Wie die Zeit vergeht! Anfang 2012 haben wir hier Rüdiger Thieles Buch „Felix Klein in Leipzig“ besprochen. Damals hat es der Verlag mit in seine Publikationen zum Teubner-Jubiläum aufgenommen. Als lesenswerte Erinnerung daran, dass der Teubner Verlag in Leipzig nicht ganz grundlos zum wichtigsten Wissenschaftsverlag seiner Zeit herangewachsen war. Teubners Aufstieg und der Aufstieg der Universität Leipzig als Zentrum der Naturwissenschaften liefen parallel.

Und das betraf auch die Mathematik. Den meisten Leipzigern ist überhaupt nicht bewusst, was für hochkarätige Mathematiker in ihrer Stadt lebten und knobelten. Alles starrt auf die „Musikstadt“, die auch im 19. Jahrhundert immer nur eine Facette einer Stadt war, die sich an allen Ecken und Enden zur modernen Großstadt mauserte. Mit Musik allein hätte sie das nicht geschafft. Musik war eigentlich nur – ja, die Begleitmusik.

Auch zu jener Blüte der Wissenschaften, die im mathematischen Bereich etwa mit August Ferdinand Möbius (Stichwort: Möbiussches Band) und Georg Friedrich Bernhard Riemann (Stichwort: Riemannsche Flächen) verbunden ist. Als der Mathematiker Felix Klein 1880 nach Leipzig kam, gab es hier schon eine markante mathematische Schule und gerade die Arbeiten der beiden Genannten tauchen in seinem Werk immer wieder auf.

Und dass sich die Leipziger Mathematiker besonders gern an Felix Klein erinnern, hat nicht nur mit Kleins faszinierender Art zu tun, Mathematik bildhaft und systematisch zu denken, sondern auch damit, dass er im Grunde das Mathematische Institut in Leipzig erst strukturierte. Seine sechs Leipziger Jahre waren von einem dicht gepackten Vorlesungs- und Seminarprogramm geprägt, er betreute dutzende Doktoranden. Und gleichzeitig lieferte er sich mit Henri Poincaré einen regelrechten Wettlauf um die Theorie der automorphen Funktionen.

Ein Pensum, das eigentlich zwangsläufig zur Überlastung und zum Zusammenbruch führen musste. Deswegen benennt auch jeder Biograf diese Zäsur in Kleins Leipziger Zeit. Irgendwie mit Bedauern. Als wäre da eine geniale Forscherkarriere geknickt. Was auch daran liegt, dass seine Arbeit als Wissenschaftsorganisator, Autor und Herausgeber zumeist eher abschätzig betrachtet wird.

Wer über Jahrzehnte die berühmten „Annalen der Mathematik“ herausgibt und bei Teubner die anspruchsvollsten Sammelwerke zur modernen Mathematik betreute – der geht natürlich nicht als „Entdecker“ in die Annalen ein.

Und Rüdiger Thiele hat wohl recht, wenn er sich wünscht, dass sich endlich mal einer hinsetzt, eine wirklich fundierte Felix-Klein-Biografie zu schreiben. Dieses Buch, das sich ja im Wesentlichen der Leipziger Zeit widmet, kann das nicht ersetzen. Es kann nur Spuren legen – seine wichtigsten Kollegen und Zeitgenossen ins Bild bringen, seine Schüler und Schülerinnen, die zu ihm durchaus die widersprüchlichsten Sichtweisen haben. Die einen fühlten sich durch Kleins sehr bildhafte und praktische Art, Mathematik zu vermitteln, geradezu überfordert, andere vermissten die peniblen Beweisführungen, die einige auch sehr namhafte Mathematiker als die eigentliche, die reine Mathematik betrachteten.

Aber für viele andere erschloss seine Art des Denkens erst den wirklichen Zugang zur Mathematik. Ein Punkt, an dem einem schemenhaft deutlich wird, dass es tatsächlich Menschen unter uns gibt, die sich all die Formeln und Zahlen und Funktionen richtig bildhaft vorstellen können. Und die dann – wie Klein – über das geometrische Begreifen den Weg zur Lösung finden.

Und damit auch die anderen im Hörsaal sich vorstellen konnten, wie das aussieht, hatte Klein ja schon in seiner Münchner Zeit angefangen, Modelle anfertigen zu lassen, die alle diese so schwer denkbaren Figuren greifbar machten. Dasselbe setzte er in Leipzig fort – und Teubner versandte dann eben auch solche Modelle in die Welt – nebst all den Büchern, die Klein mitverantwortete. Bis hin zu seinen vervielfältigten Vorlesungsmanuskripten, mit denen Studenten sich in seine Denkwelt einarbeiten konnten, auch wenn sie noch keine seiner Vorlesungen besucht haben.

Und wer Klein einordnen will, wird ihn noch besser greifen können, wenn er die Linie von Möbius und Riemann bis zu Einsteins Relativitätstheorie zieht, mit der sich Klein noch im hohen Alter beschäftigte. Denn auch Einsteins Theorie ist in erster Linie Mathematik – physikalische Mathematik, eben das, was Klein seit seinem Studium immer mitgedacht hat. Mathematik war für ihn keine Beschäftigung im abgeschlossenen Kämmerlein.

Er sah immer die Verbindungen zur Mechanik (die in der französischen Mathematik besonders gepflegt wurde) und zur Physik (die in England ihren Schwerpunkt hatte). Und man ahnt so als mathematisch eher nur Normalbegabter, wie faszinierend die mathematischen Welten sind, in denen sich Menschen wie Felix Klein mit (für die Zuhörenden oft frustrierender) Lässigkeit bewegte.

Aber man ahnt auch, was das für ein Biograf sein muss, den sich Thiele da wünscht: einer, der dasselbe in der Sprache beherrscht und seinen Lesern bildhaft machen kann, wie ein Mathematiker wie Klein gedacht hat und wie das auf seine Umwelt gewirkt haben muss. Der Streit mit den Berliner Mathematikern um Karl Weierstras, die verhinderten, dass er eine Professur in Berlin erhielt, ist da eher Begleitmusik. Was ja dann Glück für Göttingen war, das 1886 Klein aus Leipzig abwerben konnte. Und zwar für immer.

In Leipzig gibt es dafür heute einen Felix-Klein-Hörsaal für all die jungen Leute, die heute Mathematik studieren. Und von denen einige bestimmt diese Imaginationskraft besitzen, die Klein als Dozent so eindrucksvoll gemacht haben muss.

Thiele hat sein Buch noch um etliche Fotos erweitert und auch noch einige Ergänzungen vorgenommen. Es ist zwar keine Felix-Klein-Biografie. Aber weil es ja nun wirklich keine wirklich standardsetzende gibt, hat das Buch eben seit 2011 doch seine Leser erreicht. Da ist es wie ein Skizzenbuch für etwas Größeres. Aber finde mal einer einen begabten Autor, der auch noch das nötige mathematische Vorstellungsvermögen hat, um diesen Felix Klein zu fassen. Also quasi einen belletristisch versierten Mathematiker. Oder eben eine Mathematikerin.

Eine ganz seltene Spezies, genauso wie der mathematisch hochgebildete Journalist. In fast alles kann man sich ja einarbeiten als Journalist – aber wenn es um moderne Naturwissenschaften geht, liegt die Latte sehr hoch. Und zwar seit über 150 Jahren. Deswegen ist die EAGLE durchaus der richtige Ort, all diese begnadeten Leipziger Wissenschaftler mit solchen materialreichen Büchern zu würdigen. Da ist das Wissen um sie wenigstens greifbar und präsent.

Rüdiger Thiele Felix Klein in Leipzig, 2. Auflage, Edition am Gutenbergplatz Leipzig, Leipzig 2018, 26,50 Euro.

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar