Fahrräder, Fahrräder, Fahrräder! Im Museum für angewandte Kunst sieht es derzeit aus wie in einer Designerwerkstatt für flotte Zweiräder. Oder wie in einem Store für die verrücktesten Bikes, die es derzeit zu kaufen gibt. Vom 22. Juni bis zum 1. Oktober ist diese Sonderausstellung zu sehen, die nicht nur zeigt, dass Fahrräder heute zum modernen Lebensstil gehören.

Auch nicht, dass sie schon lang nicht mehr langweilig aussehen müssen. Im Gegenteil: Die begabtesten Designer haben das Rad als neues Kunst- und Kultobjekt entdeckt. Und das hat Gründe, über die zum Beispiel der Braunschweiger Professor für Transportation Design Stephan Rammler und der (Rad-)Journalist Gunnar Fehlau ausführlich schreiben. Gleich im Vorspann dieses Buches, das einerseits ein einrucksvoller Katalog dessen ist, was derzeit im Grassi-Museum für angewandte Kunst an modernsten Rad-Entwicklungen zu sehen ist, andererseits auch etwas, was man eigentlich aus den Denkfabriken moderner Großstädte erwarten könnte. Wenn es so etwas gäbe und deutsche Kommunalverwaltungen tatsächlich Visionäre beschäftigen würden, die die Stadt von Morgen heute schon denken können.

Aber solche Leute werden in städtischen Planungsstäben nicht angestellt. Deswegen kommt daher so wenig an wirklich griffigen Zukunftsvisionen. Obwohl die Zukunft längst begonnen hat. Alle wissen es. Überall in den Großstädten der Welt ist das Fahrrad als Alternative zum Automobil auf dem Vormarsch. Es verbreitet keine Abgase, erzeugt keine Staus, ist auf kurzen Distanzen schneller und flexibler – und man sucht nicht vergeblich nach einem Parkplatz.

Das Problem ist eher: Es mangelt in den meisten Städten an gut ausgebauten und vor allem sicheren Radrouten. Die deutschen Städte wurden über Jahrzehnte allesamt autogerecht ausgebaut. Automobile beanspruchen den Straßenraum, egal, ob sie fahren oder für 90 Prozent des Tages einfach nur am Straßenrand herumstehen. Aber zum Glück gibt es da die großen Städte in Dänemark und den Niederlanden, die schon vor Jahren angefangen haben, ihre alten (Auto-)Verkehrsprobleme dadurch zu lösen, dass sie die Infrastrukturen fürs Fahrrad geschaffen haben. Anfangs gern belächelt vom Autoland Deutschland. Aber mittlerweile ist auch hierzulande ein anderes Denken eingezogen. Das Automobil verliert seinen alten Glanz als Prestigeobjekt. Immer mehr Großstädter können ihr urbanes Großstadtleben ganz ohne Auto denken.

Und immer mehr Städte beginnen auch eine Radverkehrsstruktur zu skizzieren, die den Verzicht auf das Auto zumindest denkbar macht. Auch wenn die Schritte viel zu langsam sind, immer wieder verzögert von politischen Bremsgeräuschen. Längst hängt die Verkehrspolitik der Entwicklung gnadenlos hinterher, fehlen die Fördergelder für den Radwegeausbau, während junge Familien in den Großstädten längst begonnen haben, nicht nur schicke Stadträder, flotte Rennräder und Mountainbikes in ihren Alltag einzubauen. Längst zeigt man Stil und Lebensart mit Fahrrädern, die mehr von der Persönlichkeit ihrer Fahrer verraten als es jedes Automobil kann. Im Grunde gibt es für jeden Charakter längst das passende Rad. Kinder wachsen mit Fahrrädern auf und das einst zu Urgroßomas Zeiten als Lastesel in unseren Städten sichtbare Lastenfahrrad der Bäcker, Boten und Handwerker ist längst zurück, neu designt, vielfältig nutzbar und längst so ausgereift, dass es die Existenz eines Autos für die Familie völlig ersetzt, wie Juergen Ghebrezgiabiher in seinem Beitrag schreibt.

Selbst große Logistik-Konzerne haben das Fahrrad als schnelle und preiswertere Alternative „für den letzten Kilometer“ (wieder-)entdeckt.

Man bekommt so eine Ahnung davon, wie überflüssig das Automobil in unseren Städten in naher Zukunft sein wird. Viel zu unflexibel, umweltschädlich, platzverschlingend. Die drei großen Einleitungsbeiträge in diesem Buch sind freilich keine Zukunftsentwürfe. Tatsächlich beschreiben sie die schon jetzt erlebbaren Veränderungen, die sich auch in der Gründung dutzender kleiner und mittlerweile auch größerer Fahrradproduktionen in Deutschland ausdrücken. Denn all diese zum Teil extravaganten Fahrräder brauchen natürlich Abnehmer, sonst funktioniert die Sache ja nicht. Und die Menschen kaufen. In 70 Prozent der Haushalte gehört das Fahrrad zum Normalbestand. Die Frage (die bis jetzt noch nicht geklärt ist) ist vor allem: Ergänzt das Fahrrad den Privatbesitz an Autos oder ersetzt es ihn?

Was ja die Frage impliziert, die Stadtplanern so schwerfällt: Wie kann eigentlich eine Stadt aussehen, die wirklich fahrradfreundlich ist? In der das Radwegenetz so gestaltet ist, dass es auch von Berufspendlern, Familien und älteren Radlern als sicher und selbstverständlich empfunden wird?

Und auch der andere Trend, der die Fahrradnutzung befeuert, wird nicht vergessen: Das Comeback der E-Bikes, nun als Pedelecs (auch wenn es nicht dasselbe ist). Selbst das um E-Kraft bereicherte Rad hat seinen Ruch als Vehikel für ältere Leute verloren. In immer neuen Varianten bereichert es den Markt und macht selbst anstrengendere Touren für Menschen erlebbar, die nicht unbedingt schweißgebadet im Sattel sitzen wollen.

Im Grunde beschreiben die Autoren einen Gezeitenwechsel, der längst im Gang ist. Bei den Menschen sowieso. Immer mehr Lebensbereiche können problemlos mit dem Rad absolviert werden. Oder mit unterschiedlichen Rädern für unterschiedliche Bedürfnisse. Und das tun gerade die jungen Großstadtbewohner so selbstverständlich, dass man ihren Mut bewundern muss, mit dem sich sich – selbst mit Kindern – mitten hinein wagen in ein Verkehrsgewühl, in dem noch immer dem PS-starken Auto die Priorität eingeräumt wird und Politiker zusammenzucken, wenn auch nur die Forderung aufkommt, das Auto könnte ja auch mal ein bisschen Straßenraum abgeben.

Denn Fakt ist: Wenn gut ausgebaute Radwege da sind, werden sie auch genutzt, steigen immer mehr Menschen ganz selbstverständlich aufs Rad um. Oder verwirklichen sich richtige Rad-Träume.

Denn viele der Modelle, die in der Ausstellung gezeigt werden und in diesem Buch porträtiert werden, sind natürlich Mobile, die den Traum vom selbstständigen Fahren auf den Punkt bringen. Bewegung wird zum Kunstobjekt, schnittig gestaltet und trotzdem alltagstauglich. Das Rad musste nicht einmal neu erfunden werden, denn der klassische Typ funktioniert bis heute. Viel problemloser als all die komplizierte Technik fürs Auto. Wobei natürlich auch schon einige Firmen unterwegs sind, die auch das Fahrrad gern mit vernetzter Elektronik zusammenbringen möchten. Nicht jeder Trend steht schon fest.

Etliche Räder sind so genial, dass sie wohl unserer Zeit noch um Jahre voraus sind und nur als Prototyp von Tüftlern und Designern existieren. Aber gerade da wird die Profession des Museums deutlich, das hier an einem durchaus überraschenden Alltagsobjekt zeigt, wie der menschliche Wunsch, die Dinge noch schöner, perfekter und eindrucksvoller zu gestalten, seit 15 Jahren weltweit auch das Fahrrad erfasst hat.

Wobei auch der chinesische Künstler Ai Wei Wei nicht vergessen wird, der mit Scharen klassischer chinesischer Fahrräder in riesigen Installationen auf seine Weise Gesellschaftskritik an seinem Heimatland China übt. Eigentlich sogar liebenswürdige Gesellschaftskritik, denn 20 Jahre Boom haben ausgereicht, um den Chinesen zu zeigen, welche verteufelten Folgen die Massenmotorisierung hat. Schon heute ist absehbar, dass die chinesischen Riesenmetropolen wieder zu Fahrradstädten werden. Und selbst in Städten wie Berlin, Paris und New York greift die Erkenntnis um sich, dass man mit dem Fahrrad nicht nur ein anderes Lebensgefühl gewinnt, sondern auch ein völlig neues Verhältnis zur Stadt und den städtischen Räumen.

Da verblüfft eher, dass gerade bei den Fahrrad-Neuerfindern so viele positive Beispiele in Leipzig gefunden wurden, wo sich die Stadt doch so verkniffen schwertut, wenn es tatsächlich darum geht, eine richtige fahrradfreundliche Verkehrsstruktur zu schaffen. Das Buch jedenfalls zeigt, wie weit die Entwicklung längst gediehen ist und wie viel Rückhalt sie in der Bevölkerung hat, die die neuen Trends immer verrückterer Zweiräder mit Begeisterung aufgreift. Wobei die Auswahl heute so groß ist, dass man alles bekommt, was einem das eigene Stilempfinden rät – vom recyclebaren Fahrrad aus Afrika über den noblen Klassiker bis hin zu Fahrrädern, die sich mit zwei Handgriffen zusammenklappen lassen und dann in den Rucksack passen oder zumindest locker in jeder S-Bahn Platz finden. Auch das ein Trend, den die Planer völlig unterschätzt haben: Dass sich Pendeln auch mit Fahrrad lohnt, wenn es nur genug Platz in den verkehrenden S-Bahnen gibt.

Olaf Thormann (Hrsg.) Bikes!, Hirmer Verlag, Münche 2017, 29,90 Euro.

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