Die DDR war ein stilles Land. Ein Land hinter den Bergen. Von der Welt nicht vergessen, aber irgendwie stecken geblieben zwischen den Jahrhunderten, schwarz-weiß bis zum letzten Tag. Und wenn die Fotografen dieses verblichenen Landes heute ihre Archive öffnen, ist jedes Bild wie ein Erwachen. Nur sieht das eben niemand, wenn keiner die Fotos aus den Archiven holt. Wie es der Leipziger Verleger Mark Lehmstedt tut mit seiner un-gemütlichen Buchreihe “Bilder und Zeiten”.

Zwei Bände sind darin schon im letzten Jahr erschienen: Renate und Roger Rössings “Menschen in der Stadt” und Thomas Steinerts “Connewitzer Welttheater”. Zwei Mal Leipzig pur. In aller Nacktheit und Tristesse. Zwei Fotobände, die keine Dementis erlauben: Das Ländle ist tatsächlich an sich selbst kaputt gegangen, hat sich über 40 Jahre Stück für Stück, Bildpunkt für Bildpunkt einfach aufgelöst. Leipzig war dafür ein gutes Bildmotiv, hat den Verfall so klar gezeigt wie nur eine typische Stadt in dieser DDR, in der die Ochsen und Esel regierten und am Ende alles aufhielten.

Nur diese seltsam scharf gestellten Bürger nicht, die im Herbst 1989 über Ringe und Plätze zogen. Hätten sie schon früher ziehen können?

Trügerische Stille

Zuweilen hat man das Gefühl: Vielleicht. Nur die Stille trog die ganze Zeit. Diese Stille, die heute nicht mehr vorstellbar ist: Straßen, auf denen weit und breit kein Auto fährt, Straßen, auf denen Kinder in abgetragenen Klamotten spielen, Hinterhöfe, in denen Hausgemeinschaften ihre Nachmittage verfeierten, Abbruchhäuser, in denen Künstler wilde Ausstellungen veranstalten. Und dann diese Werktage in großen und kleinen Städten, an denen die Straßen leer gefegt waren, weil Mann und Maus “auf der Arbeit” waren. Oder in der Schule.

Nicht mehr vorstellbar. Aber aufbewahrt auch in den Bildern des Berliner Fotografen Roger Melis, 1940 geboren, der sich nach eigener Aussage für den Fotografenberuf “vor allem aus Fernweh” entschloss. Was in der DDR natürlich der falsche Beweggrund war, Fotograf zu werden. Er wurde also auch keiner von den Vielgedruckten, die die Zeitungen des Landes beschickten. Er suchte die Seitenwege. Fand sie in der “Sibylle”, der “NBI”, der “Wochenpost”, dem, was an DDR-Kiosken als Bückware gehandelt wurde. Druckprodukte auf sagenhaft schlechtem Papier mit noch immer verblüffender Qualität im Inhalt. Abgewickelt im großen Ausverkauf nach 1990.

Ãœberlebt haben die Fotografien, die Melis angefertigt hat ab 1962 für Printprodukte in Ost und West. Nicht ohne Konfrontation. Als Melis 1981 für das Hamburger “Geo”-Magazin Fotos zu einem Beitrag von Erich Loest anfertigte, erntete der 41jährige eine Auftragssperre für die DDR-Presse. Eine Presse, in der auch unter mutigsten Redakteuren nie alles erschien, was Melis mitbrachte von seinen Touren durch ostdeutsche Städte, Dörfer und Fabriken. Die meisten Bilder waren von vornherein für die Schublade.

Die Strukturen der Wirklichkeit

Das Meiste von dem, was Melis für den Band “In einem stillen Land” ausgewählt hat, war so vorher nirgends zu sehen. Auch wenn es sofort vertraut wirkt, albtraumhaft bekannt. Es gab dieses stille Land tatsächlich, dieses Hinter-Land, in dem Stille nicht beklemmend wirkte, weil sie kein Einbruch in eine laute, stets lärmende Gegenwart war. Schnee knirschte noch und Kinder tummelten sich in den Straßen, in denen ein geparktes Motorrad eine Attraktion war.

Melis hat noch den Blick jener Fotografen-Generationen, die die Strukturen einfingen von gepflasterten Straßen, rissigen Hausfassaden, verlotterten Höfen und Werkstätten, in denen nichts neu ist, aber alles wohl behütet. Alles war kostbar, weil unersetzlich. Man sieht den Arbeitern in Melis’ Fotos den Stolz an, diese Ärmlichkeit meistern zu können, die Maschine trotzdem am Laufen zu halten. Zauberkünstler, Hand-Werker in billigen, nie gebügelten Jacken.

Man ahnt: Diese Atmosphäre wird kein Regisseur je wieder nachschaffen können. So gute Kulissenbauer gibt es nicht. Dieses Land ist so gründlich verschwunden, dass es nur noch in solchen Fotos lebt. Dafür aber: bis in alle Ewigkeit. Lehmstedt hat seine Buchreihe weder auf Leipzig noch auf die DDR beschränkt. Sie soll die künstlerische Fotografie “in allen Spielarten und Formen, die sich mit der sozialen Wirklichkeit auseinandersetzen” umfassen. Ein nächster Melis-Band ist schon in Planung, soll 2008 erscheinen mit Porträts aus dem Schaffen von Roger Melis. Genug Zeit, den jetzigen Band “In einem stillen Land” immer wieder durchzublättern mit gemischten Gefühlen.

Roger Melis “In einem stillen Land. Fotografien 1965 – 1989”, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2007, 19,90 Euro

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