Roger Melis gehörte zu den eindrucksvollsten Fotografen der DDR. Der Lehmstedt Verlag hat mittlerweile einige Bände mit seinen Fotografien veröffentlicht. Dieser hier ist trotzdem etwas Besonderes, denn er zeigt mehr als nur das sehr persönliche Verhältnis eines außergewöhnlichen Fotografen zu seiner geliebten und bewunderten Frau. Roger Melis hat in Dorothea Melis im Grunde das fotografiert, was der Osten hätte sein können. Hätte er nur mutig sein dürfen.

Sie sehen schon: Sprache ist verräterisch. Sie verrät uns. Jedenfalls, wenn wir die Worte ernst nehmen und nicht den Schaumschlängern auf den Leim gehen. Das Wort Schaumschläger muss man nicht gendern. Das ist eine ganz und gar männliche Tugend. Und irgendwann werden sich auch wirklich wütende Frauen hinsetzen – Töchter und Enkelinnen jener Frauen, die 1990 erlebten, wie die Friedliche Revolution von Männern wieder zu einem Eintopf aus deutschen Linsen und Kartoffeln gemacht wurde und der Prozess der im Osten so mühsam erkämpften Emanzipation einfach abgewürgt wurde.Nicht nur beim Schwangerschaftsabbruch. Sondern auch bei Chancengleichheit, Bezahlung, Familienpolitik. Abgewertet und beiseite geschoben. Womit dann der Deutschen Einheit einer der wichtigsten Aspekte fehlte: die Geschlechtergerechtigkeit. Wobei das ein viel zu sperriges Wort ist für das, was da verloren ging.

Selbstbewusstsein und Selbstermächtigung kämen dem vielleicht näher. Vielleicht auch Verweigerung der Rollenzuschreibung. Es ist ja nicht so, dass die DDR nicht auch ein patriarchalisches und vormundschaftliches Land gewesen wäre, gegen das kluge Frauen (und Männer) nicht schon seit Jahren rebellierten. Wie sehr Leipzig einer dieser Brennpunkte war, darüber berichtet ja das von Jessica Bock herausgegebene Buch „Frauenbewegung in Ostdeutschland“.

Selbstbewusste Frauen prägten spätestens seit den 1970er Jahren den Emanzipationsprozess der Ostdeutschen, der 1990 noch lange nicht beendet war. Und es waren Frauen wie Dorothea Melis, die dieses Bild und diese Selbstbewusstwerdung prägten. Sie war Redakteurin und Leiterin des Moderessorts bei der Modezeitschrift „Sibylle“, später Leiterin Öffentlichkeit für den Handelsbetrieb „Exquisit“.

Das Frauenbild der Friedlichen Revolution

Und Roger Melis hat sie seit ihrem Kennenlernen 1967 immer wieder abgelichtet, so, wie es die allerwenigsten Männer mit ihren Geliebten und Frauen machen. Nicht als Inszenierung oder nettes Familienbildchen. Sondern achtsam, aufmerksam, bewundernd. Im Grunde erzählt jedes Foto davon, wie sehr sich Roger Melis das Staunen darüber bewahrt hat, mit so einer Frau sein Leben teilen zu dürfen. Denn so etwas ist ein Geschenk.

Das wissen die meisten Männer gar nicht. Sie tun nur zu gern so, als wäre es das Normalste in der Welt, dass da eine Frau in ihrem breiten Windschatten mitläuft und sich um Haus und Kinder kümmert und ihnen „den Rücken frei hält“. Klingt stereotyp. Ist es leider auch. Genau diese Haltung hat 1990 wieder den ganzen Raum besetzt, die leitenden Funktionen sowieso, von den politischen Bänken ganz zu schweigen.

Und wer 1989 dabei war und vorher schon miterlebt hatte, wie Malerinnen, Schriftstellerinnen, Schauspielerinnen, Sängerinnen, Designerinnen und Models das Frauenbild im Osten veränderten, modern, selbstbewusst und herausfordernd machten, die erlebten 1990 einen Rückfall in Frauen- und Männerbilder aus Zeiten, die längst vergangen schienen. Es war wie eine riesige Ohrfeige. Und es gehört zur Tragik des Ostens, dass wir uns das einfach haben gefallen lassen. Und geduldet haben, dass mit unseren selbstbewussten Frauen so schäbig umgegangen wurde.

Zur Tragik gehört natürlich, dass dieses verklemmte Patriarchentum auch im Osten ja nicht überwunden war und mit der „Allianz für Deutschland” dickbäuchig und unrasiert wieder Raum und Platz nahm. Und damit die künftigen Jahrzehnte weiter und wieder Politik machte, eine Politik, in der Frauen und Kinder und Chancengleichheit immer nur schöne Vokabeln waren, aber nie ehrlicher Teil politischer Entscheidungen.

Da kommt so einiges hoch, wenn man durch diesen Bildband blättert, in dem zum ersten Mal all die Fotos von Dorothea Melis gesammelt sind, die Roger Melis zwar wie für eine Ausstellung auch großformatig abgezogen – aber nie ausgestellt hatte. Auch wenn er, wie Herausgeber Mathias Bertram betont, Bilder solch selbstbewusster Frauen in ganzen Zyklen anfertigte und viele dieser Bilder auch ausstellte und in Bildbänden veröffentlichte.

Ihm war sehr wohl bewusst, dass er mit seinen Aufnahmen auch immer ein Frauenbild zeigte, das über die Vorstellungen der herrschenden Politik hinausging, eben genau jene DDR zeigte, in der die Menschen wirklich selbstbewusst ihren Respekt, ihre Gleichberechtigung, ihr Akzeptiertwerden einforderten. All das, was die Verwalter im Politbüro nicht dulden wollten und konnten, die nichts anderes verlangten als Einordnung, Unterordnung und Linientreue. Also letztlich graues Duckmäusertum.

Die lächerlichen Rollenspiele der Männer

Was davon abwich, war Dissidenz, wurde misstrauisch beobachtet, reglementiert und „zersetzt“. Und wie man dieser so ernst in die Kamera schauenden Thea selbst in die Augen blickt, ist das beim Umblättern immer wieder wie ein Déjà-vu. Ja: solchen Frauen ist man immer wieder begegnet. Frauen, nicht nur in DEFA-Filmen, die von Millionen gesehen und diskutiert wurden.

Nicht nur in den Romanen einer Brigitte Reimann oder Christa Wolf. So haben einen auch Lehrerinnen und Kindergärtnerinnen, Ärztinnen und Forscherinnen anschauen können. Es ist der ruhige Blick der Frauen aus „Guten Morgen, du Schöne“, die auch von Männern etwas anderes erwarteten als diese lächerlichen Rollenspiele, dieses Gehabe als „Ernährer“ und Wichtigtuer.

Eigentlich waren wir gerade dabei, all diese alten spießigen Rollenbilder abzulegen. Und uns einander zuzuwenden. Denn – das betont auch Mathias Bertram – natürlich ist in jedem Foto auch Roger Melis anwesend, auch wenn er nicht darauf zu sehen ist. Denn es ist sein Blick, mit dem er auf die Frau schaut, die mit ihm sein Leben teilt, die ihn tatsächlich meint und ernst nimmt und auch liebt, diesen „Wahnsinnstypen“.

Auch wenn man das nie wirklich glauben kann als Mann, weil man nie dazu erzogen wurde, Liebe annehmen zu können. Das ist nämlich das Gegenteil von Nehmen und Machtausüben und Macho sein. Machos lieben nicht. Machos benutzen nur. Und ahnen nicht mal, was sie nie kennenlernen.

Und was Roger Melis gefunden hat in Dorothea. Und was kostbar ist, weil es so selten ist: Dass zwei sich anschauen können ohne rosarote Brille und voneinander fasziniert sein können, verwirrt und ergriffen. Zutiefst ertappt und ernst genommen. Was das Staunen natürlich nicht ausschließt, das auch in einigen dieser Bilder steckt: Der also ist es. Oder: Die ist es also. Genau die. Und auf einmal ist all das andere unwichtig, dieses ganze Gehabe um Heimat, Status, Auto und Ruhm, alles völlig nichtig, unwichtiger Firlefanz.

Weil man einen Menschen gefunden hat, der einem schon beim In-die-Augen-Schauen sagt, dass er (oder sie) sich zutiefst angenommen fühlt. Mit ganzer Seele, aus vollem Herzen. So verrückt, fehlerhaft und unpassend man ist oder sich fühlt. Was egal ist. Weil es hier einen Menschen gibt, der einen genau so bei sich haben möchte, wie man ist.

Die Intimität des Sich-in-die Augen-Sehens

Das steckt in diesen Bildern, mit denen Roger Melis seine Thea ein halbes Leben lang begleitet hat. Und in denen sie natürlich sehen konnte, wie er sie sah. Was man ja – so als Mann – erst recht ungern zeigt. Denn da wird man erst richtig ertappt, wenn man zeigt, wie man die Geliebte sieht. Welchen Blick man auf sie hat. Und wer ehrlich ist, weiß, dass es all die schönen Urlaubs- und Familienbilder nicht zeigen. Diese Intimität stellen sie gar nicht her. Diesen Moment, den so viele richtig vermissen.

Und der manchmal im Streit herausschreit: „Was denkst du denn eigentlich über mich!?“ Da dürfen sich jetzt auch Männer errötend ins Taschentuch verkriechen. Stimmt aber. Und es sind nicht nur die Frauen, die genau das wissen wollen. Was man aber nie richtig sagen kann, weil Mann es meistens nicht gelernt hat und es meist auch viel zu viel mehr ist, als man sagen kann. Das steckt nämlich auch in diesen Bildern: das Unsagbare, das einen fesselt an der anderen. Das einen fühlen lässt, dass man jetzt wirklich einander in die Augen schaut.

Auch darin steckt ein anderes Menschenbild, als es die grauen Verwalter der untergegangenen Utopie eigentlich wahrhaben wollten. Wahrscheinlich genau deshalb: Weil es so intensiv war und nach dem fragte, was unter der Hülle und der Maske steckt. Nach dem richtigen Menschen, der da sitzt.

Und von den Provinzhelden, die seitdem das Bild und die Politik prägen, brauchen wir gar nicht zu reden. Die haben damit erst recht nichts zu tun. Nur: Wo ist das alles abgeblieben? Es ist doch nicht gestorben mit den damals Jungen, die uns zeigten, wie sehr richtig ernsthaftes Menschsein miteinander möglich war? Und wie jung sie waren, sieht man ja hier, auch wenn Roger Melis, dessen legendären Bildband „Paris zu Fuß“ den der Lehmstedt Verlag erst 2020 neu aufgelegt hat, schon 2009 gestorben ist. Und Dorothea 2015. Aber das heißt ja nicht, dass damit alles aufhört und die Sache abgegolten ist.

Wie lange dauert es diesmal?

Wahrscheinlich wird es wieder sehr lange dauern, bis uns diese ernsthaften klugen Frauen wieder so anschauen aus Zeitschriften und Magazinen, von Buchcovern und aus anderen Medien, wo Frauen ja meist nur als hübsches Beiwerk gebucht werden, um die Genialität überkandidelter Männer zu umrahmen. Man findet andere toughe Frauen. Das stimmt. Aber zwischen tough und selbstverständlich klafft eine riesige Lücke. Die man nur überwindet, wenn beide Seiten sich bewegen. Wenn zwei aufeinander zugehen und sich zeigen können, dass sie sich wirklich sehen und wirklich ernst nehmen.

Dass Frauen zumeist das Gefühl haben, nicht ernst genommen zu werden und schon gar nicht gesehen, das verstehe ich nur zu gut. Es wird lange dauern, bis wir wieder mal da sind, wo wir mal waren. Auch das gehört zu den Fehlern der Deutschen Einheit, die über eine Einheit der Alphamännchen mit ihren Troglodyten-Vorstellungen von Partnerschaft nie hinausgekommen sind. So wurde ja dann auch die deutsch-deutsche Partnerschaft zusammengeschustert: alphamännchenhaft und entsprechend fahrlässig, provisorisch und selbstherrlich.

Andererseits würde es mich auch nicht wundern, wenn jetzt gerade junge Männer beginnen, ihre Wegbegleiterinnen anders anzuschauen. Und anders zu fotografieren. Fasziniert davon, was für ein Mensch da an ihrer Seite ist. Denn natürlich sind diese Frauen nicht wirklich verschwunden und die Töchter und Enkelinnen nicht die Spur weniger anspruchsvoll als die Frauen aus Dorotheas Generation. Man muss sich nur trauen, es auch sehen zu wollen. Und wer dann nicht erschüttert und fasziniert ist, hat wohl seine Thea noch nicht wirklich gefunden.

Buchpremiere für „Thea“ ist am Montag, 11. Oktober, um 20 Uhr im Pfefferberg Theater in der Schönhauser Allee 176 in Berlin.

Roger Melis; Mathias Bertram Thea, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2021, 24 Euro.

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