Eigentlich hätte diese Ausstellung im Mädler Art Forum in der Grimmaischen Straße am 3. Dezember eröffnet werden soll. Aber der Lockdown warf auch diesen Plan über den Haufen und damit eine Ausstellung, die von Kunstwissenschaftler Prof. Fank Zöllner und seinen Student/-innen ganz bewusst auf Kontroverse angelegt war. Und so ist das Buch zur Ausstellung da und macht jetzt neugierig auf all was, was in „Antipoden?“ zu sehen sein wird. Denn irgendwann wird die Ausstellung öffnen. Das ist sicher.

Der Titel nimmt indirekt schon eine Debatte auf, die der Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich 2019 wieder aufgekocht hat – damals und jüngst auch in seinem Buch „Feindbild werden“ mit einer spitzen Klinge gegen Neo Rauch und letztlich auch die Leipziger Schule.

Seine These wirkt dabei wie aus dem letzten Jahrhundert in ihrer Konstruktion zwischen einem pluralistischen und einem essentialistischen Kunstverständnis. Das pluralistische nimmt der in München geborene Autor dabei für den Westen in Anspruch und wirft dem Osten die fehlende Postmoderne vor. Und damit das nicht durchlaufene Identitätsuchen in einer instabilen, dekonstruierten Welt.

Das scheint zu passen, wenn man die West-Position nicht verlässt. Aber schon wenn man sich – wie Frank Zöllner – intensiver mit der Leipziger Schule beschäftigt (die nur eine von vielen durchaus auch widersprüchliche Strömungen in der DDR-Kunst war), wird einem klar, dass die starren Schablonen der Kunsttheoretiker niemals passen und die konstruierten Gegensätze gar nicht existieren.

Dass die Leipziger Schule der gefeierten Maler Tübke, Heisig und Mattheuer und all ihrer Schüler/-innen ohne das Wechselspiel mit einer vom biederen Realismus überzeugten Partei scheinbar nicht denkbar ist, macht sie ganz und gar nicht zu platter Staatskunst. Dafür standen in der DDR ganz andere Leute. Zöllner schreibt in seinem Essay, den er dem Katalog vorangestellt hat, von einer „merkwürdigen Mischung aus Anpassung und verhaltener Verweigerung, die international Beachtung gefunden hat und immer noch reichlich Gesprächsstoff bietet“.

Wobei man das „merkwürdig“ nicht überlesen darf. Denn indem sie die platten Staatsbilder ironisierten, überformten, geradezu ins Groteske drehten, schufen die Vertreter/-innen der Leipziger Schule eine Formensprache, die zwar an klassische Malweisen anknüpfte – aber bei Sammlern im Westen auch regelrecht Faszination auslöste. Denn gerade in dieser Groteske steckt genau das, was Ullrich zu vermissen behauptete: die Dekonstruktion des als Norm gesetzten und die Demontage des als heil definierten Individuums.

Dass die Künstler/-innen dieser Generation dabei eine stark narrative Malerei bevorzugten, macht diesen Weg in die Post-Moderne damit nicht falsch, nur weil er sich deutlich vom von Moden besessenen westlichen Kunst-Markt unterschied.

Und deswegen sind auch die Vertreter der Neuen Leipziger Schule (die Neo-Rauch-Generation) und die der von Zöllner nun so bezeichneten Neuesten Leipziger Schule (deren Schüler) keine Antipoden. Das Fragezeichen hinterm Titel stellt die ganze vor allem im westdeutschen Feuilleton geführte Kunstdebatte ad absurdum.

Und dafür stehen gerade die zwölf Künstler/-innen, die die Studierenden des Instituts für Kunstgeschichte der Universität Leipzig für die Ausstellung im Mädler Art Forum ausgesucht haben. Und zwar gerade in ihrer stilistischen Vielfalt. Denn es ist seit mindestens 30 Jahren eine Illusion, alle Schüler und Schülerinnen der drei großen Leipziger Lehrer und ihrer Nachfolger hätten so gemalt wie sie und die klassische Tafelmalerei mit ihrem narrativen Erzählen bevorzugt.

Dafür gibt es viele Beispiele. Stimmt. Und auch von den Ausgewählten stehen einige in dieser Tradition. Aber nicht, weil sie irgendwelche Schulen vertreten wollen oder in irgendwelche Schubladen der Kunstkritiker passen wollen, sondern weil die gelernte Technik ihnen Möglichkeiten gibt, ihre künstlerische Position zu gestalten und herauszuarbeiten.

Wieder mit lauter Dekonstruktionen und Brüchen und Irritationen. Man denke nur an Markus Matthias Krügers fast surreale Landschaften, in denen fast landschaftsplanerische Akkuratesse mit irritierender Leere einhergeht, oder die „Baukastenbilder“ von Titus Schade oder auch die post-romantischen Landschaftsbilder eines Sebastian Nebe.

Zur Post-Moderne gehört nun einmal auch, dass man mit allen klassischen Elementen der Malerei arbeiten und spielen kann. Immer auf der Suche nach der eigenen, zutiefst prägnanten Sicht auf diese Welt. Entschlüsseln muss es ja der Betrachter. Und das dürfte in der Regel eben nicht der zum Streiten aufgelegte Kunstkritiker sein, der so überzeugt davon ist, dass er den Künstler oder die Künstlerin einfach nur in eine Schublade stecken muss. Genau diesen Befreiungsakt vom bornierten Schubladenbastler hat ja die Post-Moderne geschafft. Was es Lehrern natürlich nicht leichter macht. Es ist um so viel bequemer, hübsch abgegrenzte Kunst-Epochen zu haben und alle darin versammelten Künstler über denselben Kamm scheren zu können.

Aber wer „Antipoden?“ anschaut, sieht, dass es darum gar nicht geht und nie ging. Sondern immer darum, dass Künstler/-innen bei allem professionell vermittelten Handwerk doch ihren eigenen Weg, ihre eigene Bild-Sprache finden müssen. Erst dann wird Kunst zu Kunst – nicht durch die Technik oder die Narration, sondern dadurch, dass es dem Malenden gelingt, genau das Unsagbare in ein Bild zu bannen, das ihn umtreibt, quält, belastet, verblüfft.

Übrigens alles Dinge, die alle Menschen mit sich herumschleppen. Nur kommen die meisten nie aus dem angelernten Repertoire des „Richtig“-Malens und „Richtig“-Sehens heraus. Sie bemerken nicht einmal, wo ihre eigene Lebenserfahrung mit den angelernten Seh-Schablonen kollidiert.

Zöllner hat nun einmal auch recht, wenn er selbst die (alte) Leipziger Schule immer noch für einen Stoff hält, der immer neue Debatten auslösen kann (und zwar nicht nur solche, in denen westdeutsche Kuratoren meinen, die Kunst im Osten von 1949 bis 1990 in einen großen Sack stecken zu können).

Der Unterschied der Neuesten Leipziger Schule zu den Leipziger Vorgänger-Generationen ist wohl eher, dass diese jungen Malerinnen und Maler ein noch deutlich spielerischeres Verhältnis zum vorgefundenen Kanon haben und ganz bewusst die angelernten Seh-Konventionen unterlaufen. Gleichzeitig aber immer auch damit spielen, dass kein Kunstbetrachter umhinkommt, seine Narrationsmaschine im Kopf anzuschalten. Der Mensch ist so – er sucht nach Mustern, Geschichten, vertrauten Motiven, Stimmungen, Assoziationen.

Wem es hilft, der kann auch die durchaus klugen und einfühlsamen Begleittexte zu jedem der zwölf Ausgestellten lesen. Die Studierenden aus Zöllners Klasse bieten hier – mit kunstwissenschaftlicher Vorbildung – schöne Einstiegsmöglichkeiten in die vorgestellte Bildwelt. Manchmal mit ganz bewusster Distanz, manchmal aber regelrecht befeuert von dem Wunsch zu erklären, was man sieht.

Kann man machen. Es empfiehlt sich trotzdem, auch beim Blättern den eigenen Zugang zu suchen. Oder besser: Die Bilder erst einmal wirken zu lassen. Denn welche Geschichte jemand darin entdeckt, hängt immer von der ganz eigenen Disposition ab. Gute Kunst zeichnet sich eben auch dadurch aus, dass verschiedenste Betrachter völlig unterschiedliche Zugänge zu ihr finden können.

Und einige der vorgestellten Künstler/-innen arbeiten genau darauf hin: diese Zugänge möglichst offen zu gestalten, mit dem zu spielen, was in uns Menschen immer mitträumt, die Welt als Muster und Bühne erfasst, wenn auch meistens unbewusst. Künstler/-innen zeigen uns eben auch das, was wir schon immer gesehen haben – aber nie bewusst wahrgenommen.

Da kann man die Arbeiten von Henriette Grahnert genauso als Beispiel nehmen wie die von Claus Georg Stabe (diese unheimliche Fleißarbeit mit Kugelschreiber!) oder die extrem visuellen Arbeiten Benedikt Leonhardts.

Man kann sich schlicht nicht vorstellen, dass all diese Bilder in der Ausstellung wie Antipoden wirken. Der Begriff zielt über die Ausstellung hinaus und ist so gesehen auch die zum Titel gewordene Kritik an einer Kunstdebatte, die auf dem Rücken der älteren und der jüngeren Künstler die alten Grabenkämpfe westdeutscher Gelehrter gegen all das austragen, was sie meinten, 1990 mit großem Bambule auf den „Misthaufen der Geschichte“ gekehrt zu haben.

Und der Ärger kommt ganz gewiss auch daher, dass sich da etwas so ganz besonderes aus der Leipziger Schule am Kunstmarkt immer noch behauptet, manchmal erkennbar narrativ, manchmal souverän ironisch oder hintersinnig. Als wäre es denen da in Leipzig einfach nicht genug, genialisch zu sein, sondern immer auch auf den potenziellen Betrachter zu zielen und eine Gesprächsebene mit ihm zu finden. Gute Bilder sprechen, so simpel das klingt. Selbst da, wo sie die Irritation zum Inhalt machen und den Betrachter aus seiner Gemütsruhe stoßen.

Und wer die hoffentlich im neuen Jahr bald eröffnete Ausstellung besucht, wird zwölf verschiedene Bild-Sprachen vorfinden. Und keine ist wirklich verschlossen und hermetisch. Und viele dieser Sprachen spielen mit einer vielleicht sogar typischen Leipziger Schul-Lust mit klassischen Motiven – wie etwa der in Kiel geborene Malte Masemann.

Bloß weil das Feuilleton meint, seine Kunst-Epochen per Gerichtsbeschluss festgezurrt zu haben, heißt das nicht, dass sich auch nur ein einziger Künstler bemühen muss, den Wünschen des Feuilletons zu entsprechen. Das hilft vielleicht manchmal einer Ausstellung zum Erfolg und kann auch manches Halbtalent zu immensen Verkaufserfolgen auf dem Kunstmarkt bringen.

Aber wenn es versucht, anstelle der Kunstliebhaber/-innen zu sehen, zu interpretieren und zu werten, geht das regelmäßig schief.

Und es verbaut den eigentlich neugierigen Menschen, die sonst ganz ohne Vorurteile in eine Kunstausstellung gehen würden, die simple Vorfreude auf das noch zu Entdeckende. Und in dieser Ausstellung gibt es was zu entdecken. Und wer sich nicht gedulden kann, hat mit diesem Buch schon mal einen Türöffner, einen freundlich begleiteten Blick durchs Schlüsselloch. Die kleinen Angaben zu jedem Bild verraten schon mal, was für beeindruckend große Formate man zu sehen bekommt.

Und man braucht kein Kunststudium dazu. Nur elementare Neugier auf etwas, was einem in vielen Fällen „merkwürdig“ vertraut vorkommt. So wie manchmal diese Träume, die einem ein Stück vom Selbsterlebten zeigen – aber seltsam verwandelt. Als könnten wir auch aus anderer Perspektive schauen und wahrnehmen, wie irritierend fremd-vertraut diese Welt eigentlich ist. Auch das ein ganz essentielles Kennzeichen dessen, was studierende Künstler/-innen aus Leipzig mitnehmen, Generation um Generation um Generation.

Frank Zöllner Antipoden? Neueste Leipziger Schule, E. A. Seemann Verlag, Leipzig 2020, 20 Euro.

Frohe Weihnacht mit der neuen „Leipziger Zeitung“ oder: Träume sind dazu da, sie mit Leben zu erfüllen

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