Normalerweise schreiben Schriftsteller nicht so viele Romane, dass sie beim Kramen im Archiv ganz zufällig in einer Truhe über einen Roman stolpern, den sie vor 45 Jahren geschrieben haben, aber damals lieber nicht an einen Verlag gegeben haben und dann fast vergessen. Aber bei einem wie Günter Kunert kann das schon einmal passieren. Kaum ein deutscher Schriftsteller hat eine so lange Titelliste – gedruckt in Ost und West. Und „Die zweite Frau“ gibt’s seit März ebenfalls als Buch.

Und sie kam beim deutschen Feuilleton so gut an, dass der Wallstein Verlag sie jetzt schon in der 5. Auflage drucken ließ. Obwohl es eigentlich ein DDR-Roman ist, ein zutiefst satirischer. Einer, der in die kleinbürgerlichen Verhältnisse im real existierenden Staatsbürokratismus (Mankoismus nennt es eine von Kunerts Figuren) mit ironischem Blick hineinleuchtet. Oder mit Eulenspiegel-Blick, denn bevor er 1979 die DDR endgültig verließ, war Kunert einer der fleißigsten Autoren im Eulenspiegel-Verlag. Sein Blickwinkel dürfte also so manchem Vielleser im Osten vertraut sein, auch die bukolische Volte, die er schlägt, wenn er seine Geschichte fast komplett in einem Eigenheim irgendwo am Rande Berlins spielen lässt.

Sein Held Barthold ist Archäologe, hat aber schon vor Jahren jeglichen wissenschaftlichen Ehrgeiz eingebüßt, als er merkte, wie leicht man sich auch als Experte für archaische Bodenfunde irren konnte. Und Irren war gefährlich, nicht nur in der Welt der Wissenschaft, wo man sich für alle Zeiten lächerlich machen konnte. Auch in der realen Anstellung in einer staatlichen Behörde.

Kein Wunder, dass er sich deshalb für ein paar Wochen krankschreiben lässt, auch wenn sich diese zeitweise Abnabelung nicht wirklich als Aus-Weg erweist. Was er ja weiß. Er ist ja „gelernter DDR-Bürger“, wie das so schön heißt heutzutage, wo Leute, die den Begriff benutzen, meist etwas Niedliches und Kuscheliges damit verbinden. Sie haben das Erstickende daran vergessen.

Und genau an der Stelle wird Kunerts 1974/1975 geschriebener Roman erstaunlich gegenwärtig. Denn er erzählt, wie Unmündigkeit in Köpfen implantiert wird und Menschen dazu bringt, sich ihr eigenes Leben nicht mehr als Selbstgestaltetes zuzutrauen.

Auch wenn die Fabel, die Kunert erzählt, erst einmal ganz eulenspiegelhaftig naiv erscheint, wenn Barthold in den leer gefegten Läden des Landes immer ratloser nach einem Geschenk zum 40. Geburtstag seiner Margarete Helene sucht, am Ende schwarz Westgeld eintauscht zum Kurs 4:1, um dann im Intershop einen Ring für seine Angetraute zu kaufen und für sich eine Buddel Steinhäger. Eigentlich – das weiß er ja schon vorher – ein echtes Devisenvergehen. Auch wenn es alle machen, weil man anders nicht mehr an all die Dinge kommt, die es in den Läden der Republik nicht mehr oberhalb der Ladentheke zu bekommen gibt.

Dass wenig später ein gewisse Herr Müller auftaucht und ihn just am Geburtstag seiner Frau in die freundlich-biedere Vernehmung nimmt, hat er fast schon erwartet. Die Albträume hatte er ja schon vorher. Solche Träume gehören zum seinem Leben als DDR-Bürger: Es gibt praktisch keine Möglichkeit, all die geschriebenen und ungeschriebenen Regeln der Macht nicht zu übertreten, wenn man in diesem Land lebt. Das schlechte Gewissen gehört immer dazu.

Erst recht, wenn einer wie Barthold eigene Gedanken zu denken wagt, lauter „innere Monologe“ oder auch Dialoge, wie sie in den Romanen der DDR nur allzu beliebt waren. Das hatte die große Mutter SED selbst so angerichtet, als sie sich den reifenden und lernenden Helden bestellte, der bitteschön im Rahmen der Handlung eines sozialistisch-realistischen Romans zum Neuen Menschen geläutert werden sollte.

Deswegen sind sie ja alle so verflixt nachdenklich in den Romanen von Brigitte Reimann und Christa Wolf. Und auch dieser Barthold. Und sie kommen alle nicht ans befohlene Ziel, weil sie schon beim Grübeln im Ehebett merken, dass sie die idealen Vorstellungen vom Neuen Menschen gar nicht erfüllen können. Äußerlich zwar schon. Selbst Margarete Helene hat ja eine Vorgeschichte als von der verordneten Ideologie durchdrungene Amtswalterin hinter sich, einer Zeit, von der sie nur zu gut weiß, wie all diese überzeugten neuen Menschen, die in den Versammlungen mit glühenden Augen und Sätzen aufstanden, nur vorgefertigte Phrasen wiederholten. Wer ins Denken kam, kam schnell in Widersprüche und Zweifel – und ziemlich flott auf die Schwarze Liste.

Wie es auch der strammen Margarete Helene ging. Dass ihr Zweifeln einen fetten Eintrag in die Kaderakte bedeutete, ahnt sie zumindest. Und sie ist froh, dass sie da schon ihren Barthold kannte, den sie flott heiratete.

Aber man wird das schlechte Gewissen nicht los in so einem Land. Es macht hilflos, wie nicht nur Barthold in seinem Gespräch mit dem gewissen Herrn Müller, Krause oder Meier erleben muss (wonach er sich dann bärisch besäuft), sondern auch Margarete Helene schon ein paar Tage zuvor. Denn nichts, was Menschen in so einem Land tun, ist unverdächtig. Der Aufpasser steckt im Kopf und die Alarmglocken schrillen, wenn die graue Macht sich diffus erkundigt. Da fallen Margarete Helene die Knochen ein, die sie im Garten ausgegraben und ihrem Arzt zur Identifikation gegen hat. Es könnten auch Schweine- oder Kalbsknochen sein. Aber wer weiß das schon?

Wenn die Macht erst einmal aufmerksam geworden ist, wird alles verdächtig.

Aber es war weder die Buddel Steinhäger noch das Paar Knochen, die Herrn Müller aus seinem geheimen Büro herbeilockten. Das wird erst später klar, als Barthold mit der Frage konfrontiert wird, ob er einen gewissen Franzosen genauer kenne und warum er diesen Kontakt zu einem Ausländer nicht gemeldet habe.

Der Ausländer, dessen Name der Herr Müller jedes Mal falsch buchstabiert, ist ein gewisser Michel de Montaigne, Franzose, 1533 geboren, 1592 gestorben. Also schon ziemlich tot. Aber wie sollen das die farblosen Herren in der Behörde wissen, die ja nicht nach Wissen und Rationalität ausgewählt wurden, sondern eher nach Unauffälligkeit und bravem Bringefleiß?

In den Essays von Montaigne findet Barthold den Trost, den er weder auf der Arbeit noch mit Margarete Helene findet – den Trost, einen Gleichgesinnten stets parat zu haben, der ganz ähnlich über das Leben, die Mitmenschen und die Macht dachte, wenn auch 400 Jahre zuvor. Und schon für die Montaigne-Zitate, könnte man meinen, wäre dieses Buch von Kunert mit dem ostdeutschen Fegefeuer der Bücher bestraft worden. Nicht wegen Montaigne selbst. Von dem gab es damals tatsächlich eine Auswahl der Essays im Reclam Verlag Leipzig.

Aber natürlich pickt sich Barthold das heraus, was ihm in seiner Welt so verblüffend vertraut vorkommt. Zum Beispiel dieses Zitat: „Ehrgeiz, Habsucht, Grausamkeit, Rache reißen die Menschen nicht sehr mit sich fort, wenn sie offen auftreten, wie sie sind; Verführungs- und Zündkraft bekommen sie erst, wenn sie sich als Gerechtigkeit und Frömmigkeit tarnen. Der schlimmste Geisteszustand, den man sich vorstellen kann, ist der, wo das Böse zum Rechtmäßigen wird und wo es, mit Zustimmung der Regierung, sich als Tugend maskiert; die äußerste Erschütterung des Rechtsbewusstseins liegt, nach Plato, dann vor, wenn das, was Unrecht ist, für Recht gehen darf.“

Und es ist auch ein Montaigne-Zitat, mit dem er bei seinem Intershop-Besuch geglänzt hat, das die Herren Müller und Kompagnon auf den Plan rief. Was ihn natürlich zutiefst erschreckt, geradezu in Panik versetzt, als er dann auch noch vergebens nach seinem völlig zerlesenen Montaigne-Buch sucht, um dem Entsandten der geheimen Macht zu beweisen, dass Montaigne ein schon lange toter Franzose ist. Aber er findet es nicht. Margarete Helene hat das Buch entsorgt. Aus Eifersucht.

Denn seit sie im alten Schuppen einen uralten Büstenhalter fand und in Bartholds Schreibtisch eine alte Postkarte von einer gewissen Elfi, kocht es in dieser Ehe. Wenn man nicht mehr hat als den jeweils anderen Mitbewohner der irdischen Zweckgemeinschaft Ehe, reicht ein Funke des Misstrauens und das Leben miteinander wird zu einem Tanz auf Eierschalen, in dem jedes Wort das falsche sein kann. Erst recht, wenn die Angetraute in einem tiefen Zwiespalt steckt. Denn eigentlich gärt in ihr der Wunsch, eine selbstständige Frau zu sein, nicht nur das Anhängsel ihres Mannes. Auch eine selbstdenkende Frau. Aber es ist nicht nur der verschlossene Barthold, der ihr das Selbersein schwer macht.

Auch sie grübelt über dieses Land und seine verklemmte Macht nach. Und ist eigentlich auch längst fertig damit, durchdrungen von jenem Skeptizismus, den die Literaturkritiker Montaigne genauso gern zuschreiben wie Kunert. Sie bleibt aber nicht bei sich selbst. Sie hat ja erlebt, wie schnell das geht, wenn eigene Gedanken dazu führen, dass man auf der Schwarzen Liste landet.

Da hört man dann irgendwann auf, noch nach einem möglichen anderen Leben zu suchen. So burlesk die Erzählung zuweilen ausartet, bleibt sie dennoch ein sehr genaues und bitteres Psychogramm des „gelernten DDR-Bürgers“, auch in dieser Margarete Helene: „Der sogenannte Mensch ist endgültig in die Voyeurrolle gedrängt worden, nimmt gekränkt und lamentierend wahr, dass er es selber ist, dem man sein Leben aus der Hand genommen hat, das letzte, was er zu besitzen meinte. Margarete Helene wurde klar, wieso es kein Schicksal mehr gebe: Weil wir alle zu vorsichtig sind! Vorsicht ist unsere zweite Natur geworden! Darum sind auch alle Bücher langweilig. Vorsicht und Literatur vertragen sich nicht, unsere Angst, anzuecken und Ärger zu kriegen, bringt uns um die Lebensintensität.“

Wer wissen will, warum im Osten noch immer so viele Menschen genauso ticken, kann es hier lesen, mitten herausgeschrieben aus dem Jahr nach Ulbrichts Tod und der langsamen Erkenntnis, dass sich unter seinem Nachfolger gar nichts ändern wird. Dass das Leben ein fremdbestimmtes bleiben wird mit Menschen, die durch die eingebaute (eingeübte) Vorsicht zu Zuschauern ihres eigenen Lebens geworden sind.

Eine paternalistische Regierung erzeugt zwangsläufig infantile Verhaltensweisen.

Und bei den infantilisierten Untertanen ein permanentes schlechtes Gewissen, weil sie gar nicht anders können, als permanent zu sündigen (nicht nur im Sexuellen), auszuweichen, zu schwindeln und sich ihrer „schwarzen Gedanken“ jederzeit bewusst zu sein. Und viele hatten sich darin eingerichtet, haben sich angepasst.

Und so ganz grundlos hat Kunert auch die deftigen Sexszenen nicht in seinen Roman gepackt, auch wenn man bei einigen im Ungewissen bleibt, ob sie tatsächlich so passieren oder nur in der aufrührerischen Phantasie der Helden. Aber es war beim Umgang mit sexueller Offenheit in der DDR ja genauso wie mit der Gleichberechtigung der Frau – zwischen Darstellung und knickeriger, kleinbürgerlicher Wirklichkeit und Moral klafften Welten.

Und wo die öffentliche Schilderung und Darstellung von Sex regelrecht verpönt war, ging nicht nur Autoren wie Kunert die Phantasie durch. Denn wenn das Elementarste von allem zum beschwiegenen Tabu wird, erzählt das ja auch etwas über die anderen Tabus der Gesellschaft. Auf einmal spiegelt sich in der verklemmten Sexual-Aufklärung auch die gesellschaftliche Aufklärung, die ja sichtlich keine ist, wenn Themen reihenweise nicht angesprochen werden durften, weil man sonst dem „Klassenfeind“ …

Kunert spielt regelrecht mit diesem Topos.

„Die Frage, ob ihre Eltern das auch machten, sollte erst gar nicht bei den Kindern aufkommen, denn die Antwort darauf reduzierte die Autorität der Eltern, wie die Eltern dachten: Darum sollten die Kinder solange wie möglich Kinder bleiben, und, mal ehrlich, Barthold, erwies sich eine gesunde Infantilität nicht als wünschenswert? Keine Verantwortung, keine nutzlose Selbstständigkeit. Alles war einfach, weil einem alles vorbestimmt wurde. Wie leicht ließ sich das pädagogische System überblicken: für gute Leistung gab es Lob, für Ungezogenheit Strafe.“

Eine Stelle, an der man nicht nur an Margot Honeckers Erziehungssystem denkt, sondern auch an die anderen Erziehungs- und Korrektionsanstalten der DDR. Man hört sogar das Echo von Erich Mielkes „Ich liebe doch alle!“, gesprochen 14 Jahre nach dem Schreiben dieses Buches. Skeptizismus ist, wie Kunert hier fast leichthin erzählt, eine sehr profunde Methode, hinter die Maske des väterlichen Staates DDR zu schauen. Und auch ins eigene Herz, denn Kunert erzählt ja nicht aus zweiter Hand.

Er ist sein eigener Montaigne und bescheinigt nicht nur seinem Barthold ein zutiefst infantiles Verhalten. Er diagnostiziert es hier für ein ganzes Völkchen, das sich irgendwie arrangieren musste mit der allgegenwärtigen Erziehung durch die so gar nicht väterlich Herrschenden. Das verändert Lebenshaltungen.

Und man sieht es heute wieder – oder immer noch –, wenn im Osten manches anders läuft. Nicht nur bei den grollenden Wählern, von denen so viele gern geschont und verschont werden wollen, während gewählte Politiker geradezu aufdringlich das väterliche „Wir machen das schon“ raushängen lassen und im Namen des Volkes regieren. Gern verbunden mit ein bisschen Bestrafung für die ungezogenen Kinder. Die Botschaft funktioniert noch immer. Sie macht die anderen vorsichtig und einsichtig, wie es damals so schön hieß.

Und wie geht es nun aus? Wird Barthold von den Wächtern des Staates abgeholt und bekommt seine gerechte Strafe?

Die Geschichte endet so offen, wie sie begonnen hat. Und auch Montaigne findet einen neuen Leser, der freilich vom Gelesenen völlig überfordert ist.

Günter Kunert Die zweite Frau, Wallstein Verlag, Göttingen 2019, 20 Euro.

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