Es gab in der DDR einige Fotobände, für die niemand Werbung machen musste. Die in 20.000 Exemplaren Erstauflage gedruckt werden konnten und eigentlich schon am Tag der Auslieferung vergriffen waren. Zu diesen Fotobänden gehörte Robert Melis' „Paris zu Fuß“. Ein Band, der heute selbst in Frankreich Staunen hervorruft. Und den der Lehmstedt Verlag jetzt nach über 30 Jahren in einer neuen Bilderkomposition herausgebracht hat.

Zur Legende wurde der Fotoband nicht nur, weil mit Paris eine absolute Sehnsuchtsstadt Thema der 160 Fotografien war, die der Ostberliner Fotograf Roger Melis im Frühjahr 1982 aufgenommen hat. Was damals für DDR-Fotografen eine echte Ausnahme war, schon gar für solche von der Staatsführung so kritisch beäugten Fotografen wie Roger Melis oder Arno Fischer (der wenig später nach New York reisen durfte und die Bilder für einen ähnlich legendären Bildband mitbrachte).

Beide Fotografen gehörten zu jenen an den Meistern der dokumentarischen Fotografie des 20. Jahrhunderts geschulten Beobachtern, die in der DDR nur eine Nische besetzen durften und mit amtlichem Misstrauen beobachtet wurden, weil sie Inszenierungen und die übliche sozialistische Jubelstaffage verachteten und mit ihrer Kamera das ablichteten, was tatsächlich im Alltag der Menschen passierte, in den runtergewirtschafteten Fabriken, in den kaputten Städten, auf Volksfesten, in der Provinz, in den Krankenhäusern.

Diese Aufnahmen aus der Realität der DDR hatten kaum eine Chance, dort auch veröffentlicht zu werden. Den Reichtum dieser einfühlsamen Dokumentarfotografie lernten auch die Ostdeutschen meist erst nach 1990 kennen. In den letzten Jahren natürlich auch geballt mit den Fotobänden aus dem Lehmstedt Verlag.

Sonia Voss (die Melis’ Bilder aus französischer Perspektive würdigt) und Mathias Bertram (der die Entstehungsgeschichte von „Paris zu Fuß“ beschreibt) gehen auf den Aspekt nicht besonders ein. Obwohl er wichtig ist, genauso wichtig natürlich wie die Tatsache, dass „Paris zu Fuß“, als es 1986 nach vier Jahren Kampf des Verlags Volk und Welt um die Veröffentlichung endlich erscheinen konnte, einen Nerv der Ostdeutschen traf, die in der Regel eben nie nach Paris reisen durften. Das war fast ausschließlich den berühmten „Reisekadern“ vorbehalten, der Funktionselite, die sich ihrer Privilegien dem gemeinen Volk gegenüber sehr bewusst war und sie auch weidlich genoss.

Die DDR als eine Art Partei-Feudalismus zu beschreiben kommt der Sache wahrscheinlich sehr nah.

Und Bertram muss es auch nicht extra beschreiben, was für Frustrationen das auch unter Künstlern ergab, wenn die Nationalpreisträger und Verbandsvorsitzenden ihre Reiseprivilegien ungeniert in Anspruch nahmen – aber nicht einmal irgendetwas mitbrachten, was davon zeugen würde, dass sie die Reisen produktiv genutzt hätten. Und die, die wirklich künstlerisch neugierig auf die Welt waren, die mussten im Lande bleiben.

In gewisser Weise erzählen Melis’ Paris-Bilder auch von diesem Frust. Von diesem immensen künstlerischen Druck, endlich für mehrere Wochen nach Paris reisen zu dürfen und von dort Gültiges mitzubringen. Jedes einzelne Foto erzählt davon, dass er sich die ganze Zeit als Botschafter der Daheimgebliebenen verstand, dass er für die Nicht-Reiseberechtigen auf dieses Paris sah und nicht einmal daran dachte, die üblichen Tourismus-Postkarten-Motive zu fotografieren, wohl wissend, dass das der langweiligste und überflüssigste aller Paris-Bildbände geworden wäre.

Das Ergebnis ist etwas, das Sonia Voss so auch bei zeitgenössischen französischen Fotografen kaum gefunden hat: Ein ernster, aufmerksamer und einfühlsamer Blick in die Straßen der Stadt, die sich vor unseren Augen als ein Ort voller Menschen entfaltet, die uns auf unverstellte Weise vertraut wirken.

Indem Melis die Pariser und Pariserinnen in ihrem Alltag zeigt – in Bars, in der U-Bahn, beim Sichsonnen auf der Bank, beim Einkaufen und im Gewühl der Straßen – wird eine völlig andere Sehnsucht sichtbar, die nichts mit dem später so plakativen „Visafrei bis nach Hawaii“ zu tun hat, das so schön zum organisierten Massentourismus der Neuzeit passte und mit dem auch gereist werdende Ostdeutsche noch immer glauben, sie würden so die Welt kennenlernen.

Diese Sehnsucht hat Melis nicht bedient. Und später auch Arno Fischer mit seinem New-York-Band nicht. Sondern eine Sehnsucht, die man vielleicht mit der Formel beschreiben kann: „Einfach mal so durch Paris spazieren, so wie ein ganz normaler Mensch.“ Das In-Paris-sein-Dürfen als das Allernormalste von der Welt. Da musste niemand noch extra betonen, dass „Paris zu Fuß“ der eindrucksvollste (aber wunderbar stille) Protest gegen die Reisepolitik der DDR-Führung war. Erst recht nicht, wenn der Betrachter des Buches beim Durchblättern sah, dass ihn eigentlich nichts von diesen so selbstbewusst und selbstverständlich durch ihre Stadt laufenden Parisern unterschied.

Was einem auch nicht ganz nebenbei das heutige Bild vom Ostdeutschen ins Bewusstsein ruft, das schon lange nicht mehr von ostdeutschen Fotografen geprägt wird, sondern von westdeutschen Beobachtern, die sich seit 1990 geradezu krampfhaft bemühen, ihr altes Bild vom zurückgebliebenen und kulturlosen Ostdeutschen zu bewahren und immer wieder bestätigt zu sehen. Man sieht, was man sucht.

Und solche Fotografen wie Roger Melis sind – zumindest was unsere großen Bilder-Medien betrifft – selten geblieben, marginalisiert. Wie damals, möchte man stöhnen. Nur ist der Filterprozess heute ein anderer. Heute kommen sie kaum zum Zug, weil sie die Bilderwartungen der in der Regel westdeutschen Redaktionen nicht erfüllen.

Bilderwartungen, die voller Stereotype stecken, die man erfüllt haben möchte, sonst sieht man die Bilder nicht. Und nicht, was sie zeigen. Die falschen Schönheitsideale, die in den Neuen Medien gehypt werden, kommen noch hinzu. Man kommt aus dem zerrenden Gefühl nicht heraus, dass die Dargestellten immerfort angestrengt sind, eine schöne Rolle zu spielen, Erwartungen an diese Rolle zu erfüllen – und dann auch noch die erwarteten Phrasen von sich zu geben.

Kann es sein, dass diese Erwartungshaltungen ans richtige Verhalten heute viel rigider sind als vor 35 Jahren? Sodass man meist nicht weiß, ob man es nun tatsächlich mit dem authentischen Menschen zu tun hat oder nur mit der Rolle, die er bemüht ist zu spielen?

Von der Gelassenheit, die die Menschen in den Bildern von Roger Melis ausstrahlen, sind wir jedenfalls meilenweit entfernt. Vielleicht auch deshalb, weil die öffentlichen Straßen und Plätze von immer mehr Autos okkupiert wurden. In Paris genauso wie in Ostdeutschland. Menschen, die die Welt aus der Autofahrerperspektive wahrnehmen, merken gar nicht, wie der öffentliche Raum regelrecht verschwunden ist.

Eine Malerin, die mitten auf dem Gehweg ihre Staffelei aufbaut? Undenkbar, auch in Leipzig. Genauso selten geworden wie spielende Kinder auf der Straße, unbehelligte Passanten in schmalen Nebenstraßen, plaudernde Menschen am Straßenrand.

Natürlich ist der Bildband jetzt auch eine Zeitreise. Wobei sich die Pariser des Verlustes, den sie mit der „autogerechten Stadt“ erlitten haben, zumindest wieder bewusst sind. So, wie sich Roger Melis 1982 bewusst war, dass das eigentliche Sehnsuchts-Paris dieses selbstverständliche Straßenleben war. Dieses Sich-unbeschwert-in-der-Öffentlichkeit-aufhalten-dürfen.

Und gleichzeitig dokumentierte ja Melis mit seinen Fotografien den Pariser Alltag auf selbst aus heutiger Sicht ungewöhnlich dichte Weise, wie Sonia Voss schreibt, „durch diese besondere Darstellung der natürlichen Koexistenz der Bewohner und ihrer Umgebung“. Man sieht es den Fotografierten an, dass sie dieses Paris als ihren Ort zum Leben verstehen, einen Lebensraum, in dem sie ganz selbstverständlich sein dürfen.

Während selbst der Spaziergang durch das heutige Leipzig immer wieder auch von dem Gefühl begleitet wird, an Nicht-Orten zu sein oder an Orten, wo der Aufenthalt unerwünscht scheint. Was wenig mit der ostdeutschen Geschichte zu tun hat, aber viel mit dem heutigen Denken über privatisierte und (halb-)öffentliche Räume, Hausrechte, die sich bis auf Straßen und Plätze erstrecken. Und Regelungswut, die auch noch den letzten Zentimeter für öffentliche Raumnutzung vorschreibt.

Das Paris, das Robert Melis bei seinen langen Wanderungen durch all die klingenden Straßen von Paris festgehalten hat, ist eine gelassene Stadt. Mit gelassenen Polizisten (die nicht mal dran denken, hier einmal mit Schutzweste und Maschinenpistole stehen zu müssen), gelassenen Autofahrern, die geduldig warten, bis die Fußgänger beiseite gehen, gelassenen Händlern und Zeitungslesern.

Der hier jetzt vorliegende Band ist keine 1:1-Übernahme des 1986 erschienenen Bildbandes (für den damals Stephan Hermlin das Vorwort schrieb), auch wenn 85 (von 160 Fotografien) wieder den Weg in die Auswahl gefunden haben. Aber Roger Melis brachte ja 1982 viel mehr Bilder mit zurück aus Paris. Und da Mathias Bertram auf den gesamten Bestand der Parisbilder zugreifen konnte, sind auch 30 bislang noch nie veröffentlichte Aufnahmen in diese „Paris zu Fuß“-Bilderserie gekommen.

Was den Fokus leicht verschiebt und noch deutlicher macht, wie sehr Melis ein Fotograf des menschlichen Alltags war und auch die fotografische Nähe suchte zu den Menschen, die 1982 noch längst nicht so kamerascheu waren wie heute. Und auch nicht so hektisch, so beflissen darauf bedacht, in der Öffentlichkeit immer Gestresstsein auszustrahlen.

Als der Band 1986 herauskam, bestärkte er bei den Käufern im Osten das Gefühl, von einer ignoranten Staatsführung um das Allernormalste in der Welt betrogen worden zu sein. Heute wirken die Bilder etwas anders, auch wenn man die eingeschriebene Sehnsucht nach dieser Normalität natürlich nicht übersehen kann.

Heute schauen wir aus einer anderen Un-Normalität auf diese Pariser Szenen von 1982. Die uns eben auch zeigen, dass man auch mit seinen Wünschen und Erwartungen falsch fahren kann, wenn man dabei die Bodenhaftung verliert. Von der Gelassenheit selbst dieser frühen 1980er Jahre ganz zu schweigen.

Eine Gelassenheit, die vielleicht die damals Flanierenden gar nicht so wahrgenommen haben. Oft braucht es erst den aufmerksamen Blick des Fotografen, um das sichtbar zu machen, was man in seinem täglichen Geschäftigsein übersieht. Und Roger Melis macht es sichtbar. Auf eine sehr wohltuende Weise. Seine Fotos zeigen, dass Paris nie wirklich aufgehört hat, ein Sehnsuchtsort zu sein.

Roger Melis; Mathias Bertram Paris zu Fuß, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2020, 30 Euro.

Die Ostdeutschen: Eine neue frappierende Auswahl aus dem Fotoschatz von Roger Melis

Die Ostdeutschen: Eine neue frappierende Auswahl aus dem Fotoschatz von Roger Melis

Die neue Leipziger Zeitung Nr. 82: Große Anspannung und Bewegte Bürger

Die neue Leipziger Zeitung Nr. 82: Große Anspannung und Bewegte Bürger

 

Hinweis der Redaktion in eigener Sache

Seit der „Coronakrise“ haben wir unser Archiv für alle Leser geöffnet. Es gibt also seither auch für Nichtabonnenten unter anderem alle Artikel der LEIPZIGER ZEITUNG aus den letzten Jahren zusätzlich auf L-IZ.de über die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall zu entdecken.

Unterstützen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tägliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikäufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den täglichen, frei verfügbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit für Sie.

Vielen Dank dafür.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar