betrachten und annehmen, dass andere für uns die Kastanien aus dem Feuer holen werden. Das werden sie nicht. Die Zukunft liegt in euren, in unseren Händen. Machen wir uns an die Arbeit!“

Oder mal so formuliert: Jeder sozial denkende Demokrat hätte mit einem Bernie Sanders als Präsidenten einen echten Partner jenseits des Großen Teiches gehabt, die Welt ein gewaltiges Stück besser zu machen.

Das hat nicht ganz geklappt. Aber Sanders hat mit seiner Kampagne auch gezeigt, dass man gegen die Medienmacht der Großkonzerne sehr wohl gewinnen kann. Es müssen nur alle mitmachen. Zuschauen ist nicht mehr.

Bernie Sanders Unsere Revolution, Ullstein Verlag, Berlin 2017, 24 Euro.

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