Sachsens Parteien sind irgendwie schon im Wahlkampfmodus, auch wenn voraussichtlich erst am 1. September 2024 Landtagswahl ist. Das sorgt für manche verbale Zuspitzung. Aber auch zu Aussagen, wie sie Ministerpräsident Michael Kretschmer am Mittwochabend, dem 8. Oktober, in einem Bautzener Gymnasium machte, wo er sich den Fragen von Eltern, Lehrkräften und Jugendlichen gestellt hatte. Ein wichtiges Thema: der massiv zunehmende Unterrichtsausfall in Sachsens Schulen. Aber wer ist schuld?

Normalerweise tritt ein Ministerpräsident, der diese Entwicklung unter seiner Regierung zugelassen hat, sehr reumütig ans Mikrofon. Denn für die Absicherung des Unterrichts ist ganz allein die Landesregierung verantwortlich.

Doch statt auf die – selbstverschuldeten Probleme durch eine ganze Reihe völlig überforderter Kultusminister/-innen mit CDU-Parteibuch einzugehen, schob er die Schuld für den grassierenden Lehrermangel – wie die „Sächsische Zeitung“ berichtete – ausgerechnet auf die minderjährigen Geflüchteten, die seiner Meinung nach das System überlasten würden.

Ein Bildungssystem, das junge Menschen abschreckt

„Wenn Herr Kretschmer behauptet, der Lehrkräftemangel werde durch eine hohe Anzahl an geflüchteten Kindern ausgelöst, verkennt er vollkommen die Ausmaße des Problems“, kritisiert Editha Matthes, stellvertretende Juso-Landesvorsitzende, den Ministerpräsidenten für diese Falschaussage.

„Nicht erst seit 2015 oder dem russischen Angriffskrieg herrscht Not an den Schulen. Dieses Problem ist seit Jahrzehnten hausgemacht durch das CDU-geführte Kultusministerium.“

Der Lehrermangel in Sachsen ist hausgemacht, so Matthes. Und weiter: „Die Ursachen liegen in den hohen Abbruchquoten im Lehramtsstudium und Referendariat sowie an den unattraktiven Arbeitsbedingungen, die junge Menschen abschrecken, diesen Weg überhaupt erst einzuschlagen.“

Laut einer durch die GEW beauftragten Studie aus dem Jahr 2022 liegt die Arbeitszeit von Lehrkräften durchschnittlich bei knapp 50 Stunden pro Woche, an den Gymnasien sogar bei über 51 Stunden. Bei jungen Lehrkräften liegt sie sogar deutlich höher, da sie den Unterricht erstmalig vorbereiten und nicht auf ihre alten Entwürfe aufbauen können.

Viele Lehrkräfte sind gesundheitlich ohnehin schon an der Belastungsgrenze. Wird die Arbeitszeit nun weiter erhöht, wie es der Ministerpräsident fordert, droht das Schulsystem vollends zusammenzubrechen, befürchten die Jusos.

„Der Ministerpräsident ist offenbar mehr damit beschäftigt, Sündenböcke für die verfehlte CDU-Bildungspolitik zu suchen, als die Probleme wirklich anzugehen. Dass Michael Kretschmer nun Geflüchtete für den Lehrkräftemangel verantwortlich macht, ist geschmacklos und befeuert Fremdenfeindlichkeit in Sachsen unnötig weiter“, stellt der stellvertretende Juso-Landesvorsitzende Lukas Peger klar.

Die Jusos Sachsen fordern echte Lösungen: Eine grundlegende Reform des Lehramtsstudiums verbunden mit einer Ausfinanzierung, eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Schulen, sowie eine schnellere Zulassung von zugewanderten Lehrkräften für den sächsischen Schuldienst.

Kritik auch aus der SPD-Fraktion

Inakzeptabel findet die Behauptung des Ministerpräsidenten, Sachsen könne „die Qualität der Bildung nicht mehr garantieren, weil wir Schüler beschulen müssen, die von außen kommen“ auch die bildungspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag, Sabine Friedel.

„Ich bin entsetzt über eine solche Verdrehung der Tatsachen. Die Wahrheit ist doch: Wir können die Qualität der Bildung nicht mehr garantieren, weil das sächsische Bildungssystem jahrzehntelang unterfinanziert war. Weil heute in den Schulen die Lehrkräfte fehlen, die vor fünfzehn Jahren nicht eingestellt wurden. Weil kein Puffer eingeplant und das System drastisch auf Kante genäht ist.

Jede Erkältungswelle, jeder kleine Geburtenanstieg und natürlich auch die Aufnahme von geflüchteten Kindern und Jugendlichen führt dadurch zum Unterrichtsausfall“, geht Friedel auf die Ursachen des immer stärker spürbaren Lehrermangels ein.

„Doch es ist absolut beschämend, jetzt mit dem Finger auf die zu zeigen, die ‚von außen‘ kommen. Erst recht als politischer Verantwortungsträger. Und erst recht vor Schülerinnen und Schülern. Unsere gemeinsame politische Aufgabe ist es, Verantwortung zu übernehmen und Verbesserungen herbeizuführen und nicht Schuld abzuwälzen. Was ist man denn sonst für ein Vorbild für die Schülerinnen und Schüler, vor denen man spricht?“

Frau Sabine Friedel, SPD Sachsen. Foto: Götz Schleser
Sabine Friedel, SPD Sachsen. Foto: Götz Schleser

Auch vor dem Krieg in der Ukraine gab es in Sachsen Lehrermangel, auch ohne die unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten war der Unterrichtsausfall hoch.

Und die Dauer des Versagens ist benennbar. Nur um Wikipedia zu zitieren, das auch den Rücktritt des damaligen Kultusministers Roland Wöller (CDU) erwähnt: „Am 20. März 2012 trat er von seinem Amt als Kultusminister zurück, da er den bildungspolitischen Kurs der sächsischen Staatsregierung – Kürzungen im Etat würden zwangsläufig zu einem Abbau an Lehrerstellen führen – nicht mehr mittragen wolle.“

Das ist jetzt mehr als elf Jahre her und nichts ist besser geworden. Im Gegenteil: Das Ausmaß der Ausfälle wird immer größer.

„Es wird immer unerwartete, zusätzliche Ereignisse geben. Umso wichtiger ist es, dass in unserem Schulsystem mit Puffer geplant wird“, benennt Friedel eins der Denkprobleme in der sächsischen Finanzplanung.

„Dass es uns als SPD leider bis heute nicht gelungen ist, den vollständigen Ergänzungsbereich in die langfristige Stellenplanung zu bekommen, liegt an der starrsinnigen Weigerung der CDU, solche Puffer vorzubereiten. Hätte die sächsische Politik vor fünfzehn Jahren solche Puffer geschaffen und Lehrer/-innen eingestellt, dann könnten wir die Qualität der Bildung heute garantieren.“

Die Folge sächsischer Knauserpolitik

Aus ihrer Sicht sei es dringend nötig, dass der Ministerpräsident und seine Partei ihre „So-wenig-wie-möglich“-Mentalität aufgeben und anerkennen, dass Systeme Puffer brauchen, um leistungsfähig zu sein.

„Einen realistischen Blick zu erlangen ist aber natürlich nicht einfach, wenn wichtige Institutionen im Freistaat ihn nicht haben“, so Friedel. „Die Fehlannahmen des Rechnungshofes und des Finanzministeriums sind im Bildungsbereich schon legendär, aber nicht einzigartig: Im Jahr 2018 hat der Sächsische Rechnungshof beispielsweise eine Reduzierung der Erstaufnahmekapazitäten für Geflüchtete gefordert. Die Annahme von 15.000 Geflüchteten schien ihm zu hoch.

Doch die Realität sieht anders aus: 2022 hat Sachsen mehr als 18.000 Geflüchtete aufgenommen, 2023 wird die Zahl ähnlich aussehen. Der Rechnungshof empfahl, die Aufnahmeplätze auf 3.600 bis 5.600 zu senken, in der Realität sind heute mehr als 6.000 Plätze belegt, die Kapazitäten müssen ausgebaut werden.“

Die sächsische Landespolitik sei in der Verantwortung, solche Bedingungen zu schaffen, dass die Qualität der Bildung jederzeit garantiert werden kann.

„Deshalb haben wir als SPD uns für die Schaffung tausender neuer Lehrerstellen starkgemacht, haben Schulassistenz und Qualitätsbudgets eingeführt. Und deshalb werden wir weiter darauf drängen, dass im Schulsystem mit Reserve geplant wird“, betont Friedel.

„Damit sind wir bisher am Finanzministerium gescheitert. Es wäre für den Ministerpräsidenten mit seiner Richtlinienkompetenz ein Leichtes, den fiskalischen Widerstand gegen ein gut ausgestattetes Schulsystem zu brechen. Hierfür ist er verantwortlich, nicht die ‚Schüler von außen‘.“

Deutliche Kritik auch von den Grünen

Zu Kretschmers Aussage, Sachsen könne „die Qualität der Bildung nicht mehr garantieren, weil wir Schüler beschulen müssen, die von außen kommen“, wird auch Christin Melcher, bildungspolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Sächsischen Landtag, deutlich.

Frau Christin Melcher. Foto: LZ
Christin Melcher. Foto: LZ

„Es ist Unsinn, dass Geflüchtete die Qualität der Bildung im Freistaat gefährden. Solche Aussagen sind gerade in der aktuell ohnehin schon angespannten Situation Wasser auf die Mühlen derer, die ganz bewusst gegen schutzbedürftige Menschen hetzen“, stellt Melcher fest.

„Wir haben in der Koalition bereits große Schritte für bessere Bildung im Freistaat unternommen. Damit haben wir vor allem auf die politischen Versäumnisse aus den vergangenen Jahrzehnten unter CDU-Führung reagiert. Hinzu kommt, dass die Kommunen alles dafür tun, jungen Menschen Bildung zu ermöglichen. Dafür bin ich sehr dankbar und werde sie mit meiner Fraktion dabei auch weiterhin bestmöglich unterstützen.“

Bildung sei ein Grundrecht und der Schlüssel für Integration und erfolgreiche Teilhabe, betont Melcher: „Wir Bündnisgrüne werden alles dafür tun, dass alle jungen Menschen die Chance bekommen, ihr Potenzial auszuschöpfen. Das ist ein echter Beitrag für mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt. Ich erwarte von einem Ministerpräsidenten, sich hierfür ebenso einzusetzen, anstatt die Schuld auf andere abzuwälzen.”

Bringen Sie das Kultusministerium auf Trab!

In der Linksfraktion erinnerte sich man bei Kretschmers Aussage, dass „Kinder, die von außen kommen“ schuld seien, dass die Bildungsqualität in Sachsen nicht gewährleistet werden könne, an einen anderen Auspruch des Ministerpräsidenten, der kürzlich erst plädierte, dass unbegleitete Minderjährige statt zur Schule in eine Ausbildung gehen sollen.

Frau Luise Neuhaus-Wartenberg (Linke). Foto: DiG/trialon
Luise Neuhaus-Wartenberg (Linke). Foto: DiG/trialon

„Die Probleme im Bildungsbereich sind seit Jahren bekannt, die CDU hat viel zu spät angefangen, die voraussehbare Misere beim Personal, Unterrichtsausfall, der Digitalisierung, bei dem was und wie gelernt wird, bei der sozialen Ungleichheit an Schulen, bei Fächer- und Jahrgangsübergreifendem Lernen, bei unzureichenden Schulgebäuden und fehlender Voraussetzung für inklusive Bildung anzugehen“, kritisiert Luise Neuhaus-Wartenberg, bildungspolitische Sprecherin der Linksfraktion, die Bildungspolitik der CDU.

„Die aktuelle Situation hat nichts mit der Beschulung von geflüchteten Minderjährigen zu tun. Der MP verschiebt Verantwortung und befördert die ‚Sündenbocktheorie‘.“

Sie erinnert den wahlkämpfenden MP daran, dass auch Sachsen an die UN-Menschenrechtskonvention, an europäische Normen und das eigene Schulgesetz gebunden ist: „Geflüchtete Kinder gehören selbstverständlich in die Schule. Für uns als LINKE spielt die Herkunft keine Rolle. Dringend ist, gemeinsame solidarische Lösungen finden.“

Und dass Kretschmer nun ausgerechnet die Kinder an den Pranger stellt, findet Juliane Nagel, migrationspolitische Sprecherin der Linksfraktion, inakzeptabel: „Derzeit kommen viele Kinder und Jugendliche ohne ihre Eltern in Sachsen an. Die Hauptherkunftsländer, Syrien und Afghanistan, zeigen, dass die Not immens ist. Fachkräfte berichten von schlechter physischer und psychischer Konstitution der Ankommenden.

Sachsen muss die kindeswohlgerechte Aufnahme und Versorgung gewährleisten. Neben Inobhutnahme, Clearing und Unterbringung auch die Beschulung. Landesjugendamt und Kultusministerium müssen handeln: Die Kommunen beim Aufbau einer Betreuungsinfrastruktur zu unterstützen und Spracherwerb sowie Beschulung sicherzustellen. Warum nicht über Menschen aus der Praxis (IT-Bereich, Handwerk, Kunst und Kultur) Angebote für Unbegleitete an Schulen etablieren, statt wertvolle Zeit verstreichen zu lassen?“

Beide fordern von Kretschmer: „Stellen Sie die Stimmungsmache gegen Geflüchtete ein! Sie stärken mit Ihren Aussagen die, die auch vor Gewalt gegen Menschen nicht zurückschrecken.“

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