Martina Hefter ist Autorin, Performerin und Gastdozentin für Lyrik. Und sie hatte 2020 natürlich auch mehr Zeit als sonst, nur dass sie diese Zeit wohl eher nicht in irgendwelchen Netflix-Serien und anderem Digital-Müll zugebracht hat, sondern am Schreibtisch und im Wald. Genauer: dem Leipziger Auwald. Der hat nach wie vor poetisches Potenzial, auch wenn es die meisten Nutzer gar nicht (mehr) wahrnehmen.

Wobei man poetisch nicht mit romantisch verwechseln darf. Romantisch ist an dem Wald gar nichts mehr. Und Romantik ist das allerletzte, was Martina Hefter mit ihren Texten zu beschwören versucht, die allesamt auf den unsichtbaren Grenzlinien zum Essay, zur Sage, zur Reflexion balancieren. Aber damit zeigt Hefter etwas, was einem nicht auffällt, wenn man irgendwann in der Schule gelernt hat, in welche Kisten man literarische Texte zu packen hat: Dass Gedichte und andere Niederschriften zuallererst einmal ein Bild unseres Denkens sind.Und zum Glück denken wir meistens nicht so wie viele Reimer, Politiker, Bürokraten und sonstige Textverfasser schreiben. Täten wir dies, wir wären längst ausgestorben. Kein Hahn würde nach diesem seltsamen Zweibeiner krähen, der die Unfähigkeit kultiviert hatte, die Welt in unverständliches Kauderwelsch zu verwandeln.

Aber es kommt ja vielleicht doch noch so. Die Herren der Unfähigkeit sind ja eifrig dabei, die Welt in ein demoliertes Kauderwelsch zu verwandeln, in dem alles kaputtgeht.

Was übrigens anklingt in Hefters Texten, gerade in denen zum Auwald, in den es ihre Heldin Cynthia Artemis Moll verschlägt, wo sie in einem Baumhaus lebt und nachts den Tieren lauscht. Bestimmt rennt an dieser Stelle schon der Stadtförster los, um das Baumhaus zu suchen. Er wird es aber nicht finden. Denn „Flammen“ handelt irgendwann in einer fernen Zeit, die vielleicht gar nicht so fern ist, denn es ist eine Zeit, in der unsere Städte aufgehört haben zu funktionieren und die Überlebenden wieder in die Wälder gehen, um die Dinge zum Überleben zu finden.

Was sich in „Flammen“ vermischt mit der alten griechischen Sage von Artemis, der Jägerin, mit der sich die Heldin dieses Textes aus dem „Jahr des Auwalds“ identifiziert. Zumindest assoziativ, wobei man nie wirklich erfährt, in welcher Zeitschicht man sich tatsächlich befindet. Aber auch das wirkt vertraut. Es ist ein Gedicht vom Anfang des Untergangs, den wir gerade erleben. Und nicht nur diese Artemis wundert sich darüber, dass uns nicht einmal die Schreckensbilder des Jahres 2020 aufgerüttelt haben. Die des Jahres 2021 waren ihr ja noch gar nicht präsent.

Und da war Martina Hefter nicht die einzige, die in dieser Corona-Stille das Wispern der Zeit wahrnahm, das Vergehen, das wir über unsere Welt gebracht haben, auch wenn einige Texte ihre Anfänge schon drei, vier Jahre zuvor hatten.

„Alle Texte in diesem Buch sind Fiktion“, betont sie im Anhang extra, was für einen Gedichtband tatsächlich einmal ein Novum ist. Und was gerade deshalb wie ein freundliches Achtungszeichen ist: Glaubt ihr das wirklich? Habt ihr das Jahr 2020 allesamt mit offenen Augen verschlafen und nichts gesehen und nichts begriffen?

So schreibt sie das natürlich nicht. Sie ist ja Dichterin. Sie weiß, dass sich das Gesehene und Erlebte im Kopf verwandelt. Fortwährend. Wenn man sein Gehirn machen ließe, es würde ganz von allein fortwährend Gedichte produzieren, dichte, kompakte Texte, die gerade in ihrer Unerwartetheit verraten, was wir trotzdem all die Zeit wahrnehmen, sehen, nicht begreifen wollen. Dichter/-innen rühren – wenn sie gut sind – an diese assoziative Fülle, die uns klüger macht und sehender, wenn wir uns nicht so dumm anstellen wie unsere lauten Zeitgenossen.

Da passiert es auch schon mal, dass Martina Hefter im Januar 2020 beginnt, Gedichte über die Pflanzen vorm Fenster zu schreiben, die sie im Untertitel Stillleben nennt und im Titel Essays, dass sie unverhofft lauter Situationen bildhaft gemacht hat, wie wir sie alle ab April erlebt haben könnten. Wenn wir denn einmal aufschauten und begriffen, was für ein Geschenk diese für ein paar Wochen stillgelegten Städte waren.

Sind Dichter/-innen deshalb Hellseher? Nicht wirklich. Aber wenn sie so schreiben, wie es Martina Hefter tut, mit dieser Offenheit für beiläufige Gedanken, Zufälle, Abwege und all das, was uns passiert, wenn wir das „Geradeausdenken“ einmal wirklich loslassen, dann taucht in den so entstehenden Texten ganz von allein ein besonnener Rhythmus auf und das für uns sonst immer so gern übersehene Gewebe unseres Lebens, das, woraus es wirklich besteht. Und darin entstehen natürlich immerfort genau die Zukünfte, von denen wir dann immer so überrascht wurden, weil wir nie bei uns sind und nie aufmerksam zuhören.

Ganz zu schweigen davon, dass selbst unsere erstaunlich reiche Sprache verräterisch ist. Sie plappert gern das aus, was wir wirklich denken. Was wieder nichts mit Lügen zu tun hat, sondern damit, dass wir uns im Alltag beschränken müssen. Erstens, weil die meisten Menschen kompliziertere Sätze, als die im Smalltalk gar nicht begreifen würden, und zum anderen, weil das noch nicht Festgenagelte natürlich noch diffus ist, sich oft erst ganz zufällig zusammensetzt, wenn wir unser Gehirn einmal lassen.

„Unbarmherzige Antworten erfordern treuherzige Fragen“, heißt so eine Zeile zum Beispiel in dem Text „In die Wälder gehen, Holz für ein Bett klauen“, den Hefter einen Essay genannt hat, der aber natürlich auch ein großes Poem ist, eigentlich sogar die freudenvolle Elegie auf den Abschied von einem billigen Ikea-Bett, das die Heldin – der Wald ist ja direkt vor ihrem Fenster – durch ein Bett aus dem Wald ersetzt.

Im Grunde spielen sämtliche Texte in diesem Band mit dieser Überschneidung des „zivilisierten“ Drinnen, das sichtlich immer mehr in die Binsen geht, mit dem (noch) lebendigen Draußen, das vielleicht überleben wird, dass wir da waren, wir so vom Besitz Besessenen, die unfähig geworden sind, unseren tatsächlichen Reichtum zu sehen. Auch deshalb rutschen die Texte fast zwangsläufig ins Traumhafte ab, auch wenn in diesem Fall der Dürresommer 2018 die Kulisse abgibt mit seinem „grauen Gras“, in dem die lebendige Vergangenheit wie ein Traumbild aufscheint: „jagte einst Wiesen, peitschte Hügel, Wellen ritten rückwärts …“

Da heißt dann nur noch der Laden, der online teure Betten aus Zedernholz anbietet, „Grüne Erde“.

Fast meint man, ausgerechnet der Text „Linn Meier“ müsste aus dem Rahmen fallen, handelt er doch von einer jungen Frau, die sich 2019 zu Tode gehungert hat. Aber wer sich mit dem Thema schon einmal beschäftigt hat, der weiß, dass auch im Themenfeld Magersucht die Verirrung unserer verfressenen und nimmersatten Konsumgesellschaft sichtbar wird – auch als Stress und Infragestellung von Persönlichkeit und Selbstbild.

Auf einmal sind es fremder Leute Ansprüche und Maßstäbe, die sich in unseren Kopf drängen und uns irrational handeln lassen, in einem Suchtfeld, in dem wir den Zwängen nicht mehr entkommen können, weil sie mit unserer Identität eine unheilvolle Einheit eingehen.

Und auch hier kein Klagen. Denn Martina Hefter weiß sich auch in diese Rolle einzufühlen, einzutauchen. Auch in die Hilflosigkeit darin, weil die eigentliche Irritation Teil unserer gesellschaftlichen Lügen ist. „Reden wir über die Welternährungslage …“

Schon bei dem Wort wird einem schlecht, weil man dazu viel zu viele Lügen, Selbstbeweihräucherungen und Ausflüchte gehört hat. Reden, nichts als Reden. Und deshalb passt diese Linn Meier genauso selbstverständlich in diesen Band wie die Gedichte über Bäume. Denn nun wissen wir, dass auch das Gespräch über Bäume überfällig war. Auch wenn Brecht in seinen Gedicht „An die Nachgeborenen“ diese immer wieder zitierten Zeilen schrieb: „Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“

Eine für Brecht typische Mehrdeutigkeit, denn dass nun die Wälder sterben, hat nun einmal auch mit den vielen anderen Untaten zu tun, mit denen wir die Welt in eine Wüste und einen Müllhaufen verwandeln. Der Müll taucht in „Flammen“ ganz unverhofft wieder auf, denn die Städte gehen dahin, der Müll ist unverwüstlich und wird uns überdauern.

Und noch vorher begann die Umwerfung des Lebendigen – nämlich in Menschenmaterial, Produktivkapital und Ressource. Dichterinnen wissen, was das bedeutet: „Das alles bringt mich zur Erleuchtung. / Dass ich Ressource bin. / Dass ich entnommen werde wie Holz …“ Was wir mit den Wäldern tun, das tun wir auch mit den Menschen. Vielleicht muss man dazu wirklich erst mit diesem nüchternen Blick der Dichterin auf den Leipziger Auwald schauen.

„Unbarmherzige Antworten erfordern treuherzige Fragen …“

Es lohnt sich, bei all den Zeilen, die einen aufschrecken lassen, weil sie so unbarmherzig klare Antworten geben, zurückzublättern, noch einmal zu lesen, was einem beim ersten Lesen durch die Lappen ging oder nicht die Aufmerksamkeit erzeugte, die uns hätte stutzen lassen sollen. War da was?

Die Zukunft steckt schon im heutigen Tag und im gestrigen. Sie entsteht, während wir blind sind und nicht sehen wollen, was wir anrichten und schon angerichtet haben. Selbst ein Gedicht über Reis wird zum poetischen Befund einer Welt, die kaputtgeht, während fröhliche Werbeversprechen ihre Rettung verkünden. Und das Bedrückende dabei ist: Wir wissen es.

Wir spüren es und fühlen uns eigentlich wie ausgespien und ausgelacht. „Diese höchst komprimierte Dimension eines Reiskorns / lässt mich aussehen wie einen hohlen aufgeblähten Staubstern.“ Wir fühlen uns, wie wir uns sehen und gesehen werden. Und meistens fühlen wir richtig. Und hören trotzdem nicht auf das, was unser Kopf und unser Bauch uns sagen.

Was bleibt? Eine diffuse Sehnsucht, in die Wälder zu gehen, obwohl wir genau wissen, dass wir auch diesen Ausweg gerade zerstört haben. „Immer muss ich alles eins zu eins spüren. / Drüben die Mülldeponie. Da liegen Gifte begraben. Ich werd nicht alt.“

Wahrscheinlich unterscheidet genau das die Dichter/-innen von den vielen, die nichts sehen wollen: Dass sie nicht anders können, als das aufzuschreiben, was sie fühlen und spüren. Das, was uns ausmacht, auch wenn wir meistens so tun, als ginge uns das alles nichts an. Aber genau so sieht unsere Welt nun aus, so, wie eine Welt eben aussieht, wenn die meisten meinen, all das ginge sie nichts an und ihre Betten könnten sie dann immer noch bei „Grüne Erde“ kaufen.

Irgendwie sind diese Texte tatsächlich Essays darüber, zu sagen, was sonst unsagbar bleibt. Aber es sind auch frappierende und erschrockene Bilanzen über dieses „Naturdings“, in dem wir leben, und das uns trotzdem unheimlich fremd geworden ist. So wie Linn Meier ihr eigener Körper, dieses Naturdings: „Es geht mir gut.“

Dieser kleine Sarkasmus, der uns den Spiegel vorhält. Es geht uns gut. Natürlich.

Martina Hefter In die Wälder gehen, Holz für ein Bett klauen, kookbooks, Berlin 2020, 19,90 Euro.

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