Am 26. Februar sagte Sachsens Kultusminister Christian Piwarz (CDU) etwas durchaus Erhellendes. Das war der Tag, als sein Ministerium die kommenden Bildungsempfehlungen ankündigte. Da sagte er tatsächlich so etwas wie: „Das Wichtigste für die Schüler ist, dass sie erfolgreich lernen und motiviert bleiben.“ Da ist die gute Frage: Wie lange bleiben Kinder im sächsischen Bildungssystem motiviert? Die Bildungsempfehlungen erzählen davon, dass die Motivation für viele Kinder schon in der Grundschule endet.

Er sagte auch noch: „In Sachsen gibt es viele verschiedene Wege zu einem erfolgreichen Schulabschluss, sei es an der Oberschule oder am Gymnasium. Das Abitur ist nicht automatisch die Eintrittskarte für eine gut bezahlte Arbeitsstelle und ein erfülltes Leben. Die Wirtschaft sucht vor allem Nachwuchskräfte, deren Stärken in der praktischen Ausbildung liegen. Dafür ist die Oberschule am besten geeignet.“

Ob es so ist, werden die Kinder, die an Oberschulen landen, selbst am besten wissen.

Nach den aktuellen Anmeldezahlen werden 44 Prozent der Viertklässler im neuen Schuljahr an ein Gymnasium wechseln.

Und es ist wie in den Vorjahren: In ländlichen Regionen wechseln deutlich weniger Kinder aufs Gymnasium, während die beiden Großstädte Dresden und Leipzig überdurchschnittliche Anmeldezahlen haben. In den Landkreisen liegen die Anmeldezahlen zwischen 32,6 Prozent im Erzgebirgskreis und 43,9 Prozent in Nordsachsen.

Was schon insofern interessant ist, als der Wert für Sachsen insgesamt bei 44,1 Prozent lag. Das heißt: Alle Landkreise liegen unter diesem Wert. Hier macht sich bemerkbar, dass in den Landkreisen immer weniger Kinder leben und damit auch das Schulnetz deutlich ausgedünnt ist. Über die Schulwahl entscheidet dann meist die Entfernung zur nächsten Oberstufenschule. Was eben auch bedeutet: Die Landkreise büßen auch bei der Bildung weiter an Wettbewerbsfähigkeit ein.

Es ist zwar ganz nett, wenn der Kultusminister gern viele Kinder auf die Oberschule bringen möchte. Aber das Denken dahinter ist falsch, gerade weil die Schüler nach der vierten Klasse schon sehr früh getrennt werden und damit auch früh erfahren, was es bedeutet, aussortiert zu werden. Das hat mit dem Gleichheitsgrundsatz nichts mehr zu tun. Die sächsischen Eltern wissen das und plädieren mehrheitlich für ein längeres gemeinsames Lernen mindestens bis zur sechsten Klasse.

Wogegen sich die beratungsresistente CDU-Spitze bis heute sträubt. Natürlich würde das einen Umbau der Schullandschaft bedeuten.

Was passiert aber, wenn genug Gymnasien in geringer Entfernung vom Wohnort vorhanden sind? Dann versuchen natürlich möglichst viele Eltern ihre Kinder eben doch aufs Gymnasium zu bekommen. Denn ihre Erfahrungen zeigen, dass Piwarz unrecht hat, wenn er sagt: „Das Abitur ist nicht automatisch die Eintrittskarte für eine gut bezahlte Arbeitsstelle und ein erfülltes Leben.“

Dass es im Leben keinen Automatismus gibt, ist ihnen nur zu gut bekannt. Genauso wie die Tatsache, dass mit Abitur die Chancen eben trotzdem deutlich höher sind, eine gut bezahlte Berufslaufbahn zu betreten, als mit Real- oder gar nur Hauptschulabschluss. Ganz zu schweigen davon, dass Gymnasien in Sachsen exzellente Leistungsschmieden sind. Sie trimmen die Schüler auf das punktgenaue Absolvieren von Leistungstests, bereiten sie also exzellent vor auf eine Wirtschaft, in der das exzellente Abarbeiten die wichtigste Karrierevoraussetzung ist. Sie sind also bestens vorbereitet auf die gern beschworene Leistungsgesellschaft. Und sie lernen noch etwas: Dass es in ihrer eigenen Anstrengung liegt, ob sie ein Ziel erreichen.

Was übrigens der Riss ist, der unsere Gesellschaft gerade zerlegt: Die einen haben sich das elitäre Leistungsdenken regelrecht antrainiert, die anderen stehen immer wie die begossenen Pudel da und werden mit den Brotsamen abgespeist, mit oft genug schlecht bezahlten und zermürbenden Jobs.

Was übrigens dazu führt, dass viele Eltern die neuen Chancen der Bildungsempfehlung nutzen und ihre Kinder trotzdem fürs Gymnasium anmelden, obwohl sie keine Bildungsempfehlung dafür bekommen haben. Sachsenweit werden 1.469 Kinder ohne solche Bildungsempfehlung ans Gymnasium wechseln. Das sind immerhin 11,8 Prozent der 12.397 künftigen Gymnasiasten. Und eigentlich darf man wohl davon ausgehen, dass sie das Abi fast alle schaffen werden. Nicht weil sie vielleicht besonders begabt sind – sondern weil sie wahrscheinlich schnell lernen werden, welche Art Leistung in Sachsens Gymnasien tatsächlich verlangt wird.

Und an dem Punkt schält sich natürlich auch heraus, warum es so viele junge Eltern in die beiden Hotspots der wirtschaftlichen Entwicklung in Sachsen – nach Leipzig und Dresden – zieht. Sie haben das Leistungssystem sehr wohl begriffen. Und sie wissen auch, was es bedeutet, Kindern schon in der Grundschule das zielstrebige Zielerfüllen beizubringen und sie dann auf möglichst aussichtsreiche Gymnasien zu bringen.

Ergebnis: Während in Dresden 56,5 Prozent der Viertklässler ans Gymnasium wechseln, sind es in Leipzig sogar 58,8 Prozent.

Man sieht also deutlich, wie Großstadt und ländliche Region auch bei der Bildung immer weiter auseinanderdriften.

2.216 von 3.766 Leipziger Schülern der 4. Klasse wechseln im Herbst an ein Gymnasium. 229 von ihnen (10,3 Prozent) haben keine Bildungsempfehlung fürs Gymnasium. Aber diese Entscheidung liegt mittlerweile wirklich bei den Eltern. Was die Zahlen, die die bildungspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Landtag, Petra Zais, auf ihre Anfrage an die Staatsregierung bekommen hat, nicht verraten, ist die Frage: Wie viele Kinder gehen trotz gymnasialer Bildungsempfehlung nicht ans Gymnasium?

Das ist natürlich so ein Punkt, wo man sich vom Auskunft gebenden Ministerium so richtig veralbert fühlen darf. Denn dort hat man alle Zahlen. Aber gerade die eigentlichen Bildungsempfehlungen hat man lieber nur in detaillierter Breite geliefert – die Summen aber für sich behalten.

Also heißt es wieder: Erbsenzählen.

Und wenn wir uns jetzt nicht verzählt haben, waren es 2.156. 2.156 Leipziger Viertklässler haben demnach eine Bildungsempfehlung fürs Gymnasium bekommen. Von ihnen aber wechseln im Herbst nur 1.987 ans Gymnasium. 169 Kinder nutzen also die Chance nicht, die ihnen die Bildungsempfehlung eröffnet. Oder ihre Eltern können sich den Schritt nicht leisten. Oder sie trauen den Kindern nicht zu, im hohen Leistungsanspruch des Gymnasiums zu bestehen.

Die Gründe fragt ja niemand bei den Eltern ab.

Und natürlich verrät die Statistik auch nicht, aus welchen Ortsteilen die Kinder kommen, die ihre Chance fürs Gymnasium nicht nutzen. Und woher die anderen kommen, die auch ohne Bildungsempfehlungen den Versuch wagen. Die Grundschulbezirke haben ja nichts mit den Einzugsbereichen der Gymnasien zu tun. Für besonders beliebte Gymnasien fahren die Schüler auch gern jeden Tag durchs ganze Stadtgebiet.

Chancen fürs Gymnasium sind in reichen Stadtvierteln vier Mal höher als in armen

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