Hans-Gert Gräbe ist Informatikprofessor an der Universität Leipzig und er mag junge Leute mit mathematischem Denkvermögen. Und er nimmt auch kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, mehr junge Leute in der Schule zum mathematischen Denken zu befähigen. Gerade deshalb, weil in immer mehr Berufen ohne mathematische Logik nichts mehr geht. Denn das steckt ja hinter seinem Plädoyer für Computeralgebra.

Seine „Starthilfe“ richtet sich vor allem an die Abiturienten in Mathematik-Leistungskursen, die stofflich über das, was Abiturienten sowieso schon lernen müssen, noch hinausgehen. Was von außen betrachtet erst einmal mächtig viel aussieht. Aber Mathematik ist vor allem eine Sprache, die man verstehen muss. Gräbe sagt es nicht extra, aber sein Vorwort lässt keinen Zweifel daran, dass er es für ein großes Unglück hält, dass unser heutiges Schulsystem vor allem Wissen vermittelt und abfragt, aber die jungen Menschen nicht dazu befähigt, die Dinge auch zu verstehen.

Schön prononciert formuliert etwa in so einer Aussage: „Dieses Buch ist auch nicht als eine weitere Rezeptsammlung zur Abiturvorbereitung konzipiert. Wenn Sie nur ‚wissen wollen, wie’s geht, aber nicht warum‘, dann werden Sie enttäuscht, denn es geht in diesem Buch um Einsichten in ein klares Ziel jeder sprachlichen und computersprachlichen Übung.“

Das hätte so auch ein begnadeter Pädagoge im Fach Deutsch formulieren können. Denn wir bilden heute eine Menge junger Leute aus, die mit allerlei Ratgebern gelernt haben, wie es (schnell) geht und man schnell zum gewünschten Ergebnis kommt. Aber sie gehören oft genug zu genau jenen, die schon in den ersten Studiensemestern scheitern.

Da nutzt ihnen auch kein Einserzensurenschnitt. Spätestens in den Grundlagensemestern des Studiums geht es darum, dass die Studierenden schon wissen, warum welche Prozesse so ablaufen und nicht anders. Dann erst die Grundlagen nachzuholen, ist für die meisten eine elende Quälerei.

Das Buch sieht zwar auch erst einmal nach einer gewissen Schinderei aus. Aber wohl nur für ältere Semester wie mich, die in der Schule weder CAS noch MAXIMA oder sonst einer Software begegnet sind, mit der man mathematische Lösungen programmieren kann. Man muss damit aufgewachsen sein. Und für Abiturienten in Sachsen gehört das wohl längst zum mathematischen Rüstzeug, auch wenn sie meist nicht in die Verlegenheit kommen, ihren Computer zum „mathematischen Sprechen“ bringen zu müssen.

Oder gar je von ihrem Lehrer hören, dass Mathematik eine Sprache ist. Deren Logik und Grammatik man lernen kann. Das ist so eine Art Training, das eigentlich stattfinden müsste. Es wäre – so Gräbe – zwingend ein Teil der Medienkompetenz, von der Politiker heute so gern reden. Aber augenscheinlich denken Politiker nicht wirklich darüber nach, welches Rüstzeug im Bildungskanon eigentlich vermittelt werden müsste, damit die Aufrüstung der Schulen mit Computern, Tablets und Software überhaupt irgendeinen Sinn ergibt.

Oder Gräbe selbst zitiert: „Die ganzheitliche Entwicklung eines Sprachvermögens in oben umrissener Dimension bleibt bereits in der Schule im Dickicht der Fächerkulturen stecken und hat auch mit dem aktuellen Schwenk hin zur Kompetenzorientierung bisher nicht die erforderliche Aufmerksamkeit erlangt.“

Er spricht zwar vorrangig von der Warte des Informatikers, der nun einmal auf das Beherrschen der Computeralgebra angewiesen ist. Aber das gilt für alle Wissenschaften und Fächer. Und im Grunde attestiert der Professor, der mit dem Stoff aus diesem Buch auch seine Studentinnen und Studenten einführt in die Welt des symbolischen Rechnens, hier unserem aktuellen Bildungsverständnis das Fehlen von Sprach-Kompetenz. Man lernt lauter Bausteine und Tricks, wie man zu Lösungen kommt, aber nicht, wie Sprache selbst funktioniert. Obwohl Sprache in allen Fächern allgegenwärtig ist.

In der Mathematik wird es freilich schneller sichtbar. Denn hier ist das Beherrschen der Sprache aufs Engste verbunden mit Lösungskompetenz. Und das beim Umgang mit Computern erst recht. Wo ein Lehrer bei der Bewertung noch mal ein Auge zudrücken kann, weil der Lösungsweg zumindest eingehalten wurde, meldet der Computer postwendend: ERROR.

Und in der Regel sagt er dann nicht, was man falsch gemacht hat. Normalnutzer werden dann meist aufgefordert, sich mit dem Anbieter in Verbindung zu setzen oder mal hier was auszuschalten oder dort neu zu starten. Computer sind doof. Schön doof. Und bestimmt lachen sich all jene Zeitgenossen, die die Computergrammatik beherrschen, nur ins Fäustchen, wenn sie uns mit der Maschine kämpfen sehen. Computer lassen sich nicht austricksen. Die Sprache muss logisch, zwingend und eindeutig sein. Sonst geht gar nichts.

Und so ungefähr übt Gräbe in diesem Buch mit den jungen Leuten, die ihr mathematisches Denken trainiert haben und jetzt auch die Lust mitbringen, sich noch einmal am eigenen PC hinzusetzen und – von Gräbe angeleitet – den Computer zum „Sprechen“ zu bringen. Er erläutert die Konzepte, die dahinterstecken und bietet dann reichlich Stoff zum Anwenden an. CAS ist dabei die Programmiersprache, die die Schüler schon lernen anzuwenden. Und das Schöne, so Gräbe, ist: Der Computer ist ein geduldiger Partner. Er lässt zu, dass man übt und sich trainiert in der richtigen Ausformulierung der richtigen Syntax.

Gräbe als geschulter Mathematiker geht sogar noch weiter. Er findet, dass Mathematik sogar die Grundlage für Sprachkompetenz ist. Was auf den Umgang mit Computern hundertprozentig zutrifft. Aber so eine Ahnung hat man dabei auch, dass das auch im üblichen Gebrauch von Sprache so ist.

Wir leben ja in einer Welt, in der lauter wichtige Leute „fake news“ am laufenden Band produzieren. Was ja bedeutet: Sie behauten die ganze Zeit Bockmist, falsche Lösungen für simple Rechenaufgaben. Sie hätten allesamt schon in der dritten Klase sitzenbleiben müssen.

Es ist eine Zumutung für eine moderne Gesellschaft, dass solche Nixmerker und sprachlichen Blindgänger so viel Macht haben.

Und wie sieht es mit unserer Schule aus?

Im Grunde warnt Gräbe davor, die Schulen jetzt einfach mit Elektronik vollzustopfen und dann – wie zu Neil Postmans Zeiten – wieder mal zu erwarten, dass die dumme Technik dann von allein schlaue Schüler hervorbringt. Eine seiner Thesen: „Mit dem Computer hält Technik in das dafür überhaupt nicht vorbereitete Gymnasium Einzug.“

Und die Folgethese: „Computermathematik im Schulunterricht steht im Schnittpunkt all dieser ungeliebten Entwicklungslinien.“

Zu denen nun mal leider das rudimentäre Sprachvermögen vieler Schulabgänger gehört, damit das Fehlen sprachlicher und gedanklicher Logik und damit auch die Voraussetzung für mathematisches Denken. Dabei ist Gräbe noch froh, dass sich an vielen Gymnasien immer noch die von Enthusiasten besuchten mathematischen Leistungskurse behauptet haben. Gegen alle Entwicklungstendenzen. Denn auch Sachsen findet kaum Nachwuchs für Lehrkräfte im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich. Obwohl genau hier die besten Leute gebraucht werden.

Deswegen findet Gräbe eben das Erlernen mathematischen Sprechens so wichtig. Bis hin zur Ausbildung der Programmierfähigkeit, von der man hier ein Stück miterleben kann.

Hans-Gert Gräbe EAGLE-Starthilfe. Computeralgebra im Abitur, Edition am Gutenbergplatz Leipzig, Leipzig 2018, 14,50 Euro.

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