Norbert Mahron mag Außenseiter. Er hat schon über einige dicke Bücher oder Erzählungen geschrieben. Wobei das Wort Außenseiter eher verwirrt. Es geht um Unangepasste, Rebellen, Anarchisten, Anderslebende – also vor allem Männer, die nicht ins übliche bürgerliche Bild passen. Eigentlich wie der Autor selbst, der mit diesem „Sah Tiere“-Buch zuspitzt, was ihm an die Leber geht.

Schriftsteller dürfen das. Sie dürfen den Schelm geben, den Eulenspiegel und den Kostverächter, dem das, was ihm vorgesetzt wird als Umwelt und Gesellschaft, nicht passt. Der sich nicht mehr gemeint fühlt von dem, was große Tiere anstellen: PoliTIERE, Großtrappen oder DemonTIERE – um Marohn mal selbst zu zitieren.

Das Buch ist kein gefälliges, sondern ein widerborstiges. Eines, in dem einer aphoristisch versucht, seine Plagegeister zu bannen. Denn auch Norbert Marohn ist außer sich. So, wie die meisten von uns, genervt von einem permanenten Niagarafall von Nachrichten über Politiker und Parteien, die ihr Eigeninteresse über alles setzen, kein Profil mehr haben, zum Verwechseln stromlinienförmig geworden sind.

Und Marohn weiß selbst, dass das nicht nur an den Glattgeschmirgelten liegt, sondern auch am viel zitierten Bürger, der seine Aufstände seit der Niederlage von 1525 lieber am Biertisch feiert.

Dabei weiß er, dass früher auch nichts besser war. Zur hingeschiedenen DDR hat er eine ganze Sammlung böser Pointen parat. Die sich erstaunlicherweise nahtlos einfügen in das Lamento der Gegenwart. Als hätte man es schon wieder mit denselben Karrieristen und Opportunisten zu tun, tierischen Zeitgenossen in einem „Eimer Schmierseife“, der als Fußnote zu seinem 29. Dekret auftaucht: „Sogenannte Politikwissenschaftler“.

Der letzte Teil seines bissigen Buches ist mit lauter solchen Dekreten gefüllt, in denen er niederschreibt, was er verordnen würde, wenn er dazu in der Lage wäre. Er überzieht es nicht. Er macht kein Manifest daraus. Es wird zu einer Art Selbst-Dekretierung, auch Selbstbeschreibung, die beim Verorten hilft. Es ist auch eine Art Selbstermächtigung, denn ein lärmender Bürger, der nur am Biertisch laut wird, will er gar nicht sein.

Aber er will zeigen, dass zum eigenen Leben auch ein eigener Kopf gehört. Und dass die Mächtigen nicht unbedingt erwarten können, dass sie in seinen Dekreten gestreichelt werden. Denn wenn diese Mächtigen so sind, wie sie mal wieder sind, dann kann man auch „Cita Lopram“ zu Kanzler/-in und Geschäftsführer/-in der Bundesrepublik Deutschland ernennen. Das Zeug hat zwar ein paar Nebenwirkungen – aber die sind einem als Zeitbeobachter nur zu vertraut – von der Schlaflosigkeit bis zum Schwitzen, einem von ununterdrückbaren Gähnen bis zum völligen Libidoverlust.

Wobei Libido bei Marohn immer ein doppeltes Erscheinungsbild hat – das einerseits sexuelle, das er auch gern mal in Gedichten thematisiert, und das persönliche, eindrucksvolle, das einem bei Menschen begegnet, die gegen alle Widerstände anders sind und für ihre Sache mit Überzeugung einstehen. Solche Typen, wie er sie im 25. Dekret auflistet – früh Verstorbene, die (außer dem Industriellen in der Liste) alle eines mehr oder weniger unnatürlichen Todes starben, einige noch am Ende der Weimarer Republik, die meisten im Fegefeuer der aufkommenden Nazis.

Wenn Marohn also selbst die DemokraTIERE kritisiert, hat auch das einen doppelten Boden. Denn nicht alles, was irgendwie heißt, ist auch das, was es sein sollte. Manches sieht nur so aus und ist nur die Verkleidung für Gier und Habsucht. Was wohl die schlimmste aller unbekämpften Seuchen ist.

Was tun?

Einer wie Marohn weiß, dass diese Besitzgier eng verwand ist mit Balz- und Territorialverhalten, dass zugemauerte Grenzen nicht von „Gefahrenabwehr“ erzählen, sondern von grimmiger Besitzstandswahrung. Nur dass selbst die Besessenen nicht merken, dass sie selbst die Eingesperrten sind. Denn die Grenzen haben sie im Kopf. Sie machen sich selbst zu Nationenbewohnern, unfähig, Freiheit auch nur zu denken.

Dieses: Was wäre wenn? Wenn wir zum Beispiel einfach mal neue „Entwürfe menschlichen Zusammenlebens testen“ und: „Jeweils zu Silvester öffnen sämtliche Grenzen“?

Und? Was fällt einem da ein? Die armen Flüchtlinge, die dann eiligst übersetzen?

Nicht wirklich. Marohn macht, was all unsere heutigen Wettbewerbsprediger nie hinbekämen: „Jeder Kontinent stellt sich in öffentlichen Foren dar, mit Zu-, Gegen- und Feierstimmung …“

Unvorstellbar? Im gegenwärtigen Abschottungs-Allerlei vielleicht. Und Marohn geht auch nicht unbedingt davon aus, dass Menschen so eine Art Freiheit begreifen würden. Sollte „stattdessen unabsehbarer Streit ausbrechen, ist die Erde zuzuscheißen.“

Man merkt: Er ist auch ein geborener Fatalist und wahlweise Pessimist. So wie viele von uns, die sich die ganze Zeit mit stiller Verzweiflung anschauen, zu welchen Dummheiten Menschen und Politiker fähig sind. Was nicht neu ist. Unter Marohns Dekreten findet man auch mehrere Bücherlisten, in denen er etliche Autoren versammelt, die sich mit menschlichen Abgründen schon lange intensiv und aufmerksam beschäftigt haben.

Außenseiter im guten wie im realen Sinn. Mitten im Buch stellt er aus eindrucksvollen Zitaten aus den Büchern einiger seiner Lieblingsautoren eine Art Wörterbuch des „Zeitgeistes“ zusammen, auch wenn er es „ZeitGeistErlöse“ nennt. Da kommt auch der oben erwähnte Bürger wieder vor, dieser vor dem Gesetz formal Gleiche, der selbst zum Aufstand eigentlich keine Lust hat. Und so gern auf den Nicht-Gleichen herumtrampelt, wenn er dazu Gelegenheit bekommt. Deswegen taucht vieles von James Baldwin auf in diesen Zitaten, von Kafka und Heiner Müller.

Auch ein paar Märchen erzählt Marohn, die ganz offensichtlich keine Märchen sind, obwohl sie so klingen. Etwa vom (Jugoslawien)-Krieg oder vom „süßen Quark“ der Nachrichten. Das Stilmittel ist eigentlich ganz einfach: Der Erzähler verlässt die übliche Position des selbstgefälligen Bürgers, schlüpft in die Rolle der anderen und merkt: Ja – auf einmal klingt die Geschichte völlig anders, ist eigentlich sogar das Gegenteil des Opportunen.

Jede Geschichte kann so anders betrachtet werden. Und manchmal ist das sehr erhellend – und deprimierend, weil man sich solche Märchen eben nicht erzählt. Sie passen nicht ins Schema F. Womit wir wieder bei Marohn wären, der sich hier sehr bissig als Unangepasster zeigt. Verbrannt von Ideologien, die sich allesamt dadurch auszeichnen, dass sie die Welt immerfort in Gut und Böse teilen. Wer nicht hineinpasst, kommt unter die Füße, Stiefel und Räder.

In jeder Ideologie steckt der Fanatismus. Und die Verblendung: „Jede Gesellschaft ist ideologisch, indem eigene Krisen als Fortschritt oder Chance ausgegeben werden.“ Was dann „Scheinheilige vom Dienst“ braucht, die den Leuten den „süßen Quark“ als Wahrheit verkünden. Nu ja, da kommen Politiker, Republiken und auch die „repräsentative Demokratie“ nicht gut weg. Denn Letzteres führt in Marohns bissigem Wörterbuch gleich mal zu „repräsentativer Freiheit“.

Das könnte beinah auch von Georg Christoph Lichtenberg stammen, der wohl in heutigen Zeiten ganz ähnliche Sudelbücher schreiben würde, diebisch vergnügt, wenn er bierernste Kollegen beim abendlichen Souper mit solchen kleine Sottisen ärgern kann, könnte, gekonnt haben würde. Wenn sich denn geistreiche Leute noch zum Souper träfen und nicht lieber mit Pantoffeln vorm heimischen Gehirnbrutzler säßen, um ja nicht aufzufallen mit abspenstigen Worten und boshaften Überspitzungen wie der „Friedlichen Restauration“.

Ein widerborstiges Buch also, in dem sich ein Unangepasster ein wenig von seinem Unmut von der Leber geschrieben hat, der ihn umtreibt. Und in dem er sich eins weiß mit Gleichgesinnten von Jean Génet bis Noam Chomsky. Was in einem der letzten Dekrete bleibt, ist der furiose Ärger über all die vertane Zeit, die man mit „Langeweile, Not, Qual, Liebesschmerzen“ verplempert hat, statt sich einfach ein paar Stunden zu nehmen für „Liebe, Glück, Überschwang“, und zwar so viele „wie ihm / ihr beliebt“.

Norbert Marohn Sah Tiere, Edition Winterwork, Borsdorf 2018, 28,90 Euro.

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