Da staunte der Dichter selbst, dass seine Texte bei der Kritik tatsächlich als Gedichte durchgingen. Aber was will man machen, so als Kritiker? Die Welt der Gedichte ist genauso artenreich wie die der Romane oder die der Kurzgeschichten. Nicht einmal funktionieren müssen sie. Obwohl: Wie funktionieren eigentlich Gedichte?

Oder sollte man doch eher fragen: Wie funktioniert Denken? Wie nehmen wir eigentlich wahr, was um uns ist? Ein Lebensthema für Olaf Weber, der nach Abitur, Bauarbeiterausbildung und Architekturstudium die Freuden des seriellen Plattenbaus in der DDR genießen durfte, sich aber damals schon Gedanken machte darüber, wie Architektur wirkt.Genauer: „Architektur als Kommunikationsmittel“. So hieß der Titel seiner Dissertation. Ein zutiefst subversives Thema eigentlich, das auch heutigen Architekten meist ziemlich fremd ist. Auch wenn sie wissen, wie ihre Gebäude sich einordnen in Straßen und Plätze, haben sie meist überhaupt keine Ahnung davon, was die fertigen Bauwerke den Vorübergehenden dann tatsächlich erzählen, welche Sprache sie sprechen.

Alles, was Menschen erschaffen, ist Kommunikation. Selbst im Bau gilt: „Man kann nicht nicht kommunizieren!“, um eines der bekanntesten Axiome des Kommunikationswissenschaftlers Paul Watzlawick zu zitieren.

Keine Überraschung also, dass Weber 1993 die Professur für Ästhetik an der Bauhaus-Universität Weimar übernahm, genau da, wo man sich schon vor 100 Jahren Gedanken machte über die Sprache der Architektur. Die ja nur eine von vielen gesellschaftlichen Kommunikationsformen ist. Auch dessen ist sich Weber bewusst, der nun im höheren Alter auch als Gedichte-Schreiber reüssiert und sich im „Gespräch im Nachgang“ mit Herausgeber André Schinkel über sein Schreiben unterhält und dabei auch jene kleinen Handreichungen ganz nebenbei fallenlässt, die das Erschließen seiner Gedichte leichter machen.

„Ich bin immer so gewesen, wie ich heute schreibe“, sagt er dort. „Ich bin davon überzeugt, dass das Absurde ein treffliches künstlerisches Verfahren ist, es bringt Neugier, Heiterkeit und Gegenwehr.“ So sind seine Gedichte tatsächlich. Wer irgendwas in der Art von Rilke, Goethe oder Hölderlin erwartet, wird enttäuscht und frustriert sein. Den Zugang findet man leichter, wenn man mit Morgenstern und Ringelnatz über den Personaleingang kommt, gern auch mit Jandl oder Apollinaire. So ungefähr.

Also nicht über die gewienerte Prachttreppe, über die die Herren Honoratioren die hohen Hallen der deutschen Dichtkunst betreten, sondern über die mit Gerümpel verstellten Eingänge für die Hausmeister, Putzfrauen und Hilfskräfte aus dem akademischen Mittelbau, die am besten nicht laut sagen, dass der Gründungsdekan aus Kassel ein etwas überteuerter und etwas schmalspuriger Import ist.

Ein Querkopf also? Natürlich. Davon hätten wir durchaus mehr gebraucht hierzulande. Weniger Claqueure und Angepasste. Mehr Leute, die auch das Unangepasste, Unpassende vertreten hätten. Womit ein Weber ganz bestimmt nicht die Narren auf der Straße meint, die ihren Gorbi-und-Helmut-Sound bis heute nicht verändert haben. Machtlose, die nicht einmal merken, wie kläglich ihre Klagen klingen.

Während es im großen Feuilleton immer weitergeht wie anno dunnemals. Für eigensinnige Köpfe eigentlich nicht auszuhalten, weil es sie auch schon vor 1989 genervt hat: „Mich stört vor allem die hysterische Suche nach immer neuen Feinden“, sagt Weber im Gespräch mit Schinkel. „Ich bin Pazifist und will helfen, die Soldaten von ihrem schmutzigen Handwerk zu befreien. Die blöden Kanonen schießen niemals auf Viren, immer auf Spatzen.“

Da steckt, wie man sieht, ein Stück von den alten Futuristen und Dadaisten drin. Obwohl Webers Texte nicht Dada sind. Sie wirken nur manchmal so, weil er das große Talent hat, die angelernten Erwartungen an das, was in deutschen Landen ein Gedicht, ein Vers und ein Sinn zu sein haben, aus seinem Kopf zu vertreiben und sehr assoziativ zu schreiben.

Nicht im Sinne des legendären Automatischen Schreibens, eher im Sinn des aufmerksamen Auf-Schreibens. Da macht er es sogar genauso wie so viele andere begabte Dichter/-innen auch: Er lässt sich ein. Auf einen Moment, einen Satz, ein Wort wie das schöne Wort Damenbadeweg, das ihm an der Ostsee unterkam.

Und es dürften sich durchaus auch jede Menge Männer ertappt fühlen bei dem, was Weber nun als Assoziationen dazu einfällt. Als Erstes die Frage: „Wie kommt eine Frau zum Strand?“

Die üblichen Denkwege würden hier ja heißen, lauter freche Antworten zu finden. Aber einer wie Weber merkt schon beim Hinschreiben, dass er sich schon verraten hat. „Das ist erstrangig. / Denn jeder Mann ist Bedingung der Neugier.“

Sofort ist er da, der Autor selbst in seinem Text, der sich nicht verleugnet und verbiegt. Und berechtigterweise auch den nun drei Jahre zurückliegenden Streit um Eugen Gomringers Gedicht „Avenidas“ an der Fassade der Alice Salomon Hochschule in Berlin auf seine Weise kommentiert. Zeichen für die völlige Unfähigkeit der damals die Entfernung fordernden Studierenden, Gedichte zu lesen. Zu Recht sagte Eugen Gomringer damals: „Mir kommt es vor, wie der Vorgang einer Säuberung.“

Denn wenn man dieselben Maßstäbe an jede Dichtung anlegen würde, würden unsere Lyrikbibliotheken nur noch leere Regale aufweisen. Denn nirgendwo wird das „Sprechen“ in unserer menschlichen Gesellschaft so oft und klug und genau thematisiert, wie in Gedichten. Gedichte leben vom Sprechen über sich selbst und andere und die eigene Sicht auf alles andere. Auch auf Frauen. Und in einer Welt, in der Frauen von Männern nicht mehr bewundert werden, werden auch die meisten Frauen nicht mehr leben wollen.

Natürlich sind das Gratwanderungen. Wo geht Bewunderung in Sexismus über? Oder kommt da noch ein riesiges weites Feld, in dem beiden Seiten überhaupt nicht klar ist, was jetzt – nonverbal – gerade geschieht? Im eigenen Kopf und in dem der anderen? Ein Dauerthema in der gesamten Liebeslyrik der Welt.

Und eigentlich auch Grundthema nicht nur im dritten Teil der Gedichte, die Weber hier ausgewählt hat: „Sex und Sehnsucht“, in dem es nicht nur um die vielen mit Bedeutung überladenen Zeichen geht, die die Beziehung der Geschlechter so kompliziert, aufregend und missverständlich machen. Sage jetzt keiner, dass diese Zeichen nicht missverständlich seien. Sie sind es oft mit Absicht. Und oft voller Gedankenlosigkeit. Genauso wie das Miteinandersein danach, wenn auf einmal Schuldgefühle auftauchen und auf einmal ein penibles Rechnen anhebt: Was schulden wir jetzt eigentlich einander?

Und warum suchen wir selbst auf Fotos nach Menschen, die ohne Menschen schöner aussehen? Wir können die Welt nicht mehr anschauen völlig unbedarft und unbezeichnet. „Die Natur ist wesentlich menschlich, / Nur Gedanken verkleiden sich vorher.“

Scheinbar locker hingeschriebene Verse, die nicht wie Verse klingen, weil Weber nicht an ihnen herumfeilt, bis sie klingen. Lieber lässt er sie stehen, wie sie ihm einfielen. So, wie uns genau das alles so einfällt, jedem auf seine Weise. Denn natürlich hat jede und jeder ein anderes inneres Gespräch mit seinem Du oder Über-Ich. Je nach Erfahrung, Bildung, Belesenenheit und Fähigkeit zum inneren Dialog, der dann manchmal ein äußerer Monolog wird.

Wer sich mit sich selbst nicht gut unterhalten kann, hat ein echtes Problem.

Nur passieren diese assoziativen Sprünge eben nicht schon folgerichtig aufgereiht wie in klassischen Lehrversen. Alte deutsche Dichterhallen sind unlesbar und bereiten nur Kopfschmerzen, weil so viel Narretei in einem Buch nicht auszuhalten ist. Weber aber genießt es geradezu – bezeichnet sogar mit Gleichheitszeichen und Weiter-Pfeilen – zu zeigen, wie seine Gedanken sich weiterfädeln im Kopf.

Denn wir denken nicht schurgerade und wohlsortiert. Im Gegenteil. Wir denken assoziativ, in Wort- und Bildwolken, was die Gehirnforscher schon längst bewiesen haben. Was Dichter aber auch so schon kennen, weil es sie permanent abbringt vom sogenannten roten Faden, auf Abwege, Umwege, Abschweifungen. Und statt sie wegzudrücken und wieder auszuradieren, folgt Weber ihnen in der nur zu berechtigten Annahme, dass einen solche Gedankenwege nicht umsonst um die Ecke führen.

Manchmal hinter die Worte und die „verkleideten Gedanken“. Denn wer wirklich ernsthaft am Wort arbeitet, weiß, dass wir auch Worte und Phrasen angelernt haben, die so nicht stimmen, die ihr Wesen verhüllen und letztlich verräterisch sind, erst recht, wenn die scheinbar lyrischen Worte (die alle seit Mörike und Uhland dafür halten) mit den Wortungetümen unseres Alltags kollidieren.

Beide tragen ihre Last mit sich an Bedeutungen und Anklängen. Es gibt im Deutschen keine Worte, die nicht an irgendetwas anstoßen und damit Anstoß erregen. So wie das Wort Versuchsanordnung, das bei Weber auf Bett und Knopfloch prallt. Sage niemand etwas Unschuldiges über das Wort Knopfloch.

Im Grunde zeigt dieser Autor seinen Leser/-innen, dass wir alle weder schuldlos noch unschuldig sind, schon gar nicht beim Benutzen von Wörtern oder beim Vor-uns-Hindenken. Jede gelesene Zeitung, jeder Abend vor der Glotze, jedes amtliche Schreiben spülen neuen Unrat in unsere Gedanken. Wortmüll, falsche Unterstellungen, Ausgrenzungen und Beschämungen. Sage keiner, dass er sich an solchen Tagen nicht beschmutzt fühlt und das dringende Bedürfnis hat, sich innerlich zu duschen.

Obwohl auch mit diesem Sperrmüll an Worten Texte gemacht werden können, sogar mit innigster Liebe drin: „Sie hatte sich gegen Lieblosigkeit versichert / Aber die Gartenstühle standen noch etwas herzlos in der Sonne …“

Schalte einer nur ja seinen Kopf ein, dann kommt er auf Verknüpfungen, die schon ganz von allein zeigen, wie Gedichte funktionieren, wenn man erst einmal die Seitensprünge und gedanklichen Kurzschlüsse zulässt, die beim schweifenden Denken ja ganz von allein passieren. Ein Vorgang, der bei manchen Menschen geradezu automatisch zu allerlei Wortspäßen und abgründigen Scherzen wird, bei anderen passiert das, was Newton beim Mittagsschläfchen unterm Apfelbaum passierte.

Und Weber beim Spazieren durch einen säuberlich in Zeilen und Strophen geordneten Text, der mit Lieblosigkeit beginnt und mit einem weißen Schiff am Kai endet. Manch Leser/-in wird sagen: Hoppla, so geht mir das auch. Man springt wie ein Hase durchs Gelände der scheinbar ungeordnet auftauchenden Gedanken, Worte, Ausrufe, Mahnungen, Meme (wie sie Richard Dawkins nannte). Unsere Sprache und das tägliche dichte Gesprächsmuster unserer geschwätzigen Gesellschaft sind voll davon. Die meisten Leute denken nicht mal nach, woher sie das haben, worüber sie gerade plappern, und wie sie drauf gekommen sind.

Bei Olaf Weber kann man regelrecht zuschauen dabei, wenn er zeigt, wie er von Strümpfen auf weiche Brötchen kommt („Die nacktweißen Schuhe“) oder wie ihn das Wort Firmentöchter ohne Umwege zu amourösen Gedanken bringt. Und das hat immer etwas Subversives, weil es eben auch zeigt, dass das, was wir Poesie nennen, immer gleich dicht unter der Oberfläche lauert. Unser Leben ist nicht nur voll davon, es ist genau die Ebene, die es dicht und fühlbar macht.

Auch deshalb waren die Vorgänge um das Gedicht von Eugen Gomringer so frustrierend. Sie zeigten die ganze fehlende Sensibilität für Sprache, die unpoetische Menschen auch noch mit der Rücksichtlosigkeit von Richtern an den Tag legen. Nicht einmal ahnend, dass sie damit eine Welt hervorbringen, in der es keine Poesie mehr geben kann, weil die Denkverbote dann schon in den Köpfen wirken. Die dann auch die Klassiker am Ende nicht verschonen werden, von denen zum Beispiel auch Herr Goethe sich in einen Weber-Text schmuggelt. Noch so einer, der mit Männerblicken auf Frauen schaute. Entzückt, bezaubert, verwirrt und berauscht. Je nachdem.

Aber weil einige unserer ihrer selbst so unsicheren Mitmenschen so sind, kennt auch Weber das. Fast wirkt es, als hätte er extra für sie noch den Appendix geschrieben mit drei Texten über die „Schwäche der Menschen“. Auch wenn es vielleicht auch nur die Selbstreflexionen eines Mannes sind, der in seinem Leben so einiges angestellt hat und nun auch körperlich merkt, dass der Körper nicht mehr so will, obwohl es drinnen immer noch brodelt: „Doch innen sind die vielen Herzen / Und die Seelen klimpern in den leeren Raum …“

Die Irritationen sind gewollt. Sie zeigen, wie Worte immer neue Räume entfalten können, wenn wir nicht aufpassen beim Denken. Obwohl wir doch ständig gemahnt werden, aufzupassen, wo wir hinlaufen. Das war nicht nur damals so, als Weber noch jung war und sich über die erstaunliche Kommunikationsfähigkeit von Häusern wunderte. Die Aufpassen-Sager sind uns alle noch geblieben, haben neue Uniformen und Titel bekommen.

Und tun so, als wären sie nicht mehr die alten Nörgler und Hauswarte. Oder mit Weber: „Unsere Welt ist sehr rau geworden, hemdsärmelig. Die arroganten Typen stellen sich über andere, weil sie weder das andere noch sich selber kennen, so schüren sie die Konflikte.“ Logisch, dass er ein überzeugter Pazifist ist, so wie alle Menschen, die mit guten Gedichten gelernt haben, die Wildnis im eigenen Kopf zu erkunden.

Olaf Weber Ein Veilchen, Schulter an Schulter, Wartburg Verlag, Weimar 2021, 14 Euro.

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