Am Mittwoch, 30. Mai, wird die Universität Leipzig der Sprengung der einstigen Universitätskirche St. Pauli gedenken. Am Donnerstag, 30. Mai 1968, um 9:58 Uhr, hatte das Sprengkommando die Sprengladungen gezündet und die über 700 Jahre alte Kirche in Schutt und Staub verwandelt. Der richtige Zeitpunkt, um an ein Buch zu erinnern, das schon 2011 erschien. Denn der Sprengung folgte ja dann zum Bach-Wettbewerb wenig später ein Protest, der es in sich hatte.

Vor laufender Kamera rollte sich das von Stefan Welzk auf dem Bühnenboden angebrachte Transparent „Wir fordern Wiederaufbau!“ aus. Und die Stasi kam ins Rotieren. Stefan Welzk und Harald Fritzsch, beide Physikstudenten in Leipzig, waren die zentralen Akteure bei dieser Aktion. Wenige Wochen danach flüchteten beide ebenso spektakulär über das Schwarze Meer in die Türkei.

Und Stefan Welzk, der später als Stipendiat am „Friedensforschungsinstitut“ von Carl-Friedrich von Weizsäcker tätig war, ärgert sich bis heute darüber, dass er die wichtigen Regeln der Konspiration an zwei Stellen nicht beachtete und damit viele Freunde nicht nur in Gefahr gebracht hat. Sie gerieten tatsächlich in die Fänge der Stasi, nachdem sich die Einbeziehung eines weiteren Helfers als undichte Stelle erwies. Auch wenn es eine ganze Weile dauerte, bis die Stasi überhaupt auf die Spur der tatsächlichen Initiatoren der spektakulären Aktion kam.

Stefan Welzk schildert in diesem Buch nicht nur sehr anschaulich, wie die Aktion mit dem Plakat auf den Bühnenboden der Kongresshalle ablief, er schildert auch aus seiner Sicht die höchst dramatische Flucht. Man kann also schön vergleichend lesen, denn Harald Fritzsch hat die Flucht ja in seinem Buch „Flucht aus Leipzig“ aus seiner Perspektive geschildert.

Welzk geht aber noch deutlich darüber hinaus, denn dass die Leipziger Freunde dann in den Radar der Stasi gerieten, hatte mit seinem nur zu gut gemeinten Versuch zu tun, einigen der Freunde über eine Fluchthelferorganisation zur Flucht aus der DDR zu verhelfen.

Doch womit er nicht gerechnet hatte: Gerade der westdeutsche Freund, dem er schon aus Leipziger Tagen vertraute, erwies sich als Verräter, der dann gleich dutzende kritische Menschen ans Messer lieferte – und dabei wurden der Stasi dann auch die Vorgänge um den Protest in der Kongresshalle offenkundig. Und gerade die Menschen aus dem engsten Freundeskreis um Welzk wurden dann besonders hart bestraft, kamen für Jahre ins Zuchthaus, mit Haftstrafen, die selbst nach dem parteiischen Strafrecht der DDR besonders hart waren.

Ein nicht ganz unwichtiges Kapitel, denn so – auch auf Grundlage von Gerichtsurteilen und Stasi-Akten – kann Welzk zeigen, dass es in dem ganzen Verfahren nur um eines ging: Einschüchterung. Hier sollten kritische junge Menschen gebrochen werden – was natürlich nicht klappte. Dass diese Art, Menschen auf Linie zu bringen, nach hinten losging, wurde den Herrschenden spätestens 1989 bewusst.

Während freilich einige der so hart Sanktionierten daran zerbrachen, nutzte Welzk die Gelegenheit eines Forschungsprojektes, um sich tatsächlich einmal mit der Frage zu beschäftigen, was das eigentlich für eine Gesellschaftsordnung war, aus der sie da so spektakulär geflohen waren. Und dann kommt etwas, was man im offiziellen Diskurs der Bundesrepublik seit 1989 vergisst. Selbst Welzk war entsetzt, wie ahnungslos 1990 die westdeutschen Parteien, Gewerkschaften und selbst die Regierung waren – auch und gerade in Wirtschaftsfragen. Sie hatten sich nie wirklich mit der Frage beschäftigt, wie eine zentralisierte Planwirtschaft tatsächlich funktioniert und welche Folgen sie hat.

Wer den Stoff mag, hat das alles schon in Rudolf Bahros „Die Alternative“ gelesen, 1977 erschienen – natürlich im Westen. Dort aber wurde es nur als Dissidenten-Buch gelesen, nicht als fundierte ökonomische Analyse des östlichen Wirtschafts- und Machtsystems. Und zwar mit marxistischen Methoden. Bahro führte nur zwei Wissensbereiche zusammen, die zumindest ihm als Funktionär im Wirtschaftsapparat der DDR zugänglich waren – die Zahlen aus dem realen Wirtschaftsleben und die Analysemethoden des jungen Karl Marx, der ja heuer seinen 200. Geburtstag hat und den die jungen Ökonomen heute allesamt wiederentdecken, weil er wie kein anderer die Wirtschaftsart beschrieben hat, in der wir heute alle leben – bis hin zu ihren Konsequenzen, Antriebskräften und den Gründen für ihren gnadenlosen Erfolg.

Was da zuerst in der Sowjetunion und dann in allen ihren Sattelitenstaaten entstand, nennt Stefan Welzk „sozialistischer Realfeudalismus“. Und auch dessen Funktionsweise nimmt er auseinander und legt die ganzen feudalen Strukturen offen, die dem sogenannten „demokratischen Zentralismus“ zugrunde lagen. Und dass das in der DDR so fatale Folgen hatte, kann er auch begründen: Denn wenn man eine feudale Brachialmodernisierung nach sowjetischem Vorbild durchzieht, dann kann das noch halbfeudale Staaten durchaus in eine industrialisierte Zukunft schleudern.

Wenn man aber eine längst moderne Wirtschaft (wie sie in der DDR und der Tschechoslowakei schon existierte) überformt, sorgt man dafür, dass diesen Wirtschaften regelrecht der Hahn zugedreht wird. Egal, wie klug die zentrale Steuerung ist, so Welzk, sie sorgt trotzdem dafür, dass die Wirtschaft sich regelrecht selbst verschlingt, dass Ressourcen verschwinden, Anlagen verschleißen und ein ganzes Land Bankrott geht.

Herrlich die Sicht von Welzk auf den Grund für diese seltsame Form von Sozialismus, die Karl Marx garantiert nicht vor Augen hatte. Im Gegenteil: Russland war für Marx ein Land, das ganz bestimmt nicht für den Sozialismus infrage kam.

Und das stand sogar in ostdeutschen Schulbüchern.

Es verblüfft immer wieder, was DDR-Bürger alles erfuhren über ihre Gesellschaftsordnung – und doch nicht mit der Wirklichkeit zusammendachten (oder besser: zusammendenken sollten). Bis heute nicht. Sonst würden sich nicht so viele zurücksehnen in dieses Land.

Welzk: „Ich begriff diese ‚Sozialismen‘ schließlich als Strategie zur Industrialisierung feudal erstickter Gesellschaften und damit als Übergang vom Feudalismus zum Industriekapitalismus.“

Und da findet er sogar erstaunliche Worte für die Staatskunst Erich Honeckers, dem es mit seiner gewaltigen Familien- und Verschuldungspolitik gelang, den Kollaps der DDR um 15 Jahre zu verzögern, bis zu diesem einmaligen Moment in der Geschichte, in dem Gorbatschow die Türen und Fenster öffnete und die DDR den Sprung in die (Wieder-)Vereinigung wagen konnte. Wobei er zu Recht betont: Honecker hätte das Lob wohl nicht verstanden.

Und Welzk bietet auch noch eine schöne Erkenntnis zu der Frage, warum heute im Osten immer noch ein ganz ähnliches technokratisches Denken vorherrscht: So wurde die DDR-Elite ausgebildet. „Modernisierung wird begriffen als das Schaffen von Industrie-Kapazitäten, als Hinstellen von Fabriken plus Ausbildung der benötigten technischen Intelligenz, kaum als Zünden von Entwicklungsprozessen.“

Womit er ein dumpfes Gefühl bestätigt: Es ist in Sachsen heute noch so. Zu Recht stellt er (2011!) die Frage: „Überlebt die Wohlstandsdemokratie?“

Sein Fazit könnte aus dem Jahr 2018 stammen: Wenn diese Gesellschaft weiter den Radikalkapitalismus verfolgt, den der Neoliberalismus predigt („Die dritte totalitäre Ideologie des 20. Jahrhunderts“), dann kann sie nicht überleben. Wer die entfesselten „Märkte“ und die Großkonzerne, die ihre Gewinne verschleiern und die Steuern drücken, nicht bändigt, wird von ihnen verschlungen. Ein sozialer und regulierender Staat ist das einzige Mittel, die Urgewalt kapitalistischer Prozesse zu bändigen.

Logisch, dass Welzk auch die gravierenden Fehler der Wiedervereinigung analysiert. „Ich war verblüfft ob der Ahnungslosigkeit des westdeutschen Establishments in Sachen DDR und all der Experten aus den Ostforschungsinstituten über die Zustände daselbst und auch darüber, wie entgegen klarer Einsicht dort am Katastrophenkurs festgehalten wurde.“

Und dann kommt er auf den Neoliberalismus zu sprechen, eine Ideologie, die so totalitär ist wie die anderen beiden. „Totalitär ist sie in der Tat. Denn sie durchdringt alle Lebensbereiche, duldet keinen Widerspruch und keine Alternativen.“ (Angela Merkel: „Das ist alternativlos“.) „Wer sich ihr entziehen will, dem wird der Untergang angedroht. Wie die Faschismen und Stalinismen verheißt er Glück und beispiellosen Wohlstand und produziert Armut, Verzicht, Verfall und Regression.“

Und hellsichtig, wie er als grenzüberschreitender Physiker und Wirtschaftswissenschaftler ist, beschreibt er 2011, was daraus zwangsläufig folgt: „Längst haben sich die Bedrohungen der Globalisierung in den Vordergrund geschoben, die von ihr erzeugten Krisen, Ängste und Hysterien. Erst in den nächsten Jahrzehnten werden die Folgen voll durchschlagen und sie werden Millionen den politischen Rattenfängern zutreiben.“

Über das Thema hat er schon Bücher und Zeitschriftenartikel publiziert. Aber es dringt sichtlich nicht durch. Die Rezensenten freuen sich – aber es ist wie mit Marx in der DDR: Alle tragen den Rauschebart wie eine Ikone vor sich her, manche lesen ihn sogar. Aber keiner wendet das Wissen auf die eigene Wirklichkeit an. Außer Bahro und die wenigen, die wussten, was in Bahros „Alternative“ stand und warum er dafür drangsaliert wurde.

Am Ende kehrt Welzk in seinem Buch natürlich zu den Ereignissen von 1968 und ihren Folgen zurück, schildert auch kurz das Schicksal der wichtigsten Betroffenen. Menschen leiden immer ganz konkret und individuell unter den Verwerfungen einer Gesellschaft. Aber gerade im Umgang mit den betroffenen Menschen zeigt sich auch, was wirklich die Seele einer Gesellschaft ist.

Es ist schon erstaunlich, dass die DDR tatsächlich bis 1990 durchgehalten hat. Finanziell und wirtschaftlich wäre sie ziemlich schnell auch so zusammengebrochen. Aber sie war eben auch moralisch verschlissen und nicht einmal die eigentlich in einer eigenen, abgeschotteten Welt lebenden Parteifunktionäre hatten noch Hoffnung, dass der Laden zu retten wäre. Auch das analysiert Welzk kurz.

Und auch wenn er auf die Gründe für die Kirchensprengung nur am Rande eingeht, wird deutlich, dass in Leipzig 1968 sichtlich einer der dümmsten SED-Funktionäre unbedingt ein brachiales Zeichen setzen wollte und dass die Abschottung der Bonzen schon 1968 ein fatales Ausmaß erreicht hatte. Oder – was vielleicht näherliegt – ihre Unfähigkeit, die Geschichte als einen Prozess ständiger Veränderungen zu verstehen, in dem Machtfragen nie für die Ewigkeit geklärt sind. Und dass auch Besatzungsmächte eines Tages abziehen könnten. Und Bahro beschrieb dann 1977 ja sehr genau, was dann passieren würde.

Und es geschah. Und Stefan Welzk versuchte verzweifelt – aber vergeblich – die großen Macher im Westen dazu zu bringen, ihren Wirtschaftskurs in der (Ex-)DDR zu ändern. So ist das mit Machern, Tankern und Technokraten – wenn sie erst mal auf Kurs sind, wird jede Kritik als Störfeuer betrachtet. Da wird weitergefahren auf Teufel komm raus. Oder auf Tanker geh’ unter.

Stefan Welzk Leipzig 1968, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2011, 9,80 Euro

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