Als bei Volk & Welt 1989 der Band „Die Baugrube. Das Juvenilmeer. Dshan“ mit den Kurzromanen von Andrej Platonow erschien, ging er praktisch unter in einer völlig veränderten gesellschaftlichen Diskussion. Und dabei hatte es über 25 Jahre gedauert, bis „Dshan“ auch in der DDR erscheinen konnte. Was – im Nachhinein betrachtet – auch eine Tragödie war. Denn so unterblieb auch eine zentrale Diskussion über die Zukunft des Ostens. Eine Diskussion, die das vereinigte Deutschland 30 Jahre später beschäftigt.

Denn das, was nicht nur die Ostdeutschen als Sozialismus erlebt hatten, war nicht nur ökonomisch ein Raubbau an der Welt. Die ökologischen Katastrophen waren längst unübersehbar und wurden auch in der DDR diskutiert – freilich nicht in der Umweltpolitik. Da blieben seit den 1970er Jahren sämtliche Daten unter Verschluss, auch wenn in Bitterfeld, Wolfen und anderswo die Folgen der Umweltzerstörung unübersehbar waren. Diskutiert wurde in der Literatur. Und es waren auch Bücher aus der Sowjetunion, die die Folgekatastrophen menschlichen Machbarkeitswahns beschrieben. Man erinnere sich nur an Nurpeissows „Der sterbende See“ über die Tragödie des Aralsees oder an Valentin Rasputins „Abschied von Matjora“.

Literatur war immer das Ausweichfeld für die unerwünschten politischen Diskussionen. Und als Volk & Welt dann in den 1980er Jahren das Werk Andrej Platonows zu veröffentlichen begann, wurde etwas Grundsätzliches sichtbar, nämlich die Unbarmherzigkeit, mit der die Schmiede des neuen Menschen nicht nur den Menschen selbst zum Rädchen eines riesigen anonymen Systems zu machen versuchten, sondern auch die Umwelt zwingen wollten, den forcierten Industrialisierungsplänen der Planer zu gehorchen. Eine Geschichte der rücksichtslosen Unterwerfung, die keiner so deutlich formulierte wie der Slawist Ralf Schröder in seinen Nachworten und Essays zur sowjetischen Literatur.

Das Nachwort zu „Die Baugrube. Das Juvenilmeer. Dshan“ freilich schrieb er nicht. Das schrieb Lola Debüser, die Übersetzerin, selbst. Und sie ordnete den Roman über das in der Wüste lebende Volk der Dshan in einen Topos ein, den Leser der russischen Literatur schon von Dostojewski und Bulgakow her kannten: die Goethesche Faust-Interpretation. Spätestens mit Stalin wurde dieser mephistophelische Pakt regelrecht zur Staatsdoktrin. Die „Baugruben“ des in die kapitalistische Industrialisierung gepeitschten Riesenreiches wurden für viele der Erbauer zur Totengrube.

Die Visionen des übermächtigen Alleinherrschers in Moskau wurden gnadenlos durchgepeitscht, ohne Rücksicht auf die Millionen, die dabei zugrunde gingen. Das betraf wohl auch das gnadenloseste aller Moskauer Projekte. Und damit ist nicht der seit 1930 entfesselte Stalinsche Terror gemeint, sondern die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, deren Ergebnis die Hungersnot von 1932/1933 war, bei der zwischen fünf bis neun Millionen Menschen starben.

Handelt „Dshan“ denn von dieser Hungersnot? Indirekt schon. Denn schon seit 1931 war Platonow, der mit „Tschewengur“ und „Die Baugrube“ erste literarische Erfolge gefeiert hatte, durch Stalin persönlich zum Verfemten gemacht worden. Dem hatte die von Platonow in der Zeitschrift „Krasnaja now“ veröffentlichte Erzählung „Zum Vorteil“, die die Zwangskollektivierung thematisierte, nicht gefallen. Fortan hatte Platonow Veröffentlichungsverbot und erst das wahrscheinliche Einschreiten Maxim Gorkis öffnete Platonow 1934 wieder Chancen, als Schriftsteller veröffentlichen zu können. „Dshan“, 1935 entstanden, nach Platonows Turkmenien-Reise in einer offiziellen Schriftstellerdelegation, wurde erst 1964, am Ende der durch Chrustschow eingeleiteten Tauwetterperiode veröffentlicht – in einer gekürzten Form. Und ohne den Namen Stalin, der auch 1989 in der Ausgabe von Volk & Welt nicht auftauchte.

Michael Leetz hat deshalb das erst 1999 vollständig veröffentlichte Original des Romans völlig neu übersetzt und neu eingeordnet, denn er hat noch einige kleinere Erzählungen, Essays (die eher Zeitschriftenartikel sind) und Briefe Platonows aus der Entstehungszeit von „Dshan“ dazu gepackt, die einen völlig neuen Interpretationsraum eröffnen, als ihn Lola Debüser 1989 aufgemacht hat. Was nicht bedeutet, dass Debüsers Interpretation falsch ist. Im Gegenteil. Die Thematik des Faustschen Paktes ist weiterhin unübersehbar, wie bei Bulgakow motivisch eng verflochten mit der Jesus-Geschichte. Immerhin geht es hier um ein verlorenes Volk (von Heimatlosen und Rechtlosen), das aus der Wüste geführt werden soll.

Doch es werden zwei Beauftragte entsandt. Einmal der Funktionär Nur-Mohammed, dem die Menschen des verlorenen Stammes völlig egal sind. Er tut nichts, um sie aus ihrem Elend zu erlösen, sondern registriert nur akribisch die Toten. Und dann der eigentliche Held der Geschichte, Tschagatajew, in dem auch ein Stück des Autors steckt, denn Platonow selbst war ja ausgebildeter Elektroingenieur, hatte mit Meliorationsprojekten Anfang der 1920er Jahre große Erfolge. In vielen der Texte, die Leetz dem „Dshan“-Roman beigegeben hat, wird dieses von einem fruchtbaren, lebendigen Land ausgehende Denken Platonows sichtbar, der in seinen geradezu enthusiastischen Zeitschriftenbeiträgen dafür plädiert, den Sozialismus auch ökologisch völlig anders zu denken als den auf Kohle, Erdöl und der Ausplünderung der Rohstoffe basierenden Kapitalismus.

Vehement warb er damals schon für eine lichtbasierte Energiewirtschaft – Sonnenkollektoren und die Nutzung der Windenergie.

Aber „Dshan“ ist kein Ingenieurroman. Eher einer, der auf fast märchenhafte Weise die brutale Art des Stalinismus, die Menschen in eine bessere Zukunft peitschen zu wollen, kritisiert. Möglicherweise hat man das in den Moskauer Zensurstuben durchaus begriffen oder zumindest geahnt und deshalb die Drucklegung verweigert, obwohl die Geschichte versöhnlich endet und Tschagatajew die Dshan nicht nur aus der Verlorenheit führt, sondern auch noch erlebt, wie die schon unter den reichen Beis Geschundenen und Verfolgten – endlich gesättigt – aufbrechen, die Welt jenseits der Wüste zu entdecken, sich also schon fast wieder verloren haben, sodass Tschagatajew selber noch einmal loszieht, um sie zu suchen.

Doch am Ende kehren sie in den von ihnen aus Lehm gebauten Aul zurück und gründen eine lebendige, zukunftsfrohe Kommune. Das kann man als Verklärung des Sozialismus lesen. Aber auch – was viel näherliegt – als eine Utopie jenseits davon. Denn die Dshan, die da unverhofft aufbrechen in die Fremde, sind keine Untertanen mehr, keine Menschen, die sich alles gefallen lassen oder so hoffnungslos und todesmüde vor sich hinsterben, wie sie es waren, bevor Tschagatajew zu ihnen kam.

Sie haben wieder eine Geschichte und Neugier auf die Welt jenseits des Hungers und der Einsamkeit, werden zu Individuen, also eben nicht zu dem brav funktionierenden Muschik, aus dem Stalin seinen Staat bauen wollte. Und das sind sie auch geworden, weil Tschagatajew sich für sie geopfert hat – hier klingt der Prometheus-Mythos an, der in „Dshan“ mit dem Mythos von Ormuzd und Ahriman verschmilzt. Nur dass die Rollen des Guten (Ormuzd) und des Bösen (Ahriman) bei Platonow vertauscht sind. Denn Ahriman ist hier der Ausgestoßene, Leidende, der vom triumphierenden Ormuzd in die Wüste Verbannte, der sich nun selbst aus seinem Elend herauskämpfen muss.

Und es ist ein quälender Kampf. Denn wirklich Hilfe wird auch Tschagatajew erst ganz zum Schluss zuteil, nach endlosen Wanderungen durch eine Wüste, in der das Nahrungsangebot rar ist, das Wasser sowieso. Und in der die Hungernden sich schon abgefunden haben damit, sang- und klanglos zu sterben. Doch etwas wühlt in Tschagatajew, etwas, das nicht klein beigeben will und sich gegen das Verhängnis wehrt. Auch gegen den übergriffigen Nur-Mohammed.

Es ist ein Vorgang, der mit einigen Stellen aus Platonows Zeitschriften-Essays korrespondiert, in denen er versucht zu erklären, wie er sich die Entstehung des Menschen der Zukunft vorstellt. Da kommt freilich nichts von der stalinschen Funktionärs-Schmiede vor. In „Dshan“ klingt es ganz direkt an, wenn Tschagatajew über sein Scheitern sinniert, das eigentlich kein Scheitern ist. „Er wollte doch allein aus seinem kleinen Herzen, aus engem Verstand und Leidenschaft heraus hier erstmals das wirkliche Leben erschaffen, am Rande der Sary-Kanysch, dem Höllengrund der alten Welt. Aber die Menschen sehen selbst am klarsten, was das Beste für sie ist. Genug, dass er ihnen half, lebendig zu bleiben, und das Glück erlangen mögen sie hinter dem Horizont …“

Schon vorher hatte das Mädchen Aidym, das Tschagatajew als erstes hilft, die Mutlosigkeit der Hoffnungslosen aufzulösen, ein paar Worte gesagt, die ganz bestimmt nicht nur für die Menschen in jahrhundertealten Despotien gelten. Denn Tschagatajew sorgte sich ja nicht grundlos, dass die Dshan aus ihrer Traumlosigkeit nicht mehr erwachen.

„Dann sterben sie, und Schluss“, sagte Aidym. „Sie werden nie erfahren, dass sie gelebt haben, wenn sie die ganze Zeit schlafen.“

Da hatte Tschagatajew schon die Hoffnung aufgegeben, dass die Menschen, die er aus ihrem Elend geführt hat, überhaupt jemals wirklich aufwachen und wieder selbst aus sich heraus zu leben beginnen. Das ist kurz bevor sie einfach wortlos aufbrechen und in alle Winde gehen. Nur Aidym hat sie fortgehen sehen.

„Leb wohl, Mädchen, hat er gesagt, die Beine laufen jetzt ein bisschen und der Bauch holt mal tief Luft, es ist Zeit, zu leben. Mehr hat er nicht gesagt.“

Das ist so ungefähr das Gegenteil dessen, was in der stalinschen Zwangskollektivierung passiert ist. Und es ist eine der Grundüberzeugungen Platonows, die immer wieder aufscheinen – in den im Band enthaltenen Geschichten „Der Takyr“ und „Karages“ genauso wie in seinem utopischen Entwurf „Die erste sozialistische Tragödie“, auch wenn es da dann – ganz im Sprachgestus der Zeit – geradezu heroisch klingt. In „Der Takyr“ hat er es mit viel weniger Worten viel besser auf den Punkt gebracht: „Selbst wenn sie glücklich gewesen wäre, hätte sie diese Arbeiten verrichtet, denn um sein Glück zu bewahren, muss man ganz gewöhnlich leben.“

Leben heißt tätig sein, die Dinge tun, die möglich sind und getan werden müssen. Und – das klingt dann in „Karages“ noch stärker an – das eigene Leben am Schopf packen. Oder eben – wie Tschagatajew – in anderen wieder den Mut zum Selberleben entzünden. Was er zu Beginn seines Aufbruchs in die Wüste noch nicht weiß. Er weiß überhaupt noch nicht, wie er die „Dshan“ aus ihrem Verlorensein holen kann. Das lernt er erst. Auch durch seine Aufopferung. Womit er zum Gegenbild für den rücksichtslosen Funktionär Nur-Mohammed wird.

Bei Platonow gehören beide Linien zusammen – der sorgende Umgang mit den Ressourcen der Natur und die bedingungslose Zuneigung zu den Menschen. Für ihn ist der Mensch der Zukunft im Menschen der Gegenwart schon angelegt. Michael Leetz betont in seinem informativen Nachwort das verblüffend modern wirkende ökologische Denken bei Platonow. Aber Platonows Denken über die „Gestalt des zukünftigen, höheren Menschen“ gehört dazu. Denn darin steckt genau dieselbe Behutsamkeit und Rücksicht. Eine Rücksicht, die er im auch die Menschen ausplündernden Kapitalismus nicht sah.

Und – was er mit all dem nur indirekt sagt – im stalinschen „Erziehen“ des neuen Menschen auch nicht. Auch wenn Stalin mit der Neuübersetzung in „Dshan“ wieder als Tschagatajews „Ersatzvater“ auftaucht. Was dann eine völlig neue Ebene aufmacht, die selbst in Leetz’ Nachwort keinen Platz mehr gefunden hat: Immerhin schreibt er ja hier über ein zusammengewürfeltes Volk von Waisen, von Menschen, die keine familiären Bindungen mehr in die Welt haben und auch nicht zueinander. Welche Rolle spielen dann die (falschen) Ersatzväter, wie sie heute wieder schnauzbärtig aus allen Ecken kriechen? Stählerne, unbarmherzige Vorbilder für was eigentlich?

Es ist, als verändere sich Tschagatajews Rolle zusehends. Aus dem „Sohn“ Stalins, dem zu Heldentaten aufbrechenden Waisen, wird immer mehr einer, der selbst beginnt, väterlich zu handeln und zu behüten.

„Dshan“ ist ein märchenhaft dichtes Stück Literatur, das beim aufmerksamem Lesen erstaunlich viele Parallelen in die Gegenwart aufweist, die ganz unübersehbar ihre technokratische Rücksichtslosigkeit gegenüber der Natur, den Tieren aber auch den Menschen nicht abgelegt hat. Und die Verlorenen und Schlafenden leben heute in Wohlstands-Wüsten, in denen sie sich aber unüberhörbar genauso trostlos und verloren fühlen wie die Traumlosen in der Sary-Kanysch.

Andrej Platonow Dshan oder Die erste sozialistische Tragödie, Quintus-Verlag, Berlin 2019, 25 Euro.

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