Die Leipziger Schule der Malerei ist berühmt. Weltberühmt. Die Neue Leipziger Schule auch. Dass Leipzig aber auch eine eigene fotografische Schule hervorgebracht hat, ist in der Kunstwelt eher wenig bekannt. Es sei denn, man fragt die Fotografen und all jene, die sich schon einmal mit der eindrucksvollen Dokumentarfotografie aus der DDR beschäftigt hat. Dann kommt man an der Leipziger Fotografin Evelyn Richter nicht mehr vorbei.

Und auch nicht an ihren Freundinnen und Fotografenkollegen, die das Leben in der DDR so fotografierten, wie es in den offiziellen Medien des Landes nicht zu sehen sein sollte. Evelyn Richter, die ab 1953 Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig (HGB) bei Johannes Widmann studierte, erlebte sehr früh, wie wenig schon genügte, den Zorn der Mächtigen auf sich zu ziehen. Wikipedia fasst es in dem schönen Satz zusammen: „1955 wurde sie exmatrikuliert, den Hochschulfunktionären waren ihre Kommilitonen-Porträts zu defätistisch.“

Das darf man sich ruhig auf der Zunge zergehen lassen und den Ursprung des Wortes Defätismus einfach mitdenken. Auch dazu Wikipedia: „Der Ausdruck entstand während des Ersten Weltkrieges in Frankreich und bezeichnete den Vorwurf des systematischen Nährens von Mutlosigkeit, Resignation und Zweifel am militärischen Sieg in den eigenen Reihen.“

Faszination des Alltags

Genau so aber sahen sich die „führenden Genossen“ von Anfang an (1945) bis zum Ende (1989): Als Krieger in einer Schlacht, in der das Fußvolk bitteschön optimistisch und kämpferisch sein sollte. Wer das reale Leben mit seinen Härten und Schwierigkeiten zeichnete, bekam es mit der großen Observanz zu tun.

Wobei die oft geradezu närrischen Verdikte aus den 1950er Jahren so auch nicht die ganze DDR-Zeit überlebten. Im Gegenteil: Ab 1980 lehrte Evelyn Richter selbst Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst, aus der man sie geschmissen hatte. Und begründete damit erst recht eine junge Fotografenschule, die gelernt hat, die Faszination des alltäglichen Lebens und der lebendigen Menschen zu sehen und in Bildern einzufangen.

Und das erstaunlicherweise sogar in einer auffallenden Synchronizität zu den Entwicklungen in der westeuropäischen Fotografie, wie Dr. Stefan Weppelmann, Direktor des Museums der bildenden Künste, am Freitag, dem 18. November, feststellte.

Da ging es nicht nur um die Verkündung eines neuen, wichtigen Zuwachses für die Sammlung des Museums. Denn die Ostdeutsche Sparkassenstiftung und die Stadt- und Kreissparkasse Leipzig haben nun auch den Ankauf eines Konvolutes von 300 Fotografien samt Negativen aus den Bildarchiven von Karin Plessing und Lutz Dammbeck ermöglicht.

Während Dammbeck eher als Grafiker und Filmemacher bekannt ist, hat seine Frau Karin Plessing nicht nur sein Werk fotografisch begleitet, sondern auch selbst Beiträge zur dokumentarischen Fotografie geliefert – so wie die 1982 / 1983 entstandene Serie „Leipzig / Plagwitz“. Aber sie hat ebenso den berühmten „1. Leipziger Herbstsalon“ 1984 fotografisch begleitet, an dem sich auch ihr Mann beteiligt hatte.

2023: Eine große Ausstellung für Evelyn Richter

Mit diesem Erwerb jetzt auch des Nachlasses von Evelyn Richter wächst der Fotobestand im MdbK, das sich so nach und nach zu einem Sammelort für die ostdeutsche Fotografie entwickeln dürfte, auch wenn es kein Gegenpol zu einem gesamtdeutschen Fotografiearchiv werden soll, wie Weppelmann betonte. Aber gerade die aktuelle Evelyn-Richter-Ausstellung im Kunstpalast Düsseldorf zeigt etwas, was dieserart in den vergangenen 30 Jahren nicht sichtbar war.

Denn diese Ausstellung setzt Evelyn Richter eben zugleich in einen gesamtdeutschen Kontext und zeigt, dass man auch die Fotografie der DDR nicht auf ewig in die Kammer „ostdeutsch“ sperren kann, sondern dass sie in die gesamtdeutsche, eigentlich die europäische Kunstentwicklung dieser Zeit gehört. Nur das Objekt der Betrachtung ist ein anderes.

Obwohl eine Ausstellung, die 2023 im MdbK stattfinden wird, auch zeigen wird, dass dieser sehr spezifische Blick ostdeutscher Fotograf/-innen so allein gar nicht da stand. Da will das Bildermuseum nämlich seine eigene Evelyn-Richter-Austellung präsentieren, in der auch ihre Freundinnen Ursula Arnold und Eva Wagner-Zimmermann vertreten sein werden.

Seit 2009 gibt es am Mdbk das Evelyn-Richter-Archiv, das anfangs mit dem Vorlass der 2021 gestorbenen Fotografin arbeiten konnte, inzwischen aber auch den Nachlass betreut. Erweitert wurde das Archiv inzwischen auch durch den Nachlass ihrer Freundin und Kollegin Ursula Arnold. Während die Arbeiten von Eva Wagner, die mit den beiden zusammen an der HGB studiert hatte, dann aber in den Westen ging, jetzt erst nach Leipzig finden und lange Zeit vergessen waren.

Dieser Nachlass gehört nach Leipzig

Was die Ausstellung, die vom 15. November 2023 bis zum 17. März 2024 geplant ist, zeigen wird, ist eben nicht nur Evelyn Richters Fotografie als solitäres Werk. Sie wird Richters Arbeiten im Dialog mit den Fotografien von Ursula Arnold und Eva Wagner-Zimmermann zeigen und damit auch ein Freundinnen-Netzwerk sichtbar machen, wie Dr. Jeanette Stoschek, Leiterin des Evelyn Richter und Ursula Arnold Archivs, betont.

Die auch ein bisschen stolz sein kann auf ihr frühes Bemühen um Evelyn Richter, die sich einst mit dem Gedanken trug, ihren Nachlass nach Dresden zu geben. „Aber der gehört doch nach Leipzig“, sagte Stoschek. Und knüpfte belastbare Kontakte zu der Fotografin, die seither auch schon mit eigenen Ausstellungen im MdbK gewürdigt wurde. Denn bei solchen Kontakten geht es immer auch um Vertrauen – in Personen und in Institutionen.

Da darf der mehrmalige Wechsel des Museumsdirektors keine Rolle spielen. Aber die Strukturen müssen da sein. Und der Wille, sich wirklich um die Pflege der ostdeutschen Fotografie zu kümmern. Das seit 2009 bestehende Archiv verkörpert das in gewisser Weise. Am Freitag, dem 18. November, kündigte Leipzigs Kulturbürgermeisterin Dr. Skadi Jenicke auch noch an, dass das Museum eine weitere Kuratorenstelle bekommen wird, explizit für den Bereich Fotografie, sodass die reichen Bilderbestände auch aufgearbeitet und unter guten Bedingungen archiviert werden können.

Und Evelyn Richters Werk, dessen Negative inzwischen auch Teil des Archivs sind, wird aus Anlass der Ausstellung erstmals komplett gesichtet und künstlerisch eingeordnet. Und noch etwas werden die Besucher erstmals zu sehen bekommen: Evelyn Richters Projekte als Fotobuchkünstlerin, die zeigen, wie Richter „stringent durchkomponierte Folgen von Fotografien“ entwarf, um damit in Bildern regelrechte Geschichten zu erzählen – so wie in den Büchern über David Oistrach und Paul Dessau.

Tipps für die Eiligen

Wer nicht bis November 2023 warten will, kann noch bis Januar die Gelegenheit nutzen, die Evelyn-Richter-Ausstellung im Kunstpalast Düsseldorf zu besuchen. Oder sich den dazu im Spector Verlag erschienenen Katalog besorgen, der schon sehr eindrucksvoll beweist, wie der dokumentarische und aufmerksame Blick von Evelyn Richter am Ende eine ganze Fotografieschule im Osten prägte. Und Generationen von Studierenden, die ihre Kurse an der HGB Leipzig belegten.

Bis zum 8. Januar zeigt das Museum der bildenden Künste auch noch die Ausstellung „Porträt und Abstraktion“ von Ludwig Rauch, ebenfalls ein Absolvent der HGB Leipzig. Studiert hat er bei Arno Fischer, dem zweiten großen Vertreter der großen Dokumentarfotografie in der DDR.

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