Ob es etwas nützt? Das ist die große Frage. Denn wer wird die deutlichen Worte von Heinz-Peter Meidinger lesen und auch anwenden? Meidinger ist ja kein Leichtgewicht. Seit 2017 ist der pensionierte Gymnasialdirektor Präsident des deutschen Lehrerverbandes, kennt also seine Pappenheimer, Föderalisten und Dauerreformer nur zu gut.

Und die auch über die Schulen verhängten Schließungen im Frühjahr und dann wieder an November machten nur zu deutlich, was alles nach wie vor klemmt in der deutschen Schulpolitik. Man redet zwar viel über Lehrer, Schüler und Eltern – aber wenn es ernst wird, werden sie nicht mal gefragt. Dann wird ab Montag die Schließung verhängt und Millionen Kinder verschwinden in einem Homeschooling ohne Vorbereitung und zumeist ohne technische Grundlagen.Über zehn Jahre hat Deutschland die Digitalisierung der Schulen vertrödelt, haben die Bundesländer die bereitgestellten Fördergelder nicht abgerufen. Und pünktlich mit Start des Homeschoolings brachen die Lernplattformen zusammen, verschwanden viele Kinder geradezu im technischen Nirvana, weil sie auch nicht die nötigen Endgeräte hatten, um zur Online-Schulstunde dabei zu sein.

Das alles ist nicht nur ein Versäumnis im Corona-Jahr, stellt Meidinger fest. Corona hat nur blitzschnell offengelegt, wie sehr das deutsche Bildungssystem heruntergespart wurde und nicht vorbereitet war auf diesen absehbaren Ernstfall. Und auch ohne Corona hätte Meidinger so ein Buch schreiben können – und vielleicht doch nicht geschrieben, weil der Lockdown nun auch ihn vorwiegend ins Homeoffice zwang. Und bei dieser Besinnung wurde ihm wohl noch klarer, dass es so nicht wirklich weitergehen kann. Und damit ist nicht das Schulsystem selbst gemeint.

Denn anders als viele Lamento-Berichte in einschlägigen Leitmedien suggerierten, hat Deutschland kein schlechtes Bildungssystem. In den wichtigsten Parametern kann es sehr wohl international mithalten, in manchen – wie den Förderschulen und dem dualen Bildungssystem – ist es sogar Vorbild, könnte anderen Ländern (auch diversen PISA-Test-Siegern) durchaus zeigen, wie man wichtige Bildungsthemen besser löst. Denn oft sind die Vorbilder, die einem die großen Zeitungen als nachahmenswert oder gar nachholenswert präsentieren, schlimmer als alles, was in deutschen Schulen so gern als „Missstand“ beschrieben wird.

Mancher Missstand ist gar keiner. Und oft hätte die deutsche Schulpolitik besser getan, wenn sie dem Getrommel nicht nachgerannt wäre und einfach dafür gesorgt hätte, die Schulen tatsächlich materiell, personell und finanziell so auszustatten, dass die Lehrer/-innen ohne permanente Überlastung und Burnout hätten arbeiten können. Denn dafür sind sie ausgebildet. Waren sie ausgebildet. Werden sie ausgebildet gewesen sein.

Denn zu den Todsünden der deutschen Politik gehört auch, dass sie dem Quengeln der neoliberalen Rabiat-Reformer nachgegeben hat und selbst das Lehrerstudium der wirtschaftlichen Radikal-Verwertung unterworfen hat, heißt: sinnloserweise dem von der Wirtschaftslobby vorangetriebenen Bologna-Prozess unterworfen, mit dem die Flachflieger aus den Chefetagen von Konzernen und Stiftungen meinten, den Anteil der „Akademiker“ in Deutschland mit einem Kraftakt erhöhen zu können und mehr junge Menschen schneller („effizienter“) zu einem Universitätsabschluss bringen zu können. Mit dem Ergebnis, dass immer mehr junge Leute schon im Bachelorstudiengang scheitern.

Und das betrifft eben nicht nur die Pädagogik.

Auch den Schulbetrieb selbst wollten die neoliberalen Reformer ja mit ihren vom Fließband stammenden Methoden „effizienter“ machen, die Kinder quasi mit ökonomischen Messmethoden binnen kurzer Zeit zu absoluten Champions in den Internationalen PISA-Tests machen. Der „Verberuflichung“ der Studieninhalte (Universitäten als Schnelllieferanten von akademischem Nachwuchs für die Wirtschaft) steht die Verberuflichung der Schulen zur Seite, die der Wirtschaft möglichst Outpout zu liefern haben, der sofort den Nützlichkeitsansprüchen der Verbandspräsidenten genügen.

Man staunt schon, dass die eigentlichen Unternehmer – jene, die wirklich noch überschaubare Unternehmen führen und ihre Angestellten, Arbeiter und Auszubildenden noch persönlich kennen – nicht schon längst rebelliert haben und ihre Verbandspräsidenten gefeuert haben wegen absoluter Praxis-Fremdheit. Denn genau dieser „aufs Berufsleben“ hin geformte Nachwuchs ist in der Praxis oft gar nicht ausbildbar, was kleine und mittlere Unternehmen Jahr für Jahr heftig beklagen.

Denn den jungen Leuten fehlen all jene Ausbildungsgrundlagen, die aus Sicht der Wirtschaftslobbys so völlig überflüssig sind. All das, was gute Lehrer ihren Schülern mit viel Geduld als Fähigkeit zum Problemlösen, als Kommunikationsfähigkeit und Lebenskompetenz beibringen. Sollten. Denn dafür haben sie keine Zeit mehr, weil die Schule mit lauter Anforderungen von draußen überfrachtet wird, die mit der Bildung selbstbewusster und kompetenter Persönlichkeiten so gar nichts zu tun haben. Schule wird – wie Meidinger zu Recht feststellt – zum Reparaturbetrieb der Nation gemacht und soll all das lösen, was ungebildete Verantwortungsträger draußen in der Gesellschaft an Schaden angerichtet haben.

Das kann nicht klappen.

Zum Einstieg in seine fundierte Streitschrift erklärt der bekennende Katholik Meidinger natürlich, was er unter Todsünden versteht und warum er den Begriff auf unsere Kultusbürokratie, der Bildungspolitik und die übergriffigen Lobbyinteressen anwendet. Denn er kennt die Folgen dieser Übergriffigkeit ja aus seiner eigenen Zeit als Lehrer und Direktor, weiß, was das für verheerende Folgen hat, wenn Lehrer/-innen fehlen, Lehrpläne alle Nase lang mit neuen Wünschen überfrachtet werden, Schulformen alle paar Jahre reformiert werden und niemals Ruhe einkehrt.

Und damit auch nicht die nötige Konzentration, die auch Pädagogen brauchen, um mit ihren Schülern wirklich gemeinsam wichtige Bildungsziele zu erreichen. „Und das hat auch damit zu tun, dass die meisten schulpolitischen Debatten und Auseinandersetzungen den eigentlichen Kern, das wesentliche Ziel von Schule verfehlen“, schreibt er. „Nämlich, wie wir es schaffen, dass am Ende der Schulzeit selbst- und verantwortungsbewusste mündige junge Menschen unsere Bildungsinstitutionen verlassen.“

Das Wort mündig ist eigentlich das Wichtigste in diesem Buch.

Denn all das, was Meidinger als Todsünden beschreibt, erzählt von einer Sicht auf Schule, die nicht nur die Kinder als unmündig betrachtet, sondern auch die Lehrer/-innen und Eltern. Genau das hat das Corona-Jahr 2020 ja in aller Deutlichkeit gezeigt.

Dazu gehört nun einmal Todsünde Nr. 1, die „Schule als Reparaturbetrieb der Gesellschaft“ zu betrachten, gehört auch Nr. 2 – die „Ideologisierung“ der Debatte, statt den Schulen vor Ort Möglichkeiten zu geben, Probleme selbst zu lösen, am besten im intensiven Gespräch von Lehrer/-innen, Eltern, Schüler/-innen und den Verantwortlichen in Kommune und Land. Aber genau das passiert nicht. Stattdessen wird immer wieder experimentiert und wird Schule zum politischen Kampfplatz gemacht.

Wobei man berücksichtigen muss, dass Meidinger vor allem süddeutsche Erfahrungen einbringt, die auch damit zu tun haben, dass Bildungspolitik eines der letzten Politikfelder ist, auf dem sich Landesregierungen noch profilieren können. Oft mit verhängnisvollen Ergebnissen, wenn man an das Experiment G8 in westdeutschen Schulen denkt oder den Brachialkurs zur Integration benachteiligter Schüler, die oft in einer gut ausgestatteten Förderschule besser betreut werden können.

Aber die schlimmste Todsünde ist wohl die Nr. 4, die „Schulen nach ökonomischen Kriterien umformen“ zu wollen, sie also regelrecht zum Durchlauferhitzer für die sofortige ökonomische Verwertbarkeit der Schulabgänger zu machen. Also das, was auch Meidinger die neoliberale Denkweise nennt, die mittlerweile weltweit nur lauter katastrophale Ergebnisse vorweisen kann.

Aber die Neoliberalen (und ihre Stiftungen und Initiativen) haben 2001 die Chance sofort ergriffen, als Deutschland im internationalen PISA-Vergleich erstmals schlecht abschnitt, ihre marktradikale Denkweise auch der deutschen Bildungsdiskussion aufzudrücken. Vergessen wird dabei immer wieder, dass auch die PISA-Tests vor allem Effizienz-Tests sind, die Kinder auf die Ökonomie ihres Lernerfolges hin testen.

Die Fähigkeiten, die ein junger Mensch dann als Kompetenz und Selbstvertrauen mitnimmt ins Leben, werden dabei überhaupt nicht erfasst. Davon erzählen ganz andere Zahlen – etwa die Jugendarbeitslosenquote. Warum glauben eigentlich die Bosse großer Wirtschaftsverbände, dass sie über Bildung mehr wissen als Pädagogen? Und warum lassen sich Kultusminister/-innen von diesen selbstgerechten Managern immer wieder beeindrucken? „Schulen sind aber keine Wirtschaftsbetriebe, Schüler und Eltern keine Kunden und Bildung ist kein Produkt, welches der volkswirtschaftlichen Rationalität des abnehmenden Grenznutzens gehorcht“, schreibt Meidinger.

Im Folgenden geht er dann auch noch auf die Misserfolge der deutschen Bildungsminister/-innen bei der fehlenden Vergleichbarkeit der Bildungsabschlüsse ein, auf Bestnoteninflation und damit die Entwertung wirklich guter Leistungen. Und unübersehbar ist das Totalversagen bei der Bereitstellung von Lehrerinnen und Lehrern. Nicht nur Sachsen, sondern ganz Deutschland ist sehenden Auges in einen flächendeckenden Lehrermangel hineingaloppiert. Schweinezyklus nennt es Meidinger, die deutschen Schweinebauern werden genau wissen, was er damit meint.

Aber am frappierendsten ist wirklich Todsünde Nr. 10: Die Unfähigkeit der Bildungspolitik, die ja tatsächlich existierenden Probleme mit denen gemeinsam anzugehen, die davon wirklich betroffen sind. Lieber lässt man sich von überbezahlten Stiftungsboten belatschern und erklärt dafür die rebellierenden Eltern, Schüler und Lehrer vor Ort für renitent. Womit Meidinger ein großes Problem unserer Demokratie benennt: Das anvertraute Personal behandelt man mit einer geradezu feudalen Attitüde der Bevormundung und springt stattdessen über jedes Stöckchen, das einige hochinteressierte Lobbyorganisationen hinhalten.

Denn Neoliberalismus ist ja kein Selbstzweck, sondern eine politische Strategie, immer mehr gesellschaftliche Bereiche nach und nach zu privatisieren und damit der Verwertung durch gigantische Konzerne zu unterwerfen.

Obwohl das schon mehrmals in die Hose ging. Meidinger nennt die Privatisierung von Post und Bahn als eklatante Beispiele. Weder wurden dadurch die Kosten gesenkt und schon gar nicht der Service verbessert.

Aber um das zu sehen, muss man wohl ein gutes Bildungssystem durchlaufen haben und nicht jede Meldung aus den Thinktanks und Lobbyverbänden der Marktradikalen für bare Münze nehmen. Den Kindern tut man damit nichts Gutes. Die lernen eher frühzeitig zu heucheln und im selben Ton zu pfeifen, statt das eigenständige Denken zu wagen, den aufrechten Gang. Zu dem nun einmal gehört, dass wir unsere Kinder nicht dafür ausbilden, dass sie in einem radikalen Verwertungssystem reibungslos funktionieren.

Das Wichtigste fasst Meidinger am Ende noch in 10 Ratschlägen zusammen, mit denen er seine vehement vorgetragene Kritik ins Positive wendet. Und eigentlich steckt alles schon in Ratschlag Nr. 1: „Der Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler ist das Hauptziel guter Schule. Schluss mit der Überlastung der Schule mit immer neuen Aufgaben, die sie gar nicht leisten kann und die sie an ihrer eigentlichen Kernaufgabe hindern.“

Aber das Buch ist leider Klartext. So etwas hören und lesen die Leute nicht gern, die in unserem Land glauben, besser zu wissen, was Bildung zu sein hat, als all diese „faulen Lehrer“, über deren Arbeitsbedingungen und Zeitbudgets nicht mal die verantwortlichen Kultusminister Bescheid wissen. Wie sollten sie auch, wenn sie ständig diese quengelnden Lobbyisten im Sprechzimmer sitzen haben.

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