Der Verlag „Das kulturelle Gedächtnis“ gibt Bücher heraus, die den Lesern gleich zwei Dinge schenken: Die Freude an schön gestalteten Büchern und die Freude an der Schönheit unserer Sprache. Eine Sprache, die immer davon profitiert hat, dass Deutschland mitten in Europa liegt und von allen Seiten alles in seinen Sprachschatz aufnimmt, was ihn in irgendeiner Weise bereicherte. Wer mehr als die handelsüblichen 100 Wörter benutzt, weiß, was das für eine Schatzkammer ist.

Die beiden Herausgeber Thomas Böhm und Carsten Pfeiffer nennen es Wunderkammer und erinnern im Vorwort an die berühmten Wunderkammern des Mittelalters, in denen Sammler alles zusammentrugen, was ihnen an der Welt kurios, seltsam und rätselhaft erschien. Es waren die Vorläufer unserer heutigen Museen und Naturalienkabinette.

In gewisser Weise ähnelt natürlich eine gewachsene Sprache so einer Kammer, die für ihre Besucher einst voller Faszination war, eine Art Strandgutlager von lauter Dingen, deren Herkunft man noch nicht kannte. Man war ja gerade dabei, die großen Rätsel der Erde zu entschlüsseln. Und als die meisten Rätsel entschlüsselt waren, verschwanden auch die Wunderkammern.

Eigentlich ist es mit der Sprache ebenso. Worte, die nicht mehr gebraucht werden, weil das, was sie bezeichnen, verschwand, verschwinden ebenso. Meistens spurlos, wenn sich nicht Sammler bemühen, die bedrohten Kuriositäten noch schnell in ein Buch zu sperren, bevor sie verloren gehen. So, wie die Brüder Grimm nicht nur loszogen, um Märchen zu sammeln, bevor sie nicht mehr erzählt wurden, sondern auch Wörter für ihr gewaltiges Wörterbuch, dessen letztlichen Umfang sie nicht einmal ahnen konnten.

Sie verstarben ja schon früh über den ersten fünf Buchstaben. Aber ihre Vorarbeitet fanden gerade Wortliebhaber aller Art so wichtig und maßstabsbildend, dass sie dann im Kollektiv die Arbeit am Wörterbuch fortsetzten, dessen letzter Band, der 32., dann 1961 erschien. Da waren 320.00 Stichworte bearbeitet und mit Quellennachweisen versehen worden.

Und da die beiden auch wissenschaftlich auf der Höhe der Zeit war, kann man auch die Herkunft jedes Wortes erkunden, weshalb so mancher Wort-Arbeiter alle 33 Bände bei sich überm Schreibtisch (rechts oder links) stehen hat, um sich neue Anregungen zu holen, Herkünften nachzuspüren oder auch mal herauszubekommen, welches Strandgut da in der deutschen Sprache gelandet ist, quasi nach Germanenart einfach einkassiert bei Begegnungen mit Römern, Arabern, Griechen, Franzosen, Polen, Tschechen, Russen, Spaniern …

Eine Schatzkammer eben. Nur dass diese geraubten Schätze niemand zurückfordert. Im Gegenteil: Wenn Völker sich die Wörter teilen, werden beide reicher. Selbst dann, wenn die eingedeutschten Begriffe mit den Originalen nichts mehr zu tun haben. Aber natürlich geht es dem Kollektiv, das sich hier um die beiden Herausgeber geschart hat, um mehr, auch wenn das Grimmsche Wörterbuch natürlich seine berechtigte Würdigung findet und auch eigene Kapitel bekommt.

Denn manches steht eben doch nicht drin, weil es nicht zum Normgebrauch in deutschen Landen gehörte. Denn neben den vielen Mundarten (von denen unter anderem ein hessischer und ein schwäbischer Dialekt gewürdigt werden) gab es (und gibt es) auch viele Jargons, die nur in speziellen Milieus gesprochen wurden und werden – mal, um sich von anderen abzugrenzen, mal auch, um sich vor den Ohren anderer Leute quasi in „Geheimsprache“ unterhalten zu können.

Dazu gehört das Rotwelsch der Menschen, die auf den Straßen des Landes überleben mussten, dazu gehört das „Luden ABC“ von Sankt Pauli, aber auch der Sprachgebrauch von Studenten und der von Soldaten in deutschen Kasernen. Von allen gibt es Auszüge im Buch, sozusagen Kosthappen, die zeigen, wie erfinderisch Menschen werden, wenn sie sich eine eigene, von den Mächtigen nicht verstandene Sprache zulegen.

Aber nicht einmal da hört es auf: In deutschen Küchen hat sich eine ebenso eigene Sprachwelt herausgebildet wie unter den Jägern und Anglern. Und oft genug blieben ja die besten Wortfindungen nicht dort, sondern sickerten von der Seite, von oben und von unten in den allgemeinen Sprachgebrauch ein. Die deutsche Sprache ist in ständiger Bewegung. Logischerweise erzählen einige Kapitel davon, wie kluge Leute versuchten, sie zunehmend einzufangen und zu verstetigen.

So wird folglich auch Johann Christoph Adelung gewürdigt, der ab 1774 in Leipzig das erste „Grammatisch-kritische Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart“ herausgab, das gar nicht überraschend auf dem sächsischen Kanzleideutsch beruhte, jener Sprache, die auch Luther bei der Übersetzung der Bibel verwendete. Erst damit entstand eben das, was wir heute so beiläufig Hochdeutsch nennen.

Und später zogen ja die diversen Rechtschreibreformen die Zügel noch straffer und wären eigentlich schon 1876 beim ersten Versuch gescheitert, wenn nicht Konrad Duden konsequenterweise jenes Werk auf die Beine gestellt hätte, das heute alle unter seinem Namen kennen.

Aber das Hochdeutsche hätte trotzdem schlechte Karten gehabt, hätte es zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht einen heftigen Streit um die Bühnensprache gegeben, aus dem dann eine regelrechte Schule der Bühnensprache wurde – mit dem Ergebnis, dass nicht nur die ganzen Dialekte von den Bühnen verschwanden, die die feierliche Inszenierung klassischer Dramen ins Lächerliche zogen. Das hatte auch Folgen für die Schule, wo die Kinder seitdem auch lernen deutlich zu sprechen, also bühnendeutlich. Außer in ein paar Bundesländern, die ich hier nicht nennen werde.

Die Herausgeber haben sich wirklich bemüht, die vielen Facetten der deutschen Sprache zumindest anzudeuten. Denn ein wirklich vollständiges Übersichtswerk zu diesem Thema würde noch um ein Vielfaches dicker werden als das Grimmsche Wörterbuch. Selbst dann, wenn die meisten Menschen ihr ganzes Leben nur mit ein paar hundert Wörtern bestreiten, nicht einmal ahnend, was ihnen alles verborgen bleibt.

Goethe hat man die Verwendung von 90.000 verschiedenen Worten nachgerechnet. Aber der Kerl war ein Trickser (und erntet im Buch dann auch berechtigte Kritik von kompetenten Kollegen), die meisten dieser Worte sind Zusammensetzungen, mit denen der etwas eitle Geheimrat auch in Briefen gern spielte. Eine kleine Auswahl zu Liebesworten macht deutlich, wie er das machte – und warum ihn einige Kollegen für einen schlechten Stilisten hielten. Und halten.

Große Karten im Buch zeigen die regionale Verteilung der bevorzugten Bezeichnungen zum Beispiel für Weihnachtsbaum, Rummel, Brötchen und Uhrzeit. Und einige Autoren und Autorinnen haben ihre Listen der liebsten zehn Wörter zusammengestellt – oder wohl besser: gleich wieder literarisch verarbeitet. Denn wer wirklich professionell mit Worten arbeitet, der listet sie nicht einfach auf.

Der weiß ja, wie es in den Worten grummelt und wie sie immerfort danach drängen, etwas zu erzählen, aus- und abzuschweifen und dabei zu immer neuen Gedanken und Erkenntnissen zu werden. Denn Worte haben Macht. Zumindest hinterlassen sie Eindruck. Als „Letzte Worte“ zum Beispiel (die meistens das Problem des verlässlichen Zeugen haben), als „verbotene Worte“, als satirisches Arbeitsmaterial, mit dem man Leute zum Lachen bringen kann, manchmal auch zum Denken. Aber halt nur manchmal.

Weil Sprache für viele Menschen nicht wirklich ein Material zum Klügerwerden ist, sondern Verlegenheitsbehelf, um Einruck zu schinden und einfach solange aufeinander einzureden, bis beide das Gefühl haben, alles gesagt zu haben. Und nicht einen Moment haben sie zugehört. Deswegen hat auch ein entsprechender Text von Kurt Tucholsky ins Buch gefunden, das letztlich tatsächlich eine Schatzkammer ist, ein Kabinett der Überraschungen, selbst für Leserinnen und Leser, die sich schon oft mit den wundersamen deutschen Sprachwelten beschäftigt haben.

Manchmal braucht es einfach so ein – auch typographisch liebevoll gestaltetes – Buch, um wieder aufmerksam zu werden, was für Reichtümer unsere Sprache bewahrt, wie vielseitig und herrlich nutzbar sie ist. Wobei ja die negativen Seiten – etwa das Beamtendeutsch oder der Politikerjargon – zum Glück nicht drin vorkommen. Vielleicht haben sich da auch die Herausgeber gedacht: Nein, wir wollen doch das Publikum nicht langweilen und frustrieren.

Wir wollen doch das Gegenteil: Zeigen, dass diese Sprache mit dem alltäglichen Verhunz nichts zu tun hat, sondern lebendig ist, atmet, brodelt, schäumt und zu regelrechten Abenteuern einlädt, wenn die Autoren wenigstens mal eine große Kelle aus dem herrlichen Suppentopf genommen haben. Das darf ruhig auch ein bisschen DDR-Wortschatz sein.

Denn auch die DDR-Bewohner haben sich – mal freiwillig, mal gezwungen – ein eigenes Kauderwelsch zugelegt, über das die Neubenutzer West nach 1989 manchmal auf ziemlich plumpe Art staunten, gern mit schwäbischem Unterton, also von weiter oben, wo noch ganz andere Sprachen zu Hause sind. Von denen natürlich der gemeine Landlatscher nur ahnt, was gemeint sein könnte, wenn sich die Gehobenen ex- und inklusiv betütteln.

Es ist einfach das richtige Buch für alle, denen der draußen heute übliche Sprachgebrauch mächtig auf den Keks geht und die sich gern vergewissern wollen, dass es in der Welt der Sprachbegabten tatsächlich viele Gleichgesinnte gibt. Und vor allem einen Stoff, der immer reicher wird, egal, wie oft sich Korrektoren, Sprachreiniger und Saubermänner darüber hermachen, weil sie vor dem Anarchischen in Volkes Mund bis heute eine tiefsitzende Angst haben.

Thomas Böhm; Carsten Pfeiffer Die Wunderkammer der deutschen Sprache, Verlag Das kulturelle Gedächtnis GmbH; Berlin 2019, 28 Euro.

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