Der Buchtitel klingt wie der eines Mädchenromans von Anfang des 20. Jahrhunderts. Aber davon darf man sich nicht täuschen lassen. Er korrespondiert auch mit dem schon erschienenen Gedichtband von Katja Winkler „Die schönen Jahre“. Und er ist hintersinnig. Im doppelten Sinn. Denn ein Großteil dieser Geschichten handelt in einem unverwechselbaren Land, das längst Geschichte ist. So, wie auch das eigene Leben irgendwann Geschichte ist.

Und dann irgendwann zieht man Bilanz und merkt: Es ging zum Teil sehr seltsam zu. Und man hat es vergessen, so wie man fast alles vergisst, was einem in einem Leben so zustößt. Oder es sackt ganz nach unten, überlagert von späteren Umdeutungen, fremder Leute Erinnerungen, einer medialen Erinnerungskultur, die das Vergangene in eine Art Partytorte verwandelt. Als wäre es wirklich eine schöne, leichte, locker-fluffige Jugend gewesen.Die älteste Geschichte in diesem Band stammt von 1986. Und auch wenn die jüngeren bis ins Jahr 2019 reichen, ist der Großteil der Geschichten wie eine Expedition in eine Zeit, in der die Menschen oft genauso kaputt waren wie die Wohnungen, in denen sie lebten. Leben mussten, weil es anderes nicht gab und jede, die irgendwie startete in ein irgendwie selbstbestimmtes Leben, geradezu den Kampf mit dem Chaos aufnehmen musste.

Was nicht bedeutet, dass sich Jugendgeschichten aus der späten DDR ähneln müssen. Im Gegenteil: Sie sind kontroverser, als sich mancher das vorstellen mag, wenn im Fernsehen wieder die bunte Welt von Pittiplatsch, Alfons Zitterbacke und FDJ gezeigt wird, manchmal mit dem Raunen der Moderation unterlegt, man hätte es ja trotzdem mit einer ganz schlimmen Diktatur zu tun.

Aber das eine ist so plakativ und verlogen wie das andere.

Und in Katja Winklers Geschichten geht es natürlich um nichts davon. Auch nicht in der Geschichte, die selbst „Die schöne Jugendzeit“ heißt und die im Grunde das Thema bündelt, um das all die anderen kurzen Geschichten auch kreisen: Die Suche nach Liebe, Vertrauen, Akzeptanz – die in diesem Fall gründlich missbraucht wird. Eigentlich mehrfach missbraucht wird, denn die Heldin der Geschichte ist dringend darauf angewiesen, sich als Aktmodell das Geld zum Leben und Überleben zu verdienen, jene kleine Freiheit zu gewinnen, die im überwachten Ländchen immer gleich die Staatsorgane auf den Plan rief.

Aber die auch Freiräume ermöglichte, die man mit einem Studium und einem staatlich reglementierten Arbeitsverhältnis nicht hatte. Katja Winkler erzählt von dieser Welt der Künstler, die Lebenskünstler sein mussten, auch wenn sie in Bruchbuden notdürftig Unterschlupf fanden und sich mit sporadischen Aufträgen mühsam über Wasser hielten. Was durchaus möglich war.

Denn die DDR war ein billiges Land und in allen großen Städten gab es diese Szene der Abtrünnigen, die nicht immer auch Aufmüpfige waren, die einfach nur den Mut fanden, ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen, um nicht alles zu verraten, was in ihnen lebendig war.

Doch das war alles andere als Bohème. Und es war auch keine verschworene Gemeinschaft. Auch nicht die warme Kuschelgemeinschaft, die so gern im Rückblick auf die DDR beschworen wird. Was schon deshalb nicht möglich war, weil das Land auch an Sprachlosigkeit litt. Sprachlosigkeit, die sich bis in die persönlichsten Beziehungen fortpflanzte und selbst die Liebesbeziehungen prägte.

Und so dominiert das Scheitern in den Beziehungen, die Katja Winkler erzählt, von innen heraus erzählt, so, wie sie einem passieren in der schönen Jugendzeit, wo man immer hofft, dass die Schmetterlinge im Bauch auch der oder dem Richtigen gelten, dass sich endlich die Tür auftut zu diesem phantastischen Lebendigsein, das einem immer versprochen wurde, wenn erst die große Liebe kommt.

Aber meistens endet die große Liebe in Zerwürfnis und Schweigen, geht man auseinander oder wird auch einfach verlassen, steht doch wieder allein da mit all den Sorgen um Wohnung, Arbeit, Kinder. Oder den Albträumen, die sich auch nicht wirklich in Fotos bannen lassen. Die manchmal uralt sind wie die Vorgeschichten der beiden Mädchen, die ihre alten Kämpfe um die unerreichbare Gunst der Eltern immer wieder aufleben lassen, obwohl die Eltern längst tot sind und das geerbte Haus voller seltsamer Erscheinungen.

Auch das war die DDR: Ein Land, das sich seinen eigenen Traumata nie stellte, sondern sie unter den Teppich kehrte, nicht wissen wollte, mit welchen Verletzungen die Eltern und Großeltern in dieses Land gekommen waren.

Und so ging sie natürlich hin, die schöne Jugendzeit. Vielleicht ist es heute nicht anders, auch wenn es dieses bizarre Schweigen nicht mehr gibt, diese wortlose Hilflosigkeit, in die die jungen Menschen gerieten, wenn sie die Liebe für ihr Leben suchten. Viel mehr auf sich allein gestellt, als man sich das heute vorstellen kann. Denn die Sprachlosigkeit begann schon zwischen Eltern und Kindern.

Es ist schon erstaunlich, dass sich Forscher damit überhaupt noch nicht beschäftigt haben, Schriftsteller/-innen schon. Und Katja Winkler zeichnet ein sehr dichtes Bild dieser letzten Jahre in einem „stillen Land“, wie ein Bildband von Roger Melis betitelt ist, der dieses eigentlich auch stumme Land ja in Schwarz-Weiß festgehalten hat.

Und es stimmt schon: Es war ein bedrückend stilles Land, auch ein sehr verschlossenes, in dem man mit seinen Sorgen auch sehr einsam sein konnte. Erst recht, wenn man wie die jungen Frauen in Winklers Geschichten eigentlich auf der Suche war. Aber was sie wirklich suchen, wissen sie oft nicht, laufen oft ratlos und ziellos durch die Nacht, lassen sich mit wildfremden Menschen ein, um doch nur wieder die Erfahrung zu machen, dass sie missbraucht werden.

Da geht die schöne Jugendzeit dann tatsächlich hin, gehen eben noch als erträumt gedachte Partnerschaften in die Brüche, beginnen die kleinen Fluchten, die aber niemals helfen, diesem Schweigen zu entkommen. Das auch nicht wirklich verschwindet, als sich die Zeiten wandeln. Da werden sich wohl viele wiedererkennen, wenn sie sich wirklich wieder erinnern an das, was ihnen geschah – und nicht geschah.

Wie das Leben zerbröselte und auf einmal die Krisen der Mitte des Lebens begannen, die Krankheiten, die Erkenntnis, dass Gesundheit und Schönheit verschwinden. Da wird die Erinnerung dann ziemlich bitter. Auch wenn man weiter damit zu tun hat, sich zu behaupten, den Kopf obenzuhalten, nicht unterzugehen.

Aber wer einmal so begonnen hat, ein Leben derart atmosphärisch dicht zu beschreiben, der hört damit nicht einfach auf, wenn die Mauern fallen. Das ist dann zwar kein Bonus für ostdeutsche Autor/-innen. Denn damit passen sie ja nicht in einen Literaturbetrieb, der von Oberflächlichkeit und Narzissmus geradezu trunken ist. Wen interessiert da schon das Fragen nach den Verlusten, die Suche nach Wahrhaftigkeit, nach dem erfüllten Leben? Die steckt hinter all diesen Geschichten.

Denn wenn man nichts hat, mit dem man blenden kann, hat man doch die Ansprüche an ein ernsthaft und ganz gelebtes Leben. Die Hoffnung, dass eine Beziehung vielleicht doch tragen könnte. Und wenn auch nur auf Distanz, so, dass man wieder flüchten kann, wenn es mal wieder zu heftig wird – oder zu still.

So gesehen sind diese kleinen Geschichten auch ein kleines Psychogramm der späten DDR und ihrer Bewohner, die auch deshalb so leicht auf die Palme gehen, weil sie in sich selbst nicht wirklich behaust sind. Damals nicht sein durften und später nicht sein konnten. Die Fassaden sind alle wieder schon angemalt, auch in Leipzig, wohin es die Heldin am Ende verschlägt.

Aber in den Köpfen und Herzen brodelt das Unerfüllte, das Unabgegoltene. Und dabei hätte die Heldin doch mit den anderen nur zusammen in die Czardas-Bar gehen können. Aber niemand hat sie aufgefordert. So bleibt sie zurück, fühlt sich ausgestoßen, die Prüfung nicht bestanden, nicht dazugehörig. Rede keiner von wärmender Gemeinschaft. Es gab sie so nicht. Wer dazugehören wollte, musste sich den Regeln anpassen.

Und wer das nicht konnte oder dieses ganz typische demolierte Ego hatte, das übrig bleibt, wenn man nicht ins Kollektiv passt, der erlebte selbst die Außenseitergruppen wie eine Ausgestoßene: nicht dazugehörig, letztlich heimatlos, „sie gehört nicht dazu, zu dieser Gruppe, sie muss nach Hause, in ihren Raum, in einen, der nur ihr gehört – aber wo ist das?“

Womit man wohl der Seele dieser Stillen im Osten ein Stück weit näherkommt, die Unsicherheiten darin entdeckt und die eigentlich nie beendete Suche nach Verlässlichkeit. Aber wie will man die finden, wenn die eigene Geschichte unausgesprochen bleibt und stattdessen nur die Erkenntnis immer mehr in den Vordergrund rückt, dass die schöne Jugendzeit augenscheinlich schon sehr lange her ist, man älter geworden ist und trotzdem noch genauso verzweifelt nach Liebe, Schönheit und Nähe sucht.

Nun etwas forscher, nachdrücklicher, sarkastischer. Denn jetzt sind die Fehler und Macken der anderen ja offen daliegend. Man schaut nicht mehr so hoffnungsvoll und voller Illusionen. Man hat das irgendwie geschafft, das eigene Leben in den Griff zu bekommen. Doch irgendwie sind da eine Menge Träume auf der Strecke geblieben. In manche Landschaften will man auch nicht mehr zurückkehren, weil sie durch das Erlebte verbrannt sind und die Verletzungen wieder aufbrechen.

Obwohl es ein richtiges Leben ohne Verletzungen wohl nicht gibt. So viele Anfänge, so viele Liebesversuche. Ja, am Ende ist dieses Land an seinem Verstummtsein zugrunde gegangen. Das gehört einfach dazu. 1989 war auch ein stiller Ruf nach Liebe. Aber der galt schon längst nicht mehr den alten Narren in Berlin. Der galt eher der Nacht und den Nebenstehenden. Die dann ja bekanntlich in alle vier Richtungen auseinanderliefen.

Bleibt da so etwas wie Zuversicht? Erstaunlicherweise ja. Manchmal sind es so kleine Gesten, über die man nie und nimmer sprechen würde, die aber alles sagen übers Alleinsein und das Berührtwerden: „Als sie nebeneinander lagen, nahm er sie in den Arm. Endlich, dachte sie und hielt ganz still.“

Auch deshalb wird im Osten heutzutage so sehr geknuddelt und in den Arm genommen und das Abstandhalten so verdammt. Die meisten spüren zumindest, wie nötig das ist nach dieser letztlich sehr gefühllosen Vergangenheit.

Katja Winkler Die schöne Jugendzeit, Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2021, 19,95 Euro.

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