Kaum hat sich dieser sonderbare Dauersommer 2018 in einen richtigen Herbst verwandelt, klopft schon das nächste Jahr an die Tür. Und die Verlage geben ihre Kalender fürs nächste Jahr in den Verkauf, hoffend, das Herz der Käufer wieder anzusprechen. Denn Kalender sind in der Regel Hingucker-Produkte. Sie zeigen oft, was man im Eilen des Jahres selbst gar nicht wahrgenommen hat. Dafür liefen – zum Glück – andere mit der Kamera los.

In diesem Fall Jürgen und Birgit Röhling, die wieder Bilder für den Leipzig-Kalender aus dem Sax-Verlag gesammelt haben. Wozu man in der Regel ein paar sonnenreiche Tage braucht, damit die bekannten und nicht ganz so bekannten Motive der prosperierenden Stadt sich gut inszenieren lassen. Möglichst auch noch gut einsortierbar in Jahreszeiten, sofern der Hochsommer im nächsten Jahr nicht gleich im März beginnt und dann bis Oktober dauert. Dann schaut man natürlich etwas erstaunt auf Leipzig-Bilder, die die Stadt im Schnee zeigen. Oder gar einen zugefrorenen Schwanenteich.

So lange ist das noch gar nicht her, dass die Stadtverwaltung dringend davor warnte, die Eisflächen zu betreten.

Kalender können ganz schön Verwirrung stiften. Künftig wahrscheinlich auch, wenn sie im Johannapark und vorm Gohliser Schlösschen Wiesen mit saftig grünem Gras zeigen. Vielleicht werden es gerade diese scheinbar so idyllischen Bilder sein, die uns bald daran erinnern, wie sehr wir das Grün in der Stadt vermissen, wenn es fehlt.

Und dass oft genug genau dieses Grün die beliebtesten Orte der Stadt erst so beliebt macht. Auch wenn der gepflasterte Augustusplatz mit seinen Springbrunnen (das Mai-Motiv) sicher zuweilen ein Ort ist, an dem man kurz durchatmet, bevor man sich wieder ins Gewühl stürzt.

Aber nicht immer liegt in so einer Kürze auch Würze. Manches Foto suggeriert ja Gelassenheit, die Leipzig eigentlich nur selten hat – etwa ein sonnenbestrahlter Felix Mendelssohn Bartholdy im November. Oder der Teich hinterm Schloss Schönefeld im März.

Wer zur richtigen Stunde und tiefenentspannt mit der Kamera unterwegs ist in Leipzig, kann zumindest diese Orte der punktuellen Stille finden und ablichten. Momente, die einmal ohne das alltägliche Hupen, Kreischen und Verkehrsrauschen auskommen, auch (ganz klein) manchmal Menschen zeigen, die sich auf Treppenstufen niederlassen, um einmal Sonne zu atmen. Oder durch große, kühne Parks mit uralten Bäumen spazieren.

Leipzig fließt. Aus der Vergangenheit in eine Zukunft, in der es – hoffentlich – noch erkennbar bleibt. Aber auch ganz real – mit einer zufriedenen Weißen Elster, die an Plagwitz vorbeiströmt – wie im April-Bild. Oder mit einem der quecksilbrigen Brunnen auf dem Richard-Wagner-Platz (im September zu sehen), wo sich Eilen und Verweilen mittlerweile erstaunlich gelassen mischen.

Manchmal hilft so ein Umbau gewaltig, um aus einer zugigen Ecke ein beliebtes Plätzchen zu machen, Menschen zum Innehalten aufzufordern. Oder auch nur dieses Gefühl auszulösen: Brems mal ab. Du musst nicht jagen. „Hetz mich nich!“ auf gut sächsisch.

Aber das Hetzen haben wir ja mittlerweile alle eingebaut. Kaum nehmen wir uns noch die Zeit, gemäßigten Schrittes loszuziehen und die Schönheiten der Stadt einfach so zu betrachten, wie sie dastehen. Vielleicht mit einem hübschen Wetterdrama am Himmel, sodass die Stadt in ihrer Reise durch Wind und Jahreszeiten und Schäfchenwolken greifbar wird. Oder doch besser die Zeit, die vergeht, während wir nicht hinschauen?

Kalender laden eben auch zum Innehalten ein oder gar zum Computer-sofort-Ausknipsen, wenn einen im Juni plötzlich der Wunsch überfällt, man müsse doch jetzt unbedingt die Lutherkirche sehen, wie sie sich im Teich im Johannapark spiegelt. Oder im Dezember bei klarer Sicht einfach mal raufzufahren ins Hochhaus-Café, um von oben auf dieses Gewimmel der Dächer zu schauen, völlig losgelöst, wie mal ein Sänger sang.

Der Kalender jedenfalls mit den zwölf stimmungsvollen Fotos im Großformat ist da. Die Deutsche Nationalbibliothek, die schon auf dem Titelblatt einlädt, kommt im Oktober zum Zug, um zum Lesen von bis zu 5 Millionen Büchern einzuladen. Oder zum Sonnentanken auf der Freitreppe. Zeit ist das, was man mit allen Sinnen wahrnimmt.

Der Rest rauscht ja nur vorbei. Gute Kalender laden zum Stoppen ein. Verweile doch. Goethe muss es am Ende vom „Faust“ genauso gegangen sein. An einem sonnigen Vormittag in seinem Büro – draußen zwitscherten die Vögel und er saß drin und musste für diesen alten Doktor Faustus einen theaterwirksamen Abgang finden. Wir wissen ja, welchen.

„Kalender Leipzig 2019“, Sax Verlag, Beucha und Markkleeberg 2018, 13,80 Euro.

Die neue Leipziger Zeitung Nr. 59 ist da: Zwischen Überalterung und verschärftem Polizeigesetz: Der Ostdeutsche, das völlig unbegreifliche Wesen

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